Guy Debord – Texte nach der Situationistischen Internationale

Noch nie hatte das historische Bewusstsein es so dringend nötig, seine Welt zu beherrschen, denn der Feind vor seinen Toren ist nicht mehr Illusion, sondern sein eigener Tod.

(Der Text Der Kranke Planet wurde 2022 zweimal übersetzt: Eine Version findet sich im Kosmoprolet #6/2022 und die andere Version in diesem Büchlein)

 

 

 

Texte nach der
Situationistischen Internationale

Der kranke Planet

~

Hungerzügler

~

Abschaffung

Der kranke Planet

Geschrieben von Guy Debord im Jahr 1971, war dieser Text für die Veröffentlichung in der International Situationniste Nr.13 gedacht, die aber nie erschien.

“Umweltverschmutzung” ist heutzutage in Mode, genau auf die gleiche Art wie Revolution: sie ergreift Besitz des gesamten Lebens der Gesellschaft und ist in illusorischer Form im Spektakel repräsentiert. Sie ist das Subjekt nervtötenden Geschwätzes in einem Plethora irrigend und mystifizierenden Schriften und Reden, und doch hat sie alle an der Gurgel gepackt. Sie wird überall als Ideologie zur Schau gestellt und macht dennoch überall Boden als reale Entwicklung gut.

Zwei antagonistische Bewegungen, die höchste Form der Warenproduktion und das Projekt ihrer totalen Negation, beide gleich reich an Widersprüchen in sich selbst, wachsen parallel zueinander stärker weiter. Dies sind die beiden Seiten, auf denen sich ein einziger historischer Moment manifestiert, der seit langem erwartet und im Voraus oft unvollständig und unzureichend beschrieben wurde: die Unmöglichkeit des andauernden Funktionierens des Kapitalismus.

Die Epoche, die über alle technischen Mittel zur vollständigen Umgestaltung der Lebensbedingungen auf der gesamten Erde verfügt, ist gleichermaßen die Epoche, die durch dieselbe separate technische und wissenschaftliche Entwicklung über alle mathematisch unbezweifelbaren Kontroll- und Prognosemittel verfügt, um im Voraus genau zu messen, wohin – und zu welchem Zeitpunkt – das automatische Wachstum der entfremdeten Produktivkräfte der Klassengesellschaft führt: das heißt, um die rapide Verschlechterung der Bedingungen für das Überleben im allgemeinsten und trivialsten Sinne des Wortes zu messen.

Während rückwärtsgewandte Trottel weiterhin über und gegen die ästhetische Kritik an all dem schwadronieren, sich selbst als scharfsinnig, modern und im Einklang mit ihrer Zeit gefallend, wenn sie darüber diskutieren, dass Autobahnen, oder der öffentliche Wohnungsbau eines Ortes wie Sarcelle, ihre eigene Schönheit haben – eine Schönheit, die den Unannehmlichkeiten der “pittoresken” alten Stadtviertel vorzuziehen ist. Diese “Realisten” beobachten ausschließlich, dass die Bevölkerung als Ganzes, mit Ausnahme derjenigen, die eine gewisse Nostalgie für die gute Küche haben, heutzutage viel besser isst, als früher. Was sie nicht begreifen, ist, dass das Problem der Degeneration der Gesamtheit der natürlichen und menschlichen Umwelt bereits aufgehört hat, sich in Form eines Qualitätsverlustes zu äußern, sei es in ästhetischer oder anderer Hinsicht; das Problem wurde ein viel Grundsätzlicheres und zwar ob eine Welt die einen solchen Kurs folgt überhaupt fähig ist ihre materielle Existenz zu erhalten. Tatsächlich wird die Unmöglichkeit dessen durch die Gesamtheit der losgelösten wissenschaftlichen Erkenntnisse – da sie in diesem Zusammenhang über nichts mehr diskutieren, als über die noch verbleibende Zeit und die Linderungsmaßnahmen, die, wenn sie energisch angewandt werden, die Katastrophe für einen oder zwei Momente abwenden könnten – perfekt bewiesen. Diese Wissenschaft kann nicht mehr tun, als Hand in Hand mit der Welt, die sie hervorgebracht hat – und die sie festhält -, den Weg der Zerstörung zu gehen; doch sie ist gezwungen, dies mit offenen Augen zu tun. Sie verkörpert damit – fast bis zur Karikatur – die Nutzlosigkeit des Wissens in seiner nicht angewandten Form.

Man misst und extrapoliert mit ausgezeichneter Genauigkeit den raschen Anstieg der chemischen Verschmutzung der Atemluft; des Wassers der Flüsse, der Seen und bereits der Ozeane; die unumkehrbare Zunahme der akkumulierten Radioaktivität durch die friedliche Entwicklung der Kernenergie; die Auswirkungen des Lärms; der Überflutung des Geländes mit Plastikprodukten, die Anspruch auf eine Ewigkeit als universelle Müllhalde erheben können; die wahnsinnigen Geburtsraten; der sinnlosen Verfälschung von Lebensmitteln; die Zersiedelung, die überall das überwuchert, was einst Stadt und Land war; und ebenso die Ausbreitung von Geisteskrankheiten – einschließlich der neurotischen Ängste und Halluzinationen, die sich als Reaktion auf die Umweltverschmutzung selbst, deren alarmierende Merkmale überall sichtbar sind, zwangsläufig ausbreiten werden – und von Selbstmord, dessen Zunahme genau mit der Beschleunigung der Konstruktion dieser Umwelt einhergeht (ganz zu schweigen von den Auswirkungen eines nuklearen oder bakteriologischen Krieges, für den die Mittel bereits vorhanden sind und der wie ein Damoklesschwert über uns hängt – auch wenn er natürlich vermeidbar ist).

Kurz gesagt, wenn das Ausmaß der Realität der “Schrecken des Jahres 1000” nach wie vor Thema der Auseinandersetzung unter Historikern ist, ist der Schrecken des Jahres 2000 so offenkundig wie gut begründet; tatsächlich ist er nun in wissenschaftlicher Sicherheit begründet. Dennoch ist das was passiert nicht von Grund auf neu: eher ist er einfach nur die unvermeidliche Folge lang althergebrachten Fortschritts. Eine Gesellschaft, die immer kränker, aber auch immer mächtiger wird, hat die Welt – überall und in konkreter Form – als Umwelt und Kulisse ihrer Krankheit neu geschaffen: sie hat einen kranken Planeten erschaffen. Eine Gesellschaft, die noch keine Homogenität erreicht hat, die noch nicht selbstbestimmt ist, sondern immer mehr von einem über ihr stehenden, ihr fremden Teil bestimmt wird, hat einen Prozess der Beherrschung der Natur in Gang gesetzt, die noch keine Herrschaft über sich selbst errichtet hat. Der Kapitalismus hat letztendlich durch seine eigene Bewegung den Beweis erbracht, dass er die Produktionskräfte nicht mehr entwickeln kann – und das nicht in einem quantitativen Sinne, wie viele meinen, sondern in einem qualitativen.

Für das bourgeoise Denken ist jedoch, methodologisch gesprochen, nur das Quantitative gültig, messbar und effizient, während das Qualitative nur eine vage subjektive oder künstlerische Ausschmückung des wirklich Wahren ist, das allein an seinem tatsächlichen Gewicht gemessen wird. Für das dialektische Denken hingegen, und damit für die Geschichte und das Proletariat, ist das Qualitative die entscheidende Dimension des wirklichen Fortschritts. Das ist es, was der Kapitalismus und wir letztendlich gezeigt haben werden.

Die Herren der Gesellschaft sind nun gezwungen von der Umweltverschmutzung zu sprechen, sowohl um sie zu bekämpfen (schließlich leben sie auf demselben Planeten wie wir – das ist der einzige Sinn, in dem man sagen kann, dass die Entwicklung des Kapitalismus tatsächlich ein gewisses Maß an Klassenverschmelzung mit sich gebracht hat), als auch um sie zu verbergen. Die schlichte Tatsache, dass es solche schädlichen und gefährlichen Tendenzen gibt, stellt ein immenses Motiv für die Revolte dar, ein materielles Bedürfnis der Ausgebeuteten, das ebenso lebenswichtig ist wie der Kampf der Proletarier im neunzehnten Jahrhundert um das Recht auf Nahrung. Nach dem grundlegenden Scheitern der Reformen der Vergangenheit, die ausnahmslos die endgültige Lösung des Klassenproblems anstrebten, zeichnet sich eine neue Art von Reformismus ab, der die gleichen Bedürfnisse befriedigt wie die früheren Varianten: die Schmierung der Maschine und die Erschließung neuer profitabler Bereiche für die Spitzenunternehmen. Die modernsten Industriezweige stürzen sich auf die verschiedenen Mittel zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung, denn sie sehen darin eine Vielzahl neuer Möglichkeiten, die umso attraktiver sind, als ein großer Teil des vom Staat monopolisierten Kapitals für Investitionen und Manipulationen in diesem Bereich zur Verfügung steht. Dieser neue Reformismus wird aus genau denselben Gründen scheitern wie seine Vorgänger, unterscheidet sich aber insofern grundlegend von ihnen, als ihm die Zeit davonläuft.

Die Entwicklung der Produktion hat sich bislang vollständig als Errungenschaft der politischen Ökonomie verifiziert: Entwicklung des Elends, das in das eigentliche Umfeld des Lebens eingedrungen ist und es ruiniert hat. Die Gesellschaft, in der sich die Produzenten selbst zu Tode arbeiten und nichts weiter tun müssen, als das Ergebnis ihrer Arbeit zu betrachten, gibt ihnen offen das Ergebnis ihrer entfremdeten Arbeit als Ergebnis des Todes zu sehen – und zu atmen. In der Gesellschaft der überentwickelten Wirtschaft ist alles in die Sphäre der Wirtschaftsgüter eingetreten, sogar das Wasser der Quellen und die Luft der Städte, d. h. alles ist zum wirtschaftlichen Übel geworden, zur “vollendeten Verleugnung des Menschen”, die nun ihren perfekten materiellen Abschluss erreicht. Der Konflikt zwischen den modernen Produktivkräften und den bürgerlichen oder bürokratischen Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft ist in seine letzte Phase eingetreten. Die Produktion des Nichtlebens hat ihren linearen und kumulativen Prozess immer schneller fortgesetzt und hat gerade eine letzte Schwelle in ihrem Fortschritt überschritten.

Die letzte, eingestandene, wesentliche Funktion der entwickelten Wirtschaft heute, auf der ganzen Welt, wo die Warenarbeit herrscht, die ihren Chefs alle Macht sichert, ist die Produktion von Arbeitsplätzen. Wir sind also weit entfernt von den fortschrittlichen Ideen des vorigen Jahrhunderts über die mögliche Verringerung der menschlichen Arbeit durch die wissenschaftliche und technische Steigerung der Produktivität, die die Befriedigung der zuvor von allen als real anerkannten Bedürfnisse immer leichter und ohne grundlegende Veränderung der Qualität der verfügbaren Güter gewährleisten sollte. Jetzt geht es darum Arbeitsplätze zu schaffen, selbst auf dem Land, d. h. es geht darum menschliche Arbeit als entfremdete Arbeit, als Lohnarbeit, zu nutzen, und damit die Lebensgrundlagen zu bedrohen, die derzeit noch schwächer sind als das Denken eines Kennedy oder Breschnew.

Der alte Ozean selbst kümmert sich nicht um die Umweltverschmutzung, aber die Geschichte ist ihr gegenüber keineswegs gleichgültig. Die Geschichte kann nur durch die Abschaffung der Arbeit als Ware gerettet werden. Und noch nie hatte das historische Bewusstsein es so dringend nötig, seine Welt zu beherrschen, denn der Feind vor seinen Toren ist nicht mehr Illusion, sondern sein eigener Tod.

Wenn die bedauernswerten Herren einer Gesellschaft, deren erbärmliches Schicksal heute erkennbar ist – ein Schicksal, das weitaus schlimmer ist als das, das selbst die radikalsten Utopisten früherer Zeiten beschworen haben -, zugeben müssen, dass unsere Umwelt zu einer sozialen Angelegenheit geworden ist und dass die Verwaltung von Allem direkt politisch geworden ist, bis hin zum Kraut auf den Feldern und der Möglichkeit zu trinken, ohne Schlafmittel zu schlafen oder sich zu waschen, ohne Allergien zu bekommen – dann ist es offensichtlich, dass die alte spezialisierte Politik sich zwangsläufig für völlig beendet erklären muss.

Sie endet in der höchsten Form ihres Voluntarismus: der totalitären bürokratischen Macht der sozialistisch genannten Regime, in denen sich die herrschenden Bürokraten als unfähig erwiesen haben, auch nur die vorherige Phase der kapitalistischen Wirtschaft zu verwalten. Wenn diese Regime die Umwelt viel weniger verschmutzen (allein die Vereinigten Staaten verursachen 50 % der weltweiten Umweltverschmutzung), so liegt das einfach daran, dass sie viel ärmer sind. Ein Land wie China, das unter den verarmten Nationen als Macht respektiert werden will, hat keine andere Wahl, als einen unverhältnismäßig großen Teil seines schmalen Budgets für die Erzeugung einer angemessenen Menge an Umweltverschmutzung zu opfern, wie zum Beispiel die Wiederentdeckungen und Verfeinerungen in den Techniken der thermonuklearen Kriegsführung oder, genauer gesagt, ihres bedrohlichen Spektakels. So viel materielle und psychische Armut, unterstützt durch so viel Terrorismus, verurteilt die herrschenden Bürokratien. Und was die modernste bürgerliche Macht verurteilt, ist das unerträgliche Ergebnis von so viel Reichtum, der effektiv vergiftet wurde. Die demokratisch genannte Verwaltung des Kapitalismus, in welchem Land auch immer, bietet nichts außer Wahlsiegen und -niederlagen, die – wie schon immer offensichtlich war – nie etwas im Allgemeinen und kaum etwas im Detail an einer Klassengesellschaft geändert haben, die sich einbildet, ewig bestehen zu können. Wahlen ändern auch dann nichts mehr, wenn das Verwaltungssystem selbst in eine Krise gerät und von einer entfremdeten und verblödeten Wählerschaft eine vage Anleitung zur Lösung sekundärer, aber dringender Probleme verlangt (wie in den Vereinigten Staaten, Italien, Großbritannien oder Frankreich). All die Experten haben schon lange angemerkt – um eine Erklärung zu bemühen -, dass Wähler fast nie ihre “Meinung” ändern,: Gerade weil sie Wähler sind, die für einen kurzen Augenblick eine abstrakte Rolle annehmen, die genau dafür entworfen wurde zu verhindern, dass sie aus eigener Kraft existieren und daher sich zu verändern (dieser Mechanismus wurde unzählige Male von demystifizierten Politikwissenschaftlern und ebenso von revolutionären Psychoanalytikern analysiert). Die Wähler ändern sich auch dann nicht, wenn die Welt um sie herum sich immer rascher verändert: Als Wähler würde er sich selbst dann nicht verändern, wenn die Welt kurz vor dem Ende stünde. Jedes repräsentative System ist wesensmäßig konservativ, wohingegen die Existenzbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft nie bewahrt werden konnten: Sie verändern sich ohne Unterbrechung und immer schneller, aber die Entscheidung – die letztlich immer die Entscheidung ist, den Prozess der Warenproduktion selbst stattfinden zu lassen – bleibt ganz den publizistischen Spezialisten überlassen; egal, ob sie allein im Rennen sind oder im Wettbewerb mit denen, die das Gleiche tun und es darüber hinaus laut ankündigen werden. Doch der Mensch, der gerade “frei” für die Gaullisten oder die Kommunistische Partei Frankreichs gestimmt hat, ist ebenso wie der Mensch der, gezwungen und erzwungen, für einen Gomulka gestimmt hat, durchaus in der Lage, eine Woche später durch die Teilnahme an einem wilden Streik oder einem Aufstand, zu zeigen, wer er wirklich ist.

In seiner staatlich gelenkten und regulierten Form wird der “Kampf gegen die Umweltverschmutzung” zunächst nichts anderes bedeuten als neue Spezialisierungen, Ministerien, Jobs und Beförderungen innerhalb der Bürokratie. Die Wirksamkeit des Kampfes wird mit diesem Ansatz vollkommen in Einklang stehen. Er wird niemals zu einem wirklichen Willen zur Veränderung führen, solange das gegenwärtige Produktionssystem nicht von Grund auf verändert wird. Er wird erst dann energisch geführt werden, wenn alle einschlägigen Entscheidungen, die von den Produzierenden demokratisch und in voller Kenntnis der Sachlage getroffen werden, von diesen selbstständig überwacht und ausgeführt werden (Öltanker werden beispielsweise unweigerlich ihre Ladung ins Meer verschütten, bis sie unter die Autorität authentischer Matrosen-Sowjets gestellt werden). Bevor die Produzierenden jedoch in solchen Fragen entscheiden und handeln können, müssen sie erwachsen werden: Sie müssen alle die Macht an sich reißen.

Der wissenschaftliche Optimismus des neunzehnten Jahrhunderts scheiterte an drei Hauptproblemen. Erstens: Der Anspruch einer Garantie der Revolution als glückliche Lösung für aktuelle Konflikte (dies war die links-hegelianische und marxistische Illusion; unter der bürgerlichen Intelligenzjia am wenigsten stark empfunden, dafür aber die reichste und letztlich die am wenigsten illusorische). Zweitens: die kohärente Sicht auf das Universum und sogar einfach auf die Materie. Und Drittens: eine euphorische, lineare Vorstellung von der Entwicklung der Produktionskräfte. Sobald wir uns mit dem ersten Problem auseinandergesetzt haben, werden wir uns in der Folge mit dem dritten befassen, was uns, wenn auch erst viel später, in die Lage versetzt, uns mit dem zweiten zu befassen und es zu unserer Angelegenheit und unserem Spiel machen zu können. Es sind nicht die Symptome, sondern die Krankheit selbst, die geheilt werden muss. Heute ist die Angst allgegenwärtig, und wir werden ihr nur durch unsere eigene Kraft entkommen, durch unsere eigene Fähigkeit, jede bestehende Art von Entfremdung und jedes Bild der Macht, die uns entrissen wurde, zu zerstören: Indem wir alles, außer uns selbst, der alleinigen Macht der Arbeiterräte übergeben, die jeden Augenblick die Gesamtheit der Welt besitzen und wieder aufbauen, das heißt der wahren Vernunft, einer neuen Legitimität.

Was die “natürliche” und die vom Menschen geschaffene Umwelt, die Geburtenrate, die Biologie, die Produktion, den “Wahnsinn” usw. betrifft, so wird die Wahl nicht zwischen Festival und Unglück bestehen, sondern bewusst und an jeder Wegbiegung zwischen einer Unzahl von Möglichkeiten auf der einen Seite, glücklich oder katastrophal, aber relativ umkehrbar, und dem Nichts auf der anderen. Die schrecklichen Entscheidungen der nahen Zukunft laufen dagegen auf eine einzige Alternative hinaus: totale Demokratie oder totale Bürokratie. Diejenigen, die der totalen Demokratie skeptisch gegenüberstehen, sollten versuchen, ihre Möglichkeit selbst zu testen, indem sie ihr eine Chance geben, sich in der Praxis zu bewähren; andernfalls könnten sie sich genauso gut einen Grabstein aussuchen, denn, wie Joseph Dejacque es ausdrückte: “Wir haben die Autorität bei der Arbeit gesehen, und ihre Arbeit verurteilt sie völlig.”

Die Parole “Revolution oder Tod!” ist nicht länger der lyrische Ausdruck des revoltierenden Bewusstseins, in unserem Jahrhundert ist sie das letzte Wort des wissenschaftlichen Denkens. Sie trifft zu auf die Gefährdung der Art, wie auf die Unmöglichkeit der Individuen, sich zu verbünden. In dieser Gesellschaft, in der die Selbstmordrate bekanntlich steigt, mussten die Experten unter Zögern zugeben, dass sie 1968 in Frankreich auf nahezu Null gefallen war. Dieser Frühling bescherte uns zudem, ohne genau dafür auf die Barrikaden zu gehen, einen schönen Himmel, da einige Autos abgefackelt wurden und es allen anderen am Benzin fehlte, die Luft zu verpesten. Wenn es regnet, wenn über Paris falsche Wolken hängen, lasst uns niemals vergessen, dass die Regierung Schuld daran ist. Die entfremdete industrielle Produktion macht den Regen. Die Revolution macht den Sonnenschein.

Hungerzügler

Erschienen als Abat-Faim in Encyclopédie des Nuisances #5, 1985.

Bekanntlich bezeichnete dieser Begriff eine “Vorspeise, die man zu Anfang serviert, um den ersten Hunger der Gäste zu “sänftigen oder zu bekämpfen”. Hatzfeld und Darmesteter bezeichnen ihn in ihrem renommierten Wörterbuch als “veraltet”. Aber die Geschichte ist die unfehlbare Meisterin der Wörterbücher. Mit den jüngsten Fortschritten der Technik ist es dahin gekommen, dass die Gesamtheit der Nahrung, die die moderne Gesellschaft konsumiert, einzig und allein aus Hungerzüglern besteht.

Extremer Verfall der Nahrung. An erster Stelle: des Geschmacks. Er ist Produkt der Chemie, die sich in der Landwirtschaft und Viehzucht massiv durchsetzt, sowie des profitablen Gebrauchs gewisser neuer Konservierungstechniken (Einfrieren und schnelles Wiederauftauen) oder einfach der Möglichkeit der Lagerung unter beliebigen Bedingungen (Bier). Logik der Ware: quantitatives Streben nach Einsparung von Zeit und

Kosten für Arbeitskraft oder Material (Faktoren, die gleichermaßen den Profit schmälern), Das Qualitative zählt nicht, weder hier noch anderswo, Es wird ersetzt durch diverse Formen ideologischer Reklame sowie durch staatliche Gesetzte, die im Namen der sogenannten Hygiene oder einfach der garantierten äußeren Erscheinung (größengenormtes Obst) eingeführt wurden, um offensichtlich die Konzentration der Produktion zu

begünstigen, die wiederum die Gewichtsnorm des abscheulichen neuen Produkts auf die Spitze treibt. Am Ende des Prozesses zielt das Marktmonopol darauf ab, dass nur noch

zwischen dem Hungerzügler und dem Hunger selbst gewählt werden kann.

Der wesentliche Nutzen der modernen Ware besteht darin, gekauft zu werden (und so kann sie, durch die Vermittlung des Kapitals, ein Wunder vollbringen, dessen Geheimnis nur sie selbst kennt: “Arbeitsplätze zu schaffen”!). Dagegen ist es fortan nicht mehr ihr Zweck, konsumiert und verdaut zu werden. Der Geschmack, der Geruch, ja selbst die fühlbare Beschaffenheit sind abgeschafft zugunsten künstlicher Lockmittel, die permanent Augen und Ohren täuschen. Daher die allgemeine Rückbildung der Sinnlichkeit, mit der eine außerordentliche Rückbildung geistiger Klarheit einhergeht (diese beginnt mit dem Verlust des Lesens und des größten Teils des Vokabulars). Für den Wähler, der sein Auto selbst fährt und fernsieht, ist keinerlei Geschmack mehr von irgendeiner Bedeutung. Deshalb kann man ihn dazu bringen, Findus zu essen, Fabius zu wählen und Bernard-Henri Lévy zu lesen.

Dieses weltweite Phänomen, das zunächst die wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder betrifft und sich schnell auf die Länder ausdehnt, die in ihrer Rückständigkeit demselben Prozess unterworfen sind, lässt sich präzise datieren. Obgleich er durch graduelle Veränderungen angekündigt wurde, vollzog sich der Umschlag sehr plötzlich innerhalb von zwei oder drei Jahren. In Frankreich fand er beispielsweise um 1970 herum statt (in

Nordeuropa ungefähr zehn Jahre früher, in Südeuropa zehn Jahre später).

Die Bourgeoisie hat lange Zeit gesagt: “Es hat eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr” (Marx). Heute sagt sie: “Es hat Geschmack gegeben, aber es gibt keinen mehr.” Derart ist der jüngste “look” der Gesellschaft des Spektakels, ebenso wie jeder individuelle “look“, dass man, wie “in” man auch immer sein mag, eben stehst “in” dem Netz verfangen bleibt, das sie gesponnen hat.

War diese Entwicklung gewollt? Einst wollte sie niemand. Seit den Physiokraten war das explizite Projekt der Bourgeoisie die quantitative und qualitative Verbesserung der Früchte des Bodens (von denen man wusste, dass sie im Vergleich mit den Produkten der Industrie weniger wandelbar waren). Dieses Projekt wurde während des gesamten 19. Jahrhunderts und rüber hinaus tatsächlich verwirklicht. Den Kritikern des Kapitalismus lag größere Qualität zuweilen noch mehr am Herzen. Namentlich Fourier, den Sinnesfreuden und Leidenschaften sehr zugetan und ein großer Birnenliebhaber, erwartete von der Herrschaft der Harmonie einen baldigen Fortschritt der geschmacklichen Vielfalt dieser Frucht. In diesem Punkt irrte er.

Der Schaden, den der Hungerzügler anrichtet, beschränkt sich nicht auf das, was er verschwinden lässt, sondern erstreckt erstreckt sich auf alles, was er mit sich bringt, einfach dadurch, dass er existiert (dieses Schema trifft auf jedes neue Erzeugnis der alten Welt zu). Die Nahrung, die ihren Geschmack verloren hat, präsentiert sich in jedem Fall als vollkommen hygienisch, ernährungstechnisch wertvoll und gesund, verglichen mit den riskanten Abenteuern, auf die man sich bei vorwissenschaftlicher Ernährungsweise einließ. Aber das ist eine zynische Lüge. Die moderne Nahrung enthält eine unglaubliche Dosis von Giften (die berühmte Union Carbide produziert ihre leistungsstarken Erzeugnisse für die Landwirtschaft) und fördert darüber hinaus Mangelerscheinungen aller Art (durch das Fehlen von Spurenelementen etc.) deren finanzielle Folge sich am Katzenjammer des öffentlichen Gesundheitswesen zeigen. Zu dem, was bei der Behandlung von Lebensmitteln zulässig (obgleich selbst schon erschreckend) ist, kommt noch einiges an Unzulässigem, das aber toleriert Wird, wie auch einige Unzulässiges, das es dennoch gibt (überhöhte Hormonwerte im Kalbfleisch etc.). Bekanntlich ist der am weitesten verbreitete Krebs in den Vereinigten Staaten nicht der, welcher sich an den Lungen derjenigen erfreut, die verpesteten Tabak rauchen oder in noch stärker verpesteten Städten wohnen, sondern derjenige der die Eingeweide von Präsident Reagan und anderen Speisenden seiner Sorte zerfrisst.

Diese großartige Praxis des Hungerzüglers ist auch für die Hungersnot unter den Völkern in der Peripherie verantwortlich, die dem kapitalistischen Weltsystem noch absoluter unterworfen sind – falls eine solche Steigerung möglich ist. Die Technik ist einfach: Die Anbaukulturen werden vom Weltmarkt ausgelöscht und die Bauern der sogenannten unterentwickelten Länder verwandeln sich wie von Zauberhand in arbeitslose Bewohner der rasant wachsenden Slums Afrikas und Lateinamerikas. Es ist bekannt, dass der Fisch, den die Peruaner in großen Mengen fingen und aßen, heute von den Besitzern der fortgeschrittenen Ökonomien in Beschlag genommen wird, um ihn an das Geflügel zu verfüttern, welches sie dort auf den Markt bringen. (Damit es den Fischgeschmack verliert – natürlich ohne irgendeinen anderen Geschmack dafür zu erhalten – verwendet man Acrolein, ein sehr gefährliches chemisches Produkt. Die Bewohner von Lyon, in deren unmittelbarer Nachbarschaft es hergestellt wird, kennen es nicht – weder als Konsumenten, noch als Anwohner des Herstellers -, aber es wird ihnen nicht erspart bleiben, es bald in einem katastrophischen Licht kennen zu lernen.) Die zahlreichen Spezialisten des Welthungers arbeiten Hand in Hand mit anderen Spezialisten, die damit beschäftigt sind, uns glauben zu machen, dass hier die üppigen Genüsse wer weiß welches “Großen Fressens” herrschten – eine Idee, mit welcher das mittlere Management

und alle, die an ihr “absatzförderndes” Glück glauben, es sich ein wenig wohl sein lassen. Jene Hungerspezialisten teilen uns folgende Ergebnisse ihrer Berechnungen mit: Der Planet produziert mehr als genug Getreide, sodass niemand Hunger leiden müsste; was aber die Idylle stört, ist die Tatsache, dass die “reichen Länder” missbräuchlich die Hälfte dieses Getreides konsumieren, um es an ihr Vieh zu verfüttern. Wenn man aber den entsetzlichen Geschmack des Fleisches kennt, das auf diese Art mit Getreide schnell gemästet wurde, kann man da von “reichen Ländern” sprechen? Sicherlich nicht. Nicht, um uns im Schlaraffenland leben zu lassen, muss ein Teil des Planeten im Hunger sterben; sondern, um uns im Dreck leben zu lassen. Aber der Wähler liebt es, wenn man ihm schmeichelt, indem man ihn daran erinnert, dass es schon ein wenig hartherzig von ihm ist, so gut zu leben, während ihn andere, in verlorenen Ländern, sensu stricto mit den Kadavern ihrer Kindern mästen. Trotz allem ist dem Wähler an dieser Rede angenehm, dass man ihm erzählt, er würde reich leben. Daran glaubt er gern.

Nicht nur die Medizin, sondern auch die Nahrung ist, wie so vieles andere, zum Staatsgeheimnis geworden. In Zeiten, als die besitzenden Klassen noch Vorbehalte gegen die Demokratie hegten – da sie, nicht ohne Grund, fürchteten, was eine tatsächliche Demokratie für sie bedeuten würde – war einer ihrer stärksten Einwände gegen diese Staatsform die Beschwörung der Unwissenheit der Mehrheit der Leute – ein in der Tat gravierendes Hindernis dafür, ihre Angelegenheiten selbst zu kennen und zu regeln. Heute halten die Besitzenden sich für gut abgesichert durch die kürzlich entdeckten Impfstoffe gegen die Demokratie, oder vielmehr gegen diese Minimaldosis Demokratie, die man vorgibt, uns zu garantieren: Denn die Leute wissen ebenso wenig, was sie auf dem Teller haben, wie sie eine Ahnung haben von den Geheimnissen der Ökonomie, der zu erwartenden Leistung strategischer Waffen, den subtilen “gesellschaftlichen Entscheidungen”, die man vorschlägt, um alles beim Alten zu lassen und dann wieder von vorn zu beginnen, oder vom geheimen Einsatz von Spezialeinheiten, dem Spezialeinsatz der Geheimdienste.

Auch wenn sich das Geheimnis sogar auf Ihrem Teller breit macht, so darf man doch nicht glauben, dass überhaupt niemand über irgendetwas Bescheid weiß. Aber im Spektakel dürfen die Experten keine dermaßen gefährlichen Wahrheiten verbreiten. Sie verschweigen sie. Alle haben ein Interesse daran, dies zu tun. Und das isolierte wirkliche Individuum, das weder seinem eigenen Geschmack noch seinen eigenen Erfahrungen traut, kann sich nur noch an den gesellschaftlich organisierten Betrug halten. Könnte eine Gewerkschaft die Wahrheit aussprechen? Sie kann nichts sagen, was unverantwortlich und revolutionär wäre. Es ist das Prinzip einer Gewerkschaft, die Interessen der Lohnabhängigen im Rahmen der Lohnarbeitssystems zu verteidigen. Sie pflegte zum Beispiel für jene “einen Zipfel von der Wurst” zu verteidigen. Aber es handelt sich um

eine abstrakte Wurst (heutzutage ist es etwas noch Abstrakteres, nämlich “die Arbeit”, die sie verteidigt – oder eher nicht verteidigt). Wenn wirkliche Wurst nahezu verschwunden ist, haben diese Spezialisten davon nichts bemerkt, zumindest nicht offiziell. Denn im Geheimen gibt es weiterhin Wurst, die von Tieren stammt, die ohne Chemie großgezogen wurden, aber natürlich zu einem höheren Preis. Freilich würde bereits die Enthüllung ihrer bloßen Existenz die Säulen des Tempels der “Tarifpolitik” gehörig erschüttern.

Die abstrakte Konsumtion abstrakter Waren findet ihre Gesetze – die jedoch nicht besonders gut funktionieren – offenkundig im Rahmen der Vorschriften der sogenannten “Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft”. Darin besteht in Wahrheit die hauptsächliche Funktion dieser Institution. Jede historische Tradition muss verschwinden und die Abstraktion regiert in völliger Abwesenheit der Qualität (siehe den Artikel Abstraktion). Natürlich hatten nicht alle Länder dieselben geographischen und kulturellen Eigentümlichkeiten der Ernährungsweise. Um bei Europa zu bleiben: Frankreich hatte schlechtes Bier (außer im Elsass), sehr schlechten Kaffee etc. Aber Deutschland trank gutes Bier, Spanien trank gute Schokolade und guten Wein, Italien guten Kaffee und guten Wein. Frankreich hatte gutes Brot, gute Weine, viel Geflügel und Rindfleisch. All dies

muss sich im Rahmen des gemeinsamen Marktes auf eine Gleichheit der verpesteten Ware reduzieren. Der Tourismus hat hier eine gewisse Rolle gespielt, da sich der Tourist auf der

Stelle an das Elend der Waren gewöhnt, die man eigens für ihn verpestet hat. (Der Tourist ist derjenige, der überall so schlecht behandelt wird wie zuhause: Er ist der Wähler auf Dienstreise.)

In der Zeit, die der Revolution von 1789 unmittelbar vorausging, kam es bekanntlich zu zahlreichen Aufständen infolge damals noch maßvoller Versuche, Brot zu verfälschen. Und wie viele dreiste Experimentatoren wurden sofort an der Laterne aufgeknüpft, bevor sie ihre Gründe erklären konnten, die Sicherlich sehr triftig waren! Andere Zeiten, andere Sitten; oder, besser gesagt: Der Nutzen, den die Klassengesellschaft aus ihrer umfangreichen spektakulären Ausstattung zieht – der technischen Apparatur wie dem Personal -, wiegt die unvermeidlichen Kosten bei weitem auf. Als man daher vor mittlerweile fast zehn Jahre das Brot aus Frankreich verschwinden sah – es wurde fast überall durch Pseudo-Brot ersetzt (zum Brotbacken ungeeignetes Mehl, chemische Hefe, elektrische Öfen) – löste dieses traumatische Ereignis nicht nur keine Protest- oder Verteidigungsbewegung irgendeiner Art aus – wie etwa kürzlich zugunsten der “frei” genannten Schule -, sondern es verlor buchstäblich niemand ein Wort darüber.

Es gibt Epochen, in denen man beinahe gefahrlos lügen kann, weil die Wahrheit keine Freunde mehr hat. (Sie bleibt dann eine simple Hypothese, die wenig seriös erscheint, da

man sie weder verifizieren kann noch will.) Kaum einer lebt mehr mit der Wahrheit unter einem Dach. (Und mit dem Genuss? Die moderne Architektur hat ihn jedenfalls in ihrem ausgedehnten Aktionsbereich abgeschafft.) Wenn Genuss durch spektakuläre Freuden verschafft würde, so könnte man die Konsumenten glücklich nennen, solange sie Bilder zum Abgrasen finden. Die gefährliche Dialektik kehrt an anderen Stellen zurück. Denn es ist offensichtlich, dass die Herrschaft dieser Welt sich überall zersetzt. Die Kritik schert sich nicht um die Verwaltung, auch wenn deren Auswirkungen tödlich sind. Das ist das Syndrom der verhängnisvollen Krankheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Die Gesellschaft der Klassen und Spezialisierungen immunisiert sich durch eine ständige und allgegenwärtige Kraftanstrengung gegen alle Genüsse. Sie wird an AIDS sterben.

Abschaffung

Erschienen als Abolir in Encyclopédie des Nuisances #11, 1987.

Das Wort abolir (abschaffen), das seiner lateinischen Herkunft gemäß schlicht “zerstören” bedeutet, engte seine Bedeutung im juristischen und sozialen Bereich schnell ein. Antoine-Léandre Sardou rückt es in seinem “Nouveau Dictionnaire des synonymes français” (1874) daher in die Nähe von abroger [aufheben, außer Kraft setzen]: “Abolir lässt sich in Bezug auf viele Dinge sagen: Sitten, Gebräuche, Gesetze etc. Abroger dagegen lässt sich nur auf Gesetze, Dekrete, öffentliche Akte mit Gesetzeskraft anwenden. Der bloße Nichtgebrauch reicht für das Abschaffen aus; für das Aufheben ist jedoch ein positiver Akt erforderlich: ein außer Anwendung gekommenes Gesetz ist faktisch abgeschafft: aufgehoben kann es nur werden durch ein anderes Gesetz oder durch eine förmliche Erklärung der gesetzgebenden Gewalt.”

Die Französische Revolution hat auf der rechtlichen Ebene die Privilegien des Adels und des Klerus abgeschafft, um die bürgerliche Gleichheit zu begründen. Das 19. Jahrhundert hat die Sklaverei in den von den europäischen Mächten abhängigen Kolonien und – später und nicht ohne Widerstand – in den Vereinigten Staaten abgeschafft. Das revolutionäre Programm, das offensichtlich auf hartnäckigeren Widerstand stoßen musste, nahm sich von diesem Zeitpunkt an vor, den Staat, die Klassen, die Ware etc. abzuschaffen. Einige Punkte dieses Programms wurden in gewisser Weise bereits verwirklicht – allerdings verkehrt –, indem der Fortschritt der Konterrevolution dieses Jahrhunderts tatsächlich vieles von dem, was existierte, abschaffte. Dies geschah stets mit dem einzigen Zweck und durch die alleinige Praxis der absoluten polizeilichen und psychiatrischen Kontrolle und der Auslöschung aller Freiheit außer derjenigen der “Entscheidungsträger” des Staates.

Die belanglose Ideologie der “Menschenrechte” ist daher nichts anderes als die Inschrift auf dem Grabstein all dessen, was alle Staaten beerdigt haben. Die Abschaffung der Trennung von Stadt und Land wurde erreicht durch den gleichzeitigen Zusammenbruch beider. Die Spaltung Arbeit-Freizeit löste sich auf, als die Arbeit massenhaft unproduktiv und albern wurde (im lächerlichen “tertiären Sektor”) und sich die Freizeit in eine überaus langweilige und ermüdende ökonomische Aktivität verwandelte. Die kulturellen Ungleichheiten wurden beinahe überall und für nahezu jeden durch den neuen Analphabetismus abgeschafft – das alte Projekt der Beseitigung der Unwissenheit hat sich verwandelt in das der Abschaffung der Unwissenheit ohne Universitätsabschluss –, und dies in ihrer harten (Grundschule) wie in ihrer weichen Version (Neo-Universität); denn die Formulierung von A.-L. Sardou bestätigt ihre Richtigkeit überall: “Zur Abschaffung genügt der Nichtgebrauch.” Das Geld ist dabei, in einer speziellen Weise durch den elektronischen Zahlungsverkehr abgeschafft zu werden. Infolge dessen müssen die vertrauensseligen und wohlerzogenen Bürgerkinder die Verwaltung ihrer kleinen Sparbüchse Maschinen überlassen, die kompetenter sind als sie und die zweifellos besser wissen, was für sie gut ist und worauf sie verzichten sollten.

Bekanntlich hat das christliche Denken, dessen zähes Leben unglücklicherweise fast zweitausend Jahre währte, die Vorstellung erzeugt, die Welt sei nichts als ein “Jammertal”. Folglich verdammte es, unter der Bezeichnung “Todsünden”, die wesentlichen Neigungen des wirklichen Menschen; ohne sich jedoch rühmen zu können, jemals deren Auslöschung erreicht zu haben – und das in dem ganzen ausgedehnten Verbreitungsgebiet der Gesellschaften, die es so lange beherrschte.

Die Liste dieser Todsünden ist heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten und nur die kleine Minderheit unserer Zeitgenossen, die sich eine gewisse Vertrautheit mit dem Lesen und der Sprache bewahrt hat, erinnert sich, dass deren Zahl gewöhnlich mit sieben angegeben wurde. Diese sieben Todsünden, Quellen aller übrigen Verfehlungen, waren: Stolz, Geiz, Wollust, Neid, Völlerei, Zorn und Faulheit.

Im Lärm der ununterbrochenen Verkündungen, die uns überall über die Triumphe der herrschenden Gesellschaft informieren – auf dem Gebiet ihrer überwältigenden Energiemacht, ihres Bruttosozialprodukts, ihrer modernisierten Krise, ihrer kultivierten Computer und so vieler anderer hübscher Abstraktionen –, vergisst man allzu leicht ein konkretes Phänomen von immenser Tragweite: die weltweite Organisation der Gesellschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit stetig zunehmender Geschwindigkeit durchsetzte, hat es geschafft, sechs der sieben Todsünden abzuschaffen (das entspricht, um es in den Begriffen der heutigen Zeit auszudrücken, einem Prozentsatz von etwa 86 Prozent). Wir werden dies in wenigen Worten beweisen: Jeder denke dabei einfach an Beispiele in dem, was er trotz allem nicht mehr wagen wird, “sein Land” zu nennen!

Der Stolz ist offensichtlich tot für den verwalteten Wähler, den ausgefragten Autofahrer, den verseuchten Fernsehzuschauer, den Bewohner der HLM (10) und den Autobahn-Urlauber. Niemand, der akzeptiert, auf diese Weise zu überleben, kann sich auch nur die bloße Möglichkeit einer flüchtigen Regung von Stolz bewahren.

Der Geiz hat keinerlei Grundlage mehr, da das Eigentum dazu tendiert, sich in den Händen des Staates zu konzentrieren, der es aus Prinzip verschleudert. Das echte individuelle Eigentum, welches nur sehr wenigen Leuten zugänglich ist, wird durch die pedantische Kontrolle und das Recht zur Einmischung tausender gesellschaftlicher und korporativer Instanzen stark angefressen. Der Lohnempfänger kann nicht einmal mehr ein paar armselige Groschen horten, deren Wert ständig schwankend, fiktiv und fließend wie das Wasser ist. Dieses Geld verflüchtigt sich in eine immer weniger greifbare Abstraktion, den bloßen elektronischen Zahlungsverkehr, ein Buchungsspiel, das ohne ihn gespielt wird. Und wenn er daran denkt, ein paar Dinge anzuhäufen, die etwas wertvoller sind als das, was täglich auf dem Markt angeboten wird, so trägt sie ein Dieb davon.

Die Wollust ist mit der zunehmenden Auflösung wirklicher Persönlichkeiten und wirklichen Geschmacks fast vollständig verschwunden. Sie hat sich zurückgezogen angesichts der Flut von zu offensichtlich verlogener Ideologie, kalter Simulation und des komischen Anspruchs der Roboter auf automatische Leidenschaft. AIDS tauchte auf, um dieses Debakel zu vervollständigen.

Die Völlerei hat angesichts der Errungenschaften der Agrar- und Lebensmittelindustrie ihre Waffen gestreckt. Der Zuschauer hält sich übrigens – hier wie auch im Theater – nicht länger für fähig, den Geschmack dessen zu beurteilen, was er isst. Er lässt sich daher durch Reize leiten: die Namen der gerade angesagten Gerichte, die Werbung und das Urteil der Gastronomieführer.

Der Zorn hatte so viele Gründe und wurde so wenig zum Ausdruck gebracht, dass er sich in der allgemeinen Feigheit und Resignation aufgelöst hat. Hat der gutgläubige Wähler Anlass, sich über das endgültige Ergebnis einer Wahl aufzuregen, das in Wahrheit immer dasselbe und somit bereits vorher exakt absehbar ist und feststeht? Der Wähler hat keinen Grund, die getäuschte und verhöhnte Unschuld zu spielen, und ist in jedem Fall schuldig. Er könnte allenfalls auf sich selbst wütend sein, und diese unangenehme Lage möchte er gewöhnlich vermeiden.

Die Faulheit ist kaum noch möglich: Es gibt überall zu viel Lärm. Schlimmer noch ist es für die Unglücklichen, die zur Arbeit oder in den Urlaub hetzen. Faulheit ist nur für denjenigen ein Vergnügen, dem es bei sich daheim und in seiner eigenen Gesellschaft gefällt. Die modernen Länder können sich eine größere Anzahl von Menschen ohne Beschäftigung leisten, sowie viele andere, die mit völlig überflüssigen Dingen beschäftigt sind. Aber sie können keinen einzigen Faulenzer halten – dafür sind sie nicht reich genug.

Man mag uns vielleicht vorhalten, dass diese Darstellung, ungeachtet ihrer tiefen Wahrheit, ein wenig zu systematisch ausfällt, weil die Wirklichkeit in der Geschichte immer eine dialektische ist; und dass es eine kümmerliche Schematisierung ist, alle Todsünden als demselben Untergang geweiht zu präsentieren. Dieser Einwand ist unbegründet: Wir haben keineswegs den Neid vergessen, der im Gegensatz zu den anderen Todsünden überlebt hat und der einzige Erbe all dieser ausgelöschten Mächte ist.

Der Neid ist zur allgemeinen und ausschließlichen Triebfeder geworden. Er rührte immer daher, dass viele Individuen sich an ein und demselben Maßstab messen. Dieser Maßstab war meist die Macht oder das Geld. Abgesehen von diesem gemeinsamen Maß der Beschränkung blieben die Realitäten vielfältig; und all jene, denen nicht allzu sehr an Macht oder Reichtum gelegen war, blieben offensichtlich vom Neid verschont. Andererseits konnte ein neidischer Charakter immer mit irgendeiner Person in seinem Tätigkeitsbereich wetteifern. Ein Dichter konnte einen anderen Dichter beneiden. Dasselbe galt für einen General, eine Hure, einen Schauspieler oder einen Cafébetreiber. Aber die überwiegende Mehrheit der Menschen erregte kaum den Neid anderer. Heute, wo die Leute fast nichts haben und nichts lieben, wollen sie alles, ohne dabei auf das Gegenteil zu verzichten. Jeder Zuschauer beneidet fast alle Stars. Aber er kann auch gleichzeitig alle Stars um all ihre Charakterzüge beneiden. Wer die Niedertracht besaß, Karriere zu machen, und folglich mit dieser Karriere wenig zufrieden ist (es gibt immer andere, die weiter oben sind), möchte darüber hinaus die Ehre und das Vergnügen haben, als ein Unverstandener, Aufsässiger und “Verfemter” zu gelten. Und da dieses leere Streben vollkommen aussichtslos ist, sind alle Betrogenen von heute dazu verdammt, ohne Unterlass zu rennen, ohne je anzukommen. Da sie keine Ahnung vom wirklichen Leben haben, wissen sie nicht, dass fast alle wirklich tief verwurzelten menschlichen Charakterzüge nur existieren können, indem sie viele andere ausschließen.

In der Antike sagte man: “Es ist nicht jedem gegeben, nach Korinth zu gehen.” Man kann heute hinzufügen, dass einen dies daran hindert, gleichzeitig in Tokio zu wohnen.

Dieser Triumph des Neides, die unkontrollierbare Kernschmelze seines radioaktiven Herzens und sein allgegenwärtiger Niederschlag sind leicht zu verstehen. Die verschwundenen Todsünden betrafen persönliche Charakterzüge des Individuums, welches für sich handelte (oder, im Falle der Faulheit, es vorzog, nicht zu handeln). Aber Neid ist die einzige Charaktereigenschaft, die sich nur auf andere bezieht. Es ist normal, dass er allein bleibt, um diejenigen zu erfreuen und anzuspornen, denen alles genommen wurde. In was für einem Jahrhundert wir leben, das lassen uns diese verblüffenden Entdeckungen keinen einzigen Tag vergessen. Früher beneidete César Borgia nicht Michelangelo, Friedrich II. beneidete nicht Voltaire und M. Thiers wäre ebenfalls sicher nicht auf die Idee gekommen, Baudelaire zu beneiden. Doch erst vor kurzem verschmähte der Präsident Valéry Giscard nicht die Befriedigung, bekannt zu geben, dass er Flaubert bewundere (der Giscard, der Homais, Bouvard und Pécuchet (11) in einer einzigen Person verkörpert) und dass er sehr gerne auf ein Jahr politischer Aktivität verzichtet hätte, wenn man ihm zugesichert hätte, er werde in dieser Zeit ein künstlerisches Werk von der Bedeutung des Flaubert’schen schaffen, das es in seinen Augen wert sei, zwei Semester anderer und sichererer Geschenke auszuschlagen. Und selbst einige zeitgenössische Analphabeten beneiden, auf ihren Lehrstühlen sitzend, die Kultiviertheit und den Kenntnisreichtum der Redakteure dieser Enzyklopädie!

Wir haben gesagt, dass die intensive und extensive Regression der Persönlichkeit unvermeidlich das Verschwinden des persönlichen Geschmacks mit sich bringt. Woran kann jemand Gefallen finden, der nichts ist, nichts hat und der von nichts weiß – außer durch verlogenes und schwachsinniges Hörensagen? Umgekehrt gibt es fast nichts mehr, was einer solchen Person missfällt – und eben darin besteht das Ziel der Besitzer und “Entscheidungsträger” der Gesellschaft, welche über die Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation verfügen, mit deren Hilfe sie den Schein der verschwundenen Geschmäcker manipulieren können.

Edgar Poe schrieb bereits 1845 im Zwiegespräch zwischen Monos und Una, das sich eine kommende Zerstörung der Welt zum Thema gewählt hat und zweifellos diejenige seiner Schriften ist, die aus größerer Entfernung vorhersagte, was unsere Zeitgenossen bezüglich der Häufung unwiderruflicher und unüberlegter Störungen des ökologischen Gleichgewichts erst kürzlich entdeckten:

“Derweil erhoben sich ungeheuere qualmende Städte, schier ohne Zahl. Grünendes Laub verdorrte im heißen Atem der Schlote. Das schöne Gesicht der Natur ward entstellt, wie von den Verheerungen einer ekelhaften Krankheit. Und mich dünkt, süße Una, unser schlummernder Sinn für das Gewaltsame und das Weithergeholte hätte uns eigentlich hier Einhalt gebieten müssen. Doch nun erscheint es, dass wir mit der Pervertierung unseres Geschmacks oder vielmehr mit der blinden Vernachlässigung seiner Ausbildung in den Schulen nur unsern eignen Untergang herbeigeführt hatten. Denn wahrscheinlich, in diesem entscheidenden Krisenaugenblick war es allein der Geschmack – jene Fähigkeit, welche eine Mittel- und Mittlerposition zwischen dem reinen Intellekt und dem moralischen Empfinden innehat und niemals ungestraft missachtet wird – in diesem Augenblick war es einzig und allein der Geschmack, der uns sanft hätte zurückführen können zu Schönheit, Natur und Leben.”

In welchem Maße Geschmack und Erfahrung und mit ihnen der Sinn für das Unglaubwürdige und Lächerliche verschwunden sind, zweigt nichts besser als der große archäologisch-kulturelle Betrug dieses Jahrhunderts, über den anscheinend sehr wenig Leute lachten, während die Hauptbetrogenen es vorziehen zu glauben, er sei ohne weitere Aufklärung vergessen. Um 1980 begeisterte man sich für eine Armee von Statuten tausender Soldaten und Pferde – etwas überlebensgroß – von denen die Chinesen behaupteten, sie 1974 entdeckt zu haben und die vor 22 Jahrhunderten mit dem Kaiser Qin Shihuangdi begraben worden sein sollen. Dutzende von Verlegern und hunderte von Zeitungen schluckten den Köder mitsamt der Angelleine. Darüber hinaus verbürgt durch die Begeisterung des nämlichen Valéry Giscard, wurde dieser Schatz in mehreren großen europäischen Städten ausgestellt, Es kamen schließlich geringfügige Zweifel auf bezüglich der Frage, ob diese reisenden Wunder Originale seien, wie die neomaoistische Regierung bekräftigte, oder ob es sich um Kopien handelte, wie sie später zu berichtigen gezwungen war. Hier wurde Feuerbachs Feststellung, dass seine Zeit die Kopie dem Original vorzöge, vom Fortschritt weit überholt, da es sich um Kopien handelte, deren Originale niemals existiert hatten. Schon beim ersten Blick auf das erste Foto der „Ausgrabungen“ konnte man nur lachen über die Frechheit der chinesischen Bürokraten, die die Ausländer so unverfroren als Dummköpfe behandelten. Aber noch bizarrer als all diese absoluten Unwahrscheinlichkeiten ist die Tatsache, dass ein Blickauf ein Bild des Kopfes irgendeiner beliebigen Statue – die sich alle sehr ähneln – ausreicht, um zu wissen, dass niemals und zu keinem Zeitpunkt der Weltgeschichte vor dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts solche Figuren aus Gussformen produziert werden konnten (in Wirklichkeit wurden sie in den letzten Jahren von Maos Herrschaft hergestellt, um durch eine so umfangreiche und wunderbare Entdeckung all das zu ersetzten, was während der Raserei der Pseudo-“Kulturrevolution“ zerstört worden war.) Um die armselige Grundform dieser riesenhaften Marionetten herzustellen, war es unabdingbar, dass bereits die Schaufensterpuppen vom Anfang dieses Jahrhunderts existierten; dass die Gemälde Gauguins erst kürzlich eine neue Figur des Exotischen in die westliche Kunst eingeführt hatten und schließlich und vor allem, dass die stalinistische und nazistische Bildhauerkunst – die genau die gleiche ist – in den 30er Jahren das Licht der Welt erblickt hatte.

Zwei Jahrhunderte vertieften Studiums der Kulturgeschichte, der Geschichte der Formen alles, was Winckelmann oder Schiller, Burckhardt oder Élie Faure und hundert andere , von Schlegel bis Walter Benjamin herausgearbeitet haben, ist im selben Nichts vergessen; denn diejenigen, die wie ein Wasserfall reden – wie die Leute in Paris sagten, als sie überhaupt noch etwas sagten – sind recht überzeugt, dass es, hier wie anderswo, keine Wissenschaft mehr gibt, die man kennen muss; und dass die Unwissenheit alles sagen kann, denn sie weiß, dass sie keine Antwort mehr zu fürchten hat.

Es ist vollkommen gewiss, dass tausende Menschen auf der Welt genau wie wir sofort verstanden haben, ohne dafür Archäologe oder Sinologe sein zu müssen. Aber etwas konnte das Spektakel darüber wissen und die Leute, die es informiert? Es sind völlig Ahnungslose, die falsche Informationen unter die Massen streuen. Und was die recht mittelmäßigen Experten für diese Frage angeht: Als sie ihren Fehler infolge gewisser vertraulicher Mitteilungen innerhalb der Familie offenbar endlich einsahen, hielten sie es sicherlich für eleganter, sich ihrerseits an nichts zu erinnern. Und daher hat der Tyrann, wie ihn La Boétie gezeigt hat, auf diesem Gebiet so viele Freunde. Zahlreich sind diejenigen, die hier und a einen kleinen Nutzen haben, an der Seite derer, die einen großen daraus ziehen, auf dass die Geschichte abgeschafft werde, auf dass die Erinnerung abgeschafft werde.