Die Militanz
als höchstes Stadium der Entfremdung (Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaire)
Der Militante im 21. Jahrhundert (Gilles Dauvé)
„Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung“ ist ein Klassiker der Militanzkritik und liest sich heute aktueller den je ebenso ist es ein Leichtes sie auf die Aktivist:innen des 21. Jahrhunderts anzuwenden. Das Ziel dieser Seiten geht aber über die Anprangerung bestimmter Verhaltensmuster wie Trennung in Theorie und Praxis, Märtyrer:innentum und Opfer, Hierarchien usw. hinaus. Wenn auf diese Themen Bezug genommen wird, dann nicht um sie zu psychologisieren, sondern um zu versuchen eine mehr oder weniger tief gehende Analyse der Beziehung zwischen diesen typischen militanten Verhaltens weisen, der Organisation der Militanten und dem System der Warenproduktion vorzunehmen.
Gilles Dauvé analysiert in „Der Militante im 21. Jahrhundert“, 40 Jahre nach Veröffentlichung des vorhergehenden Textes, Veränderungen der Militanten und zieht Konsequenzen für eine Kritik.
Texte übernommen von der Soligruppe für Gefangene
Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung (1972)
Einleitung der Soligruppe für Gefangene
Wir haben diesen Text aus der Seite Kommunisierung.net entnommen und überarbeitet. Zusätzlich dazu haben wir auch das Vorwort der spanischen Ausgabe übernommen, weil in dieser interessante Informationen und wichtige Aspekte, die zu berücksichtigen sind, erwähnt werden. Wir hatten uns sehr über die Übersetzung von diesem Text gefreut, die am 06. Mai 2013 veröffentlicht wurde, der Originaltext ist wesentlich älter. Diese überarbeitete Version haben einige von uns zu lange Zeit schon vor uns hergeschoben, daher freuen wir uns umso mehr über die Veröffentlichung.
Nun stellt sich die Frage, warum wir diese Übersetzung überarbeitet haben, als ob was bei der Übersetzung von Kommunisierung.net nicht stimmen würde.
Die Übersetzung ist sehr gut, daran ist nichts zu kritisieren, aber der Kernpunkt dieses Textes schweift vom Originaltext komplett ab. Es dreht oder es handelt sich hier um den Begriff, wie im Originaltext, des Militanten und der Militanz als solche und wir sind überhaupt nicht einverstanden, dass dies mit den Begriffen der Aktivisten und des Aktivismus übersetzt wurde. Vor allem auch weil diese letzteren Begriffe auch im Originaltext erscheinen und dieser differenziert zwischen beiden.
Wir selber kennen die Unterschiede der Begriffe (Militanz im deutschsprachigem Raum und außerhalb von diesem sowie der Unterschied zwischen Militanz und Aktivismus außerhalb des deutschsprachigen Raumes), nicht nur deren Bedeutung im jeweiligen Kontext, sondern auch vor allem ihren spezifischen Charakter.
Gerne und üblicherweise wird im deutschsprachigem Raum der Begriff Militanz nur in einem Kontext von Ausübung oder positiver Einstellung gegenüber Gewalt verwendet, während auf dem Rest der Welt dieser Begriff sehr anders verwendet wird. Wir wissen, dass der Ersatzbegriff der von Kommunisierung.net verwendet wurde, nämlich Aktivist – Aktivismus, an sich was komplett anderes bedeutet, auch wenn gegenwärtig gewisse Parallelismen stattfinden, dennoch beschreiben sie nicht dasselbe.
Militanz und Militante sind außerhalb des deutschsprachigen Raumes, als Kritik, als Negation jeglicher Art von Bewusstsein und Selbstverantwortung, entfremdete politische Subjekte die ihren Organisationen dienen. Dies wäre komplett runtergebrochen, was der folgende Text erklären wird, natürlich viel ausführlicher.
Der Unterschied zwischen Militanz-Militante und Aktivismus-Aktivisten liegt an Veränderung politischer Zusammenhänge in den letzten 40 Jahre. Der Aktivismus und die Aktivisten sind die informelle Erscheinung dieser entfremdeten politischen Subjekte unserer Zeit, die nicht mehr den „großen“1 Organisationen verbunden sind. Deswegen gilt aber dieser entfremdeten Figur keine Kritik, wie die im folgenden Text verfasste, sondern eine der anderen Art, auch wenn vieles sich überschneidet und ähnlich wirkt.
Vorwort zur spanischen Ausgabe
Jede Übersetzung bringt einen gewissen Bedeutungsverlust mit sich. Man hofft immer, dies zu kompensieren und es so weit wie möglich zu minimieren oder zumindest zu verhindern, dass es den zentralen Aspekt des Textes beeinträchtigt. In diesem Fall ist es leider gerade das wichtigste Wort, das dieses Problem unüberwindbar macht. Im Französischen heißt die Militanz militantisme und erhält durch die Endung -isme (-ismus) eine Form, die im Spanischen mit militantismo übersetzt werden könnte. Wollte man diese Form beibehalten und den doktrinären Aspekt der Militanz betonen, würde der ursprüngliche Titel etwa Militantismo, estadio supremo de la alineación2 lauten. Aber im Spanischen sprechen wir jedoch nicht von militantismo, und so steht dieser Begriff für eine verschärfte und fundamentalistische Form militanter Aktivitäten. Ihn so zu übersetzen, würde bedeuten, sich nicht auf die reine Militanz zu beziehen, auf die sich der Originaltitel bezieht, und würde die Kritik nur auf einen Bruchteil ihres eigentlichen Ziels lenken. Das wäre ein schwerwiegender Fehler, denn das Ziel dieses Textes steht der Verurteilung der verschärftesten und doktrinärsten Formen der Militanz diametral entgegen. Das scheint in der Tat ihre große Besonderheit zu sein: Weit davon entfernt, einige spezifische Formen der Militanz anzugreifen, wie Aktivismus, Parteimilitanz usw., versucht sie, die Reproduktion der merkantilen Entfremdung3 in den Grundlagen aller militanten Aktivitäten sichtbar zu machen.
Deshalb ist es wichtig, sich von Anfang an klarzumachen, dass wir es nicht mit der am weitesten verbreiteten Kritik am Aktivismus zu tun haben, die sich darauf beschränkt, leicht amüsante Parallelen zu religiösen Praktiken, Arbeitspraktiken und so weiter zu ziehen. Das Ziel dieser Seiten geht über die Anprangerung bestimmter Verhaltensmuster wie Trennung4, Märtyrertum und Opfer, Hierarchien usw. hinaus. Wenn auf diese Themen Bezug genommen wird, dann nicht, um sie zu psychologisieren, sondern um zu versuchen, eine mehr oder weniger tief gehende Analyse der Beziehung zwischen diesen typischen militanten Verhaltensweisen, der Organisation der Militanten und dem System der merkantilen Produktion5 vorzunehmen. Nur so können wir herausfinden, was die militante Rolle mit ihrer – unumstößlichen – konterrevolutionären Funktion verbindet.
Dass sich dieses Pamphlet im Übrigen nicht auf eine spöttische Anklage beschränkt, wie sie im Pamphletformat üblich ist, sondern eine umfassende Kritik der Militanz zu vermitteln sucht, ist nicht zu verachten, es ist kein Nebenaspekt des Textes. Die Notwendigkeit zu erklären, was Militanz ist, und nicht nur eine Ablehnung ihrer Gestalt zu vermitteln, offenbart die wahre Absicht dieses Textes. Das Flugblatt ist also nicht nur ein Anathema gegen die Militanz, das geschrieben wurde, um einem unbestimmten Leser eine verurteilende Haltung ihr gegenüber zu vermitteln. Dieser Text wurde mit einer performativen Absicht geschrieben, die bei der Lektüre nicht außer Acht gelassen werden sollte. Diejenigen, die ihn geschrieben haben, hatten die Auflösung derselben Gruppierung im Sinn, die ihn unterzeichnet, aber vor allem das Ziel, dass diese Auflösung zu einer Überwindung der Militanz und nicht zu neuen militanten Gruppierungen führen sollte. Ohne einfach eine ästhetische Ablehnung einer bestimmten Form von Militanz zu erzeugen, muss dieser Text erklärend sein und auf die Wurzel der Militanz hinweisen, um sie unabhängig von den möglichen Formen, die sie im Laufe der Geschichte annehmen kann, bekämpfen zu können.
Hier ist eine kurze Abschweifung angebracht. Es gibt einen zweiten Teil dieses Pamphlets, oder besser gesagt, einen Text, der 1975 veröffentlicht wurde und ebenfalls von der Organisation des Jeunes Travailleurs Revolutionnaires (Organisation junger revolutionärer Arbeiter) unterzeichnet ist, mit dem Titel „Die Militanz, höchstes Stadium der Entfremdung: Fortsetzung“. Ich hatte vor, beide Teile zusammen zu veröffentlichen, habe mich aber dagegen entschieden. Der Grund dafür ist, dass dieser zweite Teil, der von denjenigen verfasst wurde, die nach 1972 beschlossen, in der Organisation zu bleiben, nicht nur nicht dasselbe Thema behandelt, sondern auch einen völlig anderen Ansatz verfolgt. Obwohl die Autoren des Textes behaupten, in den allgemeinen Aspekten der Kritik an der Militanz, d.h. ihrer miserablen Form, übereinzustimmen, unterscheiden sie sich darin, dass sie die OJTR als eine Organisation von Militanten betrachten und den Verfassern des Originaltextes vorwerfen, den Feinden ihrer Organisation geholfen zu haben. Dieser vermeintliche zweite Teil ist jedoch das einzige Material, das reich an Erklärungen zum Kontext der fraglichen Veröffentlichung ist, und da es praktisch keine weiteren Informationen über die tatsächlichen Verfasser gibt, ist ein Großteil des Folgenden daraus entnommen.
Kehren wir zum praktischen Ziel dieses Textes zurück, d. h. zu dem konkreten Zweck, den seine Verfasser zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung verfolgten. Als diese Broschüre 1972 zum ersten Mal verteilt wurde, gab es in einigen Straßen von Paris noch Schlaglöcher im Kopfsteinpflaster. Die meisten Graffiti des französischen Mai waren noch nicht entfernt worden, und das gesellschaftliche Klima ließ vermuten, dass sie wahrscheinlich nur durch neue Graffiti überdeckt werden würden. Auch wenn die Ereignisse von 1968 für diejenigen, die daran teilgenommen hatten, noch in frischer Erinnerung waren, so waren die Misserfolge bei den Wahlen desselben Jahres ebenso wie die von 1969 in den Führungsspitzen der Linksparteien präsent. Eine dieser Parteien, die PSU (Sozialistische Einheitspartei), beschloss angesichts dieser Misserfolge, eine Organisation zu gründen, um ihre Jugend, d. h. die wachsende Zahl von Militanten, die sich in diesen Jahren angeschlossen hatten, zu vereinen. So wurde 1970 die OJTR geboren.
Eine Sache ist bemerkenswert, die unbemerkt bleiben könnte, wenn man diesen Schritt aus dem typischen linken Blickwinkel unserer Zeit analysiert. Die Schaffung einer Jugendbewegung war nicht nur ein Marketingmanöver, um mehr Militante anzuziehen. Sie diente nicht ausschließlich dem Zweck, den eine Satellitengruppe von Jugendlichen, Frauen oder Umweltschützern heute in Bezug auf ihre Partei erfüllen könnte. Es ist wichtig zu bedenken, dass in diesen Jahren viele Organisationen verboten waren und ihre Militante begonnen hatten, Vollversammlungen zu instrumentalisieren, indem sie Strategien des Entrismus6, falsche Flaggen usw. verwendeten. Während die Wahlorganisationen versuchten, sich ein Image zu verschaffen, das ihnen mehr Stimmen einbringen würde, brauchten viele linksextreme Organisationen ein solches Image nicht und zogen es vor, innerhalb anderer Organisationen zu operieren und diese als Mittel für ihre eigene revolutionäre Machtergreifung zu nutzen. In diesem Zusammenhang wollte das OJTR eine Vorstufe zur Kooptation sein, aber vor allem eine selbstverwaltete Sicherung, die gleichzeitig von der Partei abhängig war.
Gleichzeitig sahen die anführenden Fraktionen der PSU, die untereinander tief zerstritten waren, das OJTR als neues Feld für interne Streitigkeiten. Während einige Parteien der Gründung einer Jugendorganisation durch die PSU eher zurückhaltend gegenüberstanden, wurden diese Bedenken bald zerstreut:
„Es gibt einen berechtigten Verdacht gegenüber der PSU, was den Umgang mit der Frage der jungen Arbeiter angeht: dass die Partei es zulässt, dass eine Organisation gegründet wird, die militante und materielle Kräfte investiert, und dann zusieht, wie sich die Organisation in eine Kleinstpartei von jungen Leuten verwandelt, die die Partei von innen oder außen bekämpfen. Aber heute hat dieser Einwand seinen Wert verloren, weil die PSU mit einer Reihe von kohärenten Positionen zu den Thesen von Dijon ausgestattet ist, die sich auf den wissenschaftlichen Sozialismus als einzigen Weg zur Auseinandersetzung mit linken Ideologien und Utopien stützen.“
Direktiven Nr. 199. 1970 Internes Bulletin der PSU (aus militantisme, stage supreme de la alienation, suite).
Sie irrten sich. Trotz ihrer räteorientierten, selbstverwaltenden und wählerischen Ideologie (die PSU würde sich den Slogan „die PSU zu wählen, bedeutet, sich für die Selbstverwaltung zu entscheiden“ zu eigen machen), oder besser gesagt, dank ihres fehlenden Radikalismus, würde die OJTR stark von dem intellektuellen und politischen Umfeld nach dem französischen Mai beeinflusst werden. Die Arbeiterräte, die kommunistische Linke und ganz allgemein die um die Buchhandlung La Vieille Taupe („Der alte Maulwurf“) entwickelten Ideen sollten diese militante Organisation zunehmend beeinflussen. Die Thesen von Dijon konnten die Radikalisierung der OJTR nicht aufhalten, die sehr schnell autonom wurde und begann, die PSU anzugreifen. Und mit angreifen meine ich nicht verbal kritisieren. Kurz vor der Veröffentlichung dieses Pamphlets entführten Mitglieder des OJTR (siehe Fußnote 15, S.) M.M. Simon und Guéneau, ersterer ein geheimes Mitglied der nationalen politischen Führung, letzterer verantwortlich für den „Ordnungsdienst“. Wie die OJTR in ihrem Flugblatt von 1975 schreibt, richtete sich dieser Staatsstreich, wie auch andere gegen die PSU, gegen das bürokratische Verhalten bestimmter Parteimitglieder (und ganz allgemein gegen die Partei selbst). Aber es scheint, dass der Kern des Ganzen ein Streit über bestimmte finanzielle und infrastrukturelle Ressourcen war.
In diesem Zusammenhang wurde der Beschluss gefasst, eine Broschüre herauszugeben, in der die militanten Organisationen kritisiert werden sollten. Die OJTR musste diese Angriffe ideologisch legitimieren. Offensichtlich glaubten einige Mitglieder des OJTR, dass die PSU „an der Wurzel“, d.h. in ihrer Organisationsform, angegriffen werden könnte, indem man die Dichotomie zwischen der militanten Organisation und den Arbeiterräten aufstellt. Diejenigen, die die Aufgabe übernommen haben, diese Kritik zu verfassen, hatten jedoch keine Skrupel, auch die militanten Praktiken ihrer eigenen Organisation zu kritisieren.
Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die revolutionäre Kritik die Systematisierung der Selbstkritik sein kann (und in der Regel auch ist), die, gerade weil sie richtig systematisiert ist, am Ende ihre Form der internen Kritik verliert und zur Universalisierung wird. Ich denke, es ist äußerst wichtig, Die Militanz… in diesem Licht zu lesen, d.h. mit dem Gedanken, dass man ein Stück praktischer Kritik liest, das das konkrete Ziel hat, die eigene militante Aktivität in einem bestimmten historischen Kontext zu zerstören. Nur so kann man das, was auf diesen Seiten gesagt wird, richtig bewerten und verstehen, dass es nicht darauf ankommt, wo die Wurzel des Problems liegt, und auch nicht darauf, was sie als Lösung vorschlagen, sondern dass sie einen Beitrag zur Kritik der Praktiken leisten, die wir weiterhin angreifen müssen.
Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung (1972)
Der Text wurde 1972 in Frankreich von der Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires (OJTR) erstmals veröffentlicht.
Die OJTR formierte sich in den frühen 1970er Jahren. Zu Beginn war sie von der Situationistischen Internationalen inspiriert, obwohl sie später ein Pamphlet veröffentlichte, das eine lange Kritik derselben enthielt. (Die Einfluss der SI zeigt sich im Text. In der Entwicklung des Konzepts der Militanz erscheinen Themen, die man in manchen situationistischen Texten findet und der Einfluss der SI zeigt sich auch im Konzept der Räteorganisation in den letzten Absätzen.) Danach war die OJTR vom Linkskommunismus beeinflusst, im speziellen von der Mischung von deutschen und italienischen linkskommunistischen Ideen, die vom Milieu rund um die Buchhandlung La Vieille Taupe entwickelt wurden, auch die Gruppe le mouvement communiste kam aus diesem Milieu.
Die Gruppe produzierte auch Texte unter dem Namen Quatre millions de jeunes travailleurs [Vier Millionen junge Arbeiter], der Name einer 1971 gegründeten Jugendpublikation des PSU (Parti socialiste unifié – eine kleine französische linkssozialistische Partei). Die OJTR organisierte 1974 eine nationale Konferenz (welche in einem Artikel der La Banquise als gescheitert beschrieben wird) und verschwand kurz darauf. (Es ist angemessen, sich zu fragen, wie weit die OJTR die Kritik der Militanz auf sich selber anwendete.) Von den Überresten der Gruppe kam der Text „Un monde sans argent: le communisme“ [Eine Welt ohne Geld: der Kommunismus], der als dreiteiliges Pamphlet zwischen 1975 und 1976 von Les amis de 4 millions de jeunes travailleurs [„Die Freunde von den vier Millionen jungen Arbeitern“] veröffentlicht wurde.
Einführung II
Dieser Text von 1972 wurde viele Male neu veröffentlicht. Die im Internet kursierende Version (der ersten Broschüre), die von Website zu Website kopiert wurde, ist leider mit kleineren Fehlern und, was noch schwerwiegender ist, mit Lücken behaftet. Ich habe mir eine Kopie der Originalversion zum Vorbild genommen (Dank an Frédéric vom Internationalen Zentrum für Anarchismusforschung in Lausanne für seine schnelle und effiziente Hilfe).
Ihre Lektüre ist undenkbar ohne die hier (in der Fortsetzung!) veröffentlichte, fast unbekannte Broschüre, die zwei Jahre später erschien und ihre Entstehung erklärt.
Sie wurde im Februar 2010 neu veröffentlicht (Parrhèsia/Éditions du Sandre). Einer der Anhänge, der den Verfasser eines weiteren kritischen Textes der linken Militanz betrifft, wird hier separat veröffentlicht.
Einleitung (zur französischen Wiederveröffentlichung)
Le Militantisme, stade suprême de l’aliénation (Die Militanz, die höchste Stufe der Entfremdung), 1972 veröffentlicht, ist zweifellos der bekannteste und am häufigsten reproduzierte Text der Kritik an linker Militanz (auch wenn er alle angreift). Zumindest in seiner ersten Fassung. Die Fortsetzung, die zwei Jahre später unter dem gleichen Titel veröffentlicht wurde, ist weit weniger bekannt. Sie hat jedoch den Vorteil, den Ort und die Umstände zu erklären, unter denen die erste geschrieben und verbreitet wurde, und den Erfolg, den sie hatte. Sie ermöglicht es auch, nachträgliche Spekulationen über das Scherzhafte der Unterzeichnung des OJTR (Organisation junger revolutionärer Arbeiter) oder die anschließende Neufassung der Texte zu unterbinden. Der vollständige Text dieser beiden Broschüren ist auf den folgenden Seiten zu finden.
Materiell umfasst die erste Broschüre 24 Seiten, 21 x 14,7 cm. Es enthält viele Illustrationen: eine Zeichnung von Barbe, die eine junge Nonne mit geschlossenen Augen darstellt (S. 4); ein Ganzfigurenporträt des Mao mit folgender Bildunterschrift: „Dieses Gemälde stellt den jungen Mao auf dem Weg nach Anyuan dar. Eine seiner zahllosen Reproduktionen ging im Vatikan verloren und wurde eine Zeit lang von einem gutgläubigen Kleriker, der sie mit einem Missionsstich verwechselt hatte, in einem päpstlichen Wartezimmer aufgehängt“ (Simon Leys, Les Habits neufs du président Mao) (S. 5); ein Werbeplakat für das Buch Militer von Eugène Descamps, Generalsekretär der CFDT, zu dem ein Stier sagt: „…und ein bisschen Selbstverwaltung, um unsere jungen Militanten einen Ständer kriegen zu lassen.“(S. 9); eine Zeichnung von Pichard, die Monster zeigt, die zwei schöne nackte junge Frauen festhalten. „Rekuperation: die Militanten machen ihre Drecksarbeit!“ sagt die Legende (S. 10); eine andere Zeichnung von Pichard, zwei junge Sirenen in Ketten, die von Raoul Vaneigem entlehnte Sätze sagen: „Diejenigen, die von Revolution sprechen, ohne sich ausdrücklich auf das tägliche Leben zu beziehen […] haben eine Leiche im Mund“ (S. 12); ein Gipfeltreffen zwischen Trotzki und Mao (eine entführte Zeichnung von Hugo Pratt?), der erste Ausspruch „Was für ein Idiot ist Krivine!“ (S. 15); eine Zeichnung von Pichard, die einen bärtigen alten Mann darstellt, mit der Bildunterschrift: „Karl Marx sagt uns:“. Die Seifenblase: „Wenn ich daran denke, dass sie versuchen, meinen Namen in alle ihre Salate zu mischen, muss ich kotzen“ (S. 19); Chinesische Werbung für Seifen, vgl. infra (S. 21); eine Zeichnung von Pichard, die einen spöttischen Soldaten mit einer Blume auf dem Helm darstellt: „Ein Militanter vor mir [,] was mache ich da?“ (p. 23).
Die zweite Broschüre ist im Format 15 x 21 cm, 14 schlecht gedruckte Seiten, in sehr kleiner Schrift, auf Streifen von damaligem Computerpapier, mit der Lochreihe oben auf der Seite. Der Einband auf einem anderen Papier, ohne Löcher und lachsfarben, trägt zuerst den Titel, dann den Anfang und das Ende des Textes; auf der Rückseite des Einbandes befindet sich eine Zeichnung von Cardon (dessen Unterschrift nicht erscheint), die einen sitzenden Mann darstellt, der die Kette malt, die seine Knöchel verbindet, mit einem Pinsel in der einen Hand und einem Farbtopf in der anderen. Keine rechtliche Erwähnung. Die erste Broschüre wurde für 2 Francs, die zweite für 3 Francs verkauft.
Der Titel des Textes ist eine Nachahmung Lenins – „Der Imperialismus als höchste Stadium des Kapitalismus“ (1917) -, die das Vorhandensein eines Porträts des großen Mannes erklärt, das in der linken oberen Ecke des Vorderdeckels (1972) schabloniert ist und den damals vom Pekinger Regime in französischer Sprache veröffentlichten Flugschriften entlehnt wurde. Neben dem Titel und der Erwähnung des OJTR steht auf dem Umschlag die folgende Formel: „Der Revolutionär ist für den Militanten, was der Wolf für das Lamm ist“.
In der Präsentationsbroschüre für den Nachdruck von Lordstown 1972, einer weiteren Broschüre, die vom OJTR (wenn auch nach dessen Auflösung) unterzeichnet wurde, erklärt Dominique Blanc, dass einige Mitglieder des OJTR, darunter er selbst, an der Gründung der Gruppe und der Zeitschrift La Guerre sociale7 mitwirken werden.
Von historischem Interesse dokumentiert der Text die polemische, weitgehend vom Situationismus inspirierte Ablehnung einer von den religiösen Werten des Opfers und der Nächstenliebe durchdrungenen Militanz, der man sowohl in marxistisch-leninistischen als auch in libertären Gruppen auf einen traf- und begegnete. Wenn diese Kritik relevant bleibt, zum Beispiel im Hinblick auf den „humanitären“ Aktivismus zur Unterstützung undokumentierter Ausländer, wäre es von Vorteil, mit Formen des kollektiven Handelns konfrontiert zu werden, die das christliche Erbe sowie militärische und hierarchische Organisationsformen ablehnen, sei es das Repertoire der praktizierten Aktionen8 oder die Form der Gruppierung selbst. Ich denke dabei an die „Vollversammlungen“, die sich während der Arbeitslosenbewegung im Winter 1997-1998 an der Universität Jussieu9 oder nach den Unruhen in den Vorstädten 2005 in Montreuil trafen.
Diejenigen, die sich weigern, die kapitalistische Ausbeutung als Todesopfer zu akzeptieren, werden durch die Nutzung ihrer eigenen Erfahrungen in der Lage sein, ein Werk kritischer Ausarbeitung zu verfassen, das über die Ambition dieser kurzen Präsentation hinausgeht. Wenn das nicht gelingt, könnte dieser Text genauso gut dienen – das tut er seit vierzig Jahren! – um eine verbitterte und verächtliche Unbeweglichkeit zu rechtfertigen. Das ist die oberste Stufe der Unterwerfung.
Claude Guillon
Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung (I)
Der Revolutionär steht zum Militanten wie der Wolf zum Schaf.
Nach den Besetzungen im Mai 68 entwickelte sich links von der Kommunistischen Partei und der CGT10 ein Ensemble von kleinen Organisationen, die sich auf den Trotzkismus, den Maoismus und den Anarchismus beriefen. Trotz der geringen Zahl von Arbeiter, die sich ihnen angeschlossen haben, erheben sie gegen die traditionellen Organisationen den Anspruch der Kontrolle der Arbeiterklasse, als deren Avantgarde sie sich proklamieren.
Die Lächerlichkeit ihrer Vermessenheit kann einem zum Lachen bringen, doch darüber zu lachen, reicht nicht. Man muss weitergehen, verstehen, weshalb die moderne Welt diese extremistischen Bürokratien hervorbringt und den Schleier ihrer Ideologie zerreissen, um ihre wahre historische Rolle zu entdecken. Die Revolutionäre müssen sich so weit möglich von diesen linken Organisationen abgrenzen und zeigen dass, weit davon entfernt, die Ordnung der alten Welt zu bedrohen, die Aktion dieser Gruppen im besten Fall höchstens zu ihrer Wiederaufbereitung führen kann. Mit der Kritik an ihnen zu beginnen, bedeutet der revolutionären Bewegung, die sie, unter der Drohung, von ihnen liquidiert zu werden, liquidieren werden muss, den Boden zu bereiten.
Der erste Ansatz, der einem in den Sinn kommt, ist es, ihre Ideologie anzugreifen, den Archaismus oder den Exotismus derselben aufzuzeigen (von Lenin zu Mao) und die Verachtung der Massen, die sich unter ihrer Demagogie versteckt, ans Licht zu bringen. Doch das wird schnell langweilig, wenn man in Betracht zieht, dass es eine Unzahl von Organisationen und Tendenzen gibt, denen die Behauptung ihrer kleinen ideologischen Originalität am Herzen liegt. Andererseits bedeutet es, sich auf ihr Terrain zu begeben. Eher noch als ihre Ideen, ist es angemessen die Aktivität anzugreifen, die sie im „Dienst ihrer Ideen“ an den Tag legen: der MILITANZ.
Wenn wir die Militanz global angreifen, bedeutet das nicht, dass wir die Aktivität zwischen den verschiedenen Organisationen existierenden Unterschiede verneinen. Doch wir denken, dass trotz und sogar wegen ihrer Wichtigkeit, diese Unterschiede nur klar erklärt werden können, wenn man die Wurzel der Militanz angreift. Die diversen Arten um militant zu sein sind nur voneinander abweichende Antworten zu einem gleichen grundlegenden Widerspruch, für welchen niemand die Lösung hat.
Indem wir uns im Lager jener positionieren, deren Kritik die Aktivität der Militanten zur Grundlage nimmt, unterschätzen wir nicht die Rolle der Ideen in der Militanz. Es geht einfach darum, dass es, vom Moment an, wo diese Ideen vorangestellt werden, ohne mit der Aktivität verbunden zu sein, wichtig ist, zu wissen, was sie verstecken. Wir werden die Kluft zwischen ihnen zeigen, wir werden die Ideen mit der Aktivität verbinden und den Einfluss der Aktivität auf die Ideen ans Licht bringen: Hinter der Lüge die Wirklichkeit des Lügners finden, um die Wirklichkeit der Lüge zu verstehen.
Wenn auch die Kritik und die Verurteilung der Militanz eine notwendige Aufgabe der revolutionären Theorie ist, so kann sie doch nur vom „Standpunkt“ der Revolution erfolgen. Die bürgerlichen Ideologien können die Militanten als gefährliche Gauner, als manipulierte Idealisten behandeln oder ihnen den Rat geben, ihre Zeit mit Arbeiten oder Ferien zu verbringen; sie können jedoch die Militanz nicht in seiner Tiefe angreifen, denn das ist gleichbedeutend mit der Tatsache, das Elend aller Aktivitäten, welche die moderne Gesellschaft erlaubt, ans Licht zu bringen. Wir verstecken unsere Voreingenommenheit nicht, unsere Kritik wird nicht „von allen Standpunkten aus objektiv und gültig“ sein.
Diese Kritik der Militanz ist untrennbar mit dem Aufbau revolutionärer Organisationen verbunden, nicht nur weil die Organisationen der Militanten ununterbrochen bekämpft werden müssen, sondern auch weil der Kampf gegen die Tendenz zur Militanz auch innerhalb revolutionärer Organisationen geführt werden muss. Dies wohl, weil diese Organisationen, zumindest am Anfang, häufig zu einem beträchtlichen Teil aus „reuigen“ ehemaligen Militanten bestehen, doch auch weil die Militanz sich auf die Entfremdung von jedem von uns stützt. Die Entfremdung verschwindet nicht wie von Zauberhand und die Militanz ist die charakteristische Falle, die die alte Welt den Revolutionäre stellt.
Was wir von den Militanten sagen, ist hart und unwiderruflich. Wir sind tatsächlich zu keinem Kompromiss mit ihnen bereit, es sind nicht Revolutionäre oder Halbrevolutionäre, die sich irren, sondern Leute, die unter der Revolution bleiben. Doch das bedeutet überhaupt nicht 1. dass wir uns von dieser Kritik ausschliessen, wenn wir klar und deutlich sein wollen, so ist es zuerst uns selbst gegenüber, und 2. dass wir den Militanten als Individuum verurteilen und aus dieser Verurteilung eine moralische Angelegenheit machen. Es geht nicht darum, in die Trennung zwischen Guten und Bösen zurückzufallen. Wir unterschätzen die Versuchung des „je mehr ich über die Militanten fluche, desto eher beweise ich, dass ich keiner bin und vor der Kritik sicher bin“ nicht.
DER MASOCHISMUS
Strengen wir uns an, die Langeweile zu überwinden, welche die Militanten natürlicherweise verbreiten. Beschränken wir uns nicht darauf, die Phrasendrescherei ihrer Pamphlete und Diskurse zu entschlüsseln. Prüfen wir sie hinsichtlich der Gründe, welche sie zur Militanz gebracht haben. Es gibt keine Frage, die für einen Militanten unangenehmer sein könnte. Im schlimmsten Fall werden sie mit endlosem Geschwätz über das Elend der Kinder in der dritten Welt, die Splitterbomben, die Preiserhöhung, die Repression anfangen. Im besten Fall werden sie erklären, dass, bevor sie sich der wahren Natur des Kapitalismus bewusst geworden sind – sie hängen stark an dieser berühmten „Einsicht“ –, sie sich entschieden haben, für eine bessere Welt zu kämpfen, für den Sozialismus (den richtigen, nicht den anderen). Ganz enthusiastisch von diesen begeisternden Perspektiven konnten sie nicht widerstehen, sich auf die Bedienung des nächsten Kopiergerät zu stürzen. Versuchen wir, die Frage zu ergründen und richten wir unseren Blick nicht mehr auf das, was sie sagen sondern auf das, was sie leben.
Es besteht ein enormer Widerspruch zwischen dem, was sie zu wünschen behaupten, und dem Elend und der Ineffizienz ihres Tuns. Die Mühe, zu welcher sie sich zwingen, und die Dosis von Langeweile, die sie bereit sind auszuhalten, lassen nicht den geringsten Zweifel: Diese Leute sind allen voran Masochisten. Abgesehen davon, dass man in Anbetracht ihrer Aktivität nicht glauben kann, dass sie tatsächlich ein besseres Leben wünschen, ist ihr Masochismus überhaupt nicht originell. Falls einige Perverse eine Fantasie haben, welche die Armut der Regeln der alten Welt ignoriert, so ist das sicher nicht der Fall für die Militanten! Sie akzeptieren in ihren Organisationen die Hierarchie und kleine Chefs, obwohl sie behaupten, die Gesellschaft davon befreien zu wollen, und die Energie, die sie aufwenden, richtet sich spontan nach der Form der Arbeit aus. Denn der Militante ist Teil jener Art von Leuten, für welche acht bis neun Stunden tägliche Verblödung nicht genug sind.
Wenn die Militanten versuchen, sich zu rechtfertigen, bringen sie es höchstens fertig, ihre mangelnde Vorstellungskraft zur Schau zu stellen. Sie können nichts anderes konzipieren, eine andere Form der Aktivität, als das, was aktuell existiert. Für sie sind die Trennung zwischen dem Ernsten und dem Amüsanten, den Mitteln und den Zwecken nicht mit einer gewissen Epoche verbunden. Es sind ewige und unüberwindbare Kategorien: Wir werden später nur glücklich sein können, wenn wir uns jetzt aufopfern. Die Aufopferung ohne Belohnung von Millionen von militanten Arbeiter, Generationen der stalinistischen Epoche ändert in ihren kleinen Köpfen überhaupt nichts. Sie sehen nicht, dass die Mittel die Zwecke bestimmen und dass sie, indem sie heute akzeptieren, sich aufzuopfern, die Aufopferungen von morgen vorbereiten.
Die Ähnlichkeiten zwischen der Militanz und der religiösen Aktivität sind frappant. Man findet die gleichen psychologischen Haltungen: Opferbereitschaft, aber auch Unnachgiebigkeit, Wille zur Bekehrung, Unterwerfungsbereitschaft. Diese Ähnlichkeiten können auf die Domäne der Riten und der Zeremonien ausgedehnt werden: Predigten über die Arbeitslosigkeit, Prozessionen für Vietnam, Referenzen zu den heiligen Texten des Marxismus-Leninismus, Kult der Embleme (rote Fahnen). Schliesslich haben die politischen Kirchen auch ihre Propheten, ihre grossen Priester, ihre Bekehrten, ihre Ketzereien, ihre Glaubensspaltungen, ihre Praktikanten-Militanten und ihre Nicht-Praktikanten-Sympathisanten! Doch die revolutionäre Militanz ist nur eine Parodie der Religion. Der Reichtum, die Demenz, die Masslosigkeit der religiösen Projekte liegt ihm fern; er strebt nach dem seriösen, will vernünftig sein, er glaubt im Gegenzug ein Paradies hier auf Erden zu gewinnen. Sogar das ist ihm verwehrt. Jesus Christus ist wieder auferstanden und zum Himmel aufgefahren, Lenin verrottet auf dem Roten Platz.
Wenn auch der Militante betreffend der Offenherzigkeit seiner Illusionen mit dem Gläubigen verglichen werden kann, so ist es doch angemessen, ihn ganz anders zu betrachten in Bezug auf seine wirkliche Haltung. Die Aufopferung der Karmeliterin, die sich einsperrt, um für das Heil der Seelen zu beten, hat sehr beschränkte Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Ganz anders verhält es sich mit dem Militanten. Seine Aufopferung hat unter Umständen fatale Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft.
DER AUFSTIEGSWUNSCH
Die Militante spricht viel von den Massen. Sein Handeln ist auf sie ausgerichtet. Es geht darum, sie zu überzeugen, sie zur „Einsicht“ zu bringen. Doch der Militante ist von den Massen und ihren Möglichkeiten zur Revolte getrennt. Und dies weil er von SEINEN EIGENEN WÜNSCHEN GETRENNT ist.
Der Militante spürt die Absurdität der Existenz, die man uns auferlegt. Indem er sich für die Militanz „entscheidet“, versucht er, eine Lösung für die Diskrepanz zu finden, die zwischen seinen Wünschen und seinen wirklichen Lebensmöglichkeiten existiert. Es ist eine Reaktion gegen seine Proletarisierung, gegen das Elend seines Lebens. Doch er engagiert sich in einer Sackgasse.
Obwohl er unzufrieden ist, ist der Militante unfähig, sich zu seinen Wünschen zu bekennen und sich mit ihnen zu konfrontieren. ER SCHÄMT SICH IHRER. Das führt dazu, dass er den Aufstieg seiner Wünsche mit dem Aufstiegswunsch ersetzt. Aber seine Schuldgefühle sind derartig, dass er nur einen hierarchischen Aufstieg im Rahmen des Systems ins Auge fassen kann oder eher nur bereit ist, für einen guten Platz zu kämpfen, wenn er gleichzeitig die Garantie hat, dass es nicht für ihn selbst ist. Seine Militanz erlaubt es ihm, sich zu erheben, sich auf einen Sockel zu stellen, ohne dass dieser Aufstieg für ihn selbst und die anderen als das erscheint, was er ist. (Letztendlich ist der Papst auch nur der Diener der Diener Gottes!)
Sich in den Dienst seiner Wünsche zu stellen, bedeutet überhaupt nicht, in sein Schneckenhaus zu flüchten und hat nichts mit kleinbürgerlichem Individualismus zu tun. Das kann im Gegenteil nur durch die Zerstörung des egoistischen Panzers geschehen, in welchem uns die bürgerliche Gesellschaft einschliesst, und durch die Entwicklung einer wahren Klassensolidarität. Der Militante, der von sich behauptet, sich in den Dienst des Proletariats zu stellen („Die Arbeiter sind unsere Meister“, Geismar11), stellt sich einzig und allein in den Dienst der Idee, welche er von den Interessen des Proletariats hat. Durch einen nur anscheinenden Widerspruch hilft man also wirklich den anderen auf einer Klassenbasis, indem man sich wirklich in den Dienst seiner selbst stellt, und indem man sich in den Dienst der anderen stellt, beschützt man eine persönliche hierarchische Position.
Militanz auszuüben bedeutet, nicht die Transformation seines alltäglichen Lebens anzustreben, nicht direkt gegen das, was unterdrückt, zu revoltieren, sondern im Gegenteil dieses Terrain zu meiden. Dieses Terrain ist jedoch das einzig revolutionäre, wenn man weiss, dass unser alltägliches Leben vom Kapital kolonisiert und von den Gesetzen der Warenproduktion bestimmt ist. Indem er sich politisiert, sucht der Militante eine Rolle, die ihn über die Massen erhebt. Ob dieses „Darüber“ die Form von „Avantgardismus“ oder „Pädagogismus“ annimmt, ändert nichts an der Sache. Er ist schon nicht mehr der Proletarier, der nichts anderes als seine Illusionen zu verlieren hat; er hat eine Rolle zu verteidigen. In Zeiten der Revolution, wenn alle Rollen unter dem Druck des Wunsches, hemmungslos zu leben, ins Wanken geraten, ist die Rolle des „bewussten Revolutionärs“ jene, welche am besten überlebt.
Durch die Militanz gibt er seiner Existenz Gewicht und seinem Leben einen Sinn. Doch er findet diesen Sinn nicht in sich selbst, in der Wirklichkeit seiner Subjektivität, sondern in der Unterwerfung unter äussere Notwendigkeiten. Genau wie er bei der Arbeit den Regeln, die er nicht kontrollieren kann, unterworfen ist, gehorcht er als Militanter den „Notwendigkeiten der Geschichte“.
Natürlich kann man nicht alle Militante in den gleichen Korb werfen. Alle sind nicht gleich schwer erkrankt. Man findet unter ihnen einige Naive, die auf Abwege geraten sind, da sie nicht wissen, was mit ihrer Freizeit anstellen, sie sind angetrieben von der Einsamkeit und getäuscht durch die revolutionäre Phrasendrescherei; sie werden den erstbesten Vorwand zum Anlass nehmen, sich auf und davon zu machen. Der Kauf eines Fernsehers, die Begegnung mit der Seelenverwandten oder die nötigen Überstunden, um das Auto zu zahlen, dezimieren die Ränge der Armee der Militanten!
Die Gründe, die einem zur Militanz bewegen, sind alt. Im Grossen und Ganzen sind es die gleichen für syndikalistische, katholische oder revolutionäre Militante. Das Wiederaufkommen eines revolutionären Massenmilitanz hat mit der aktuellen Krise der Warengesellschaften und der Rückkehr des alten revolutionären Maulwurfs zu tun. Die Möglichkeit einer sozialen Revolution scheint gut genug, dass die Militanten auf sie setzen. All das wird durch das Zusammenbrechen der Religionen verstärkt.
Der Kapitalismus braucht keine religiösen Belohnungssysteme mehr. Er hat seine Reife erreicht und braucht nicht mehr zusätzliches Glück im Jenseits zu offerieren, sondern er offeriert alles Glück hier auf Erden, durch den Konsum von materiellen, kulturellen und spirituellen Waren (die metaphysische Furcht verkauft sich gut!) Von der Geschichte überholt können die Religionen und ihre Gläubigen nur noch zur sozialen Aktion übergehen – oder zum Maoismus.
Die linke Militanz betrifft vor allem gesellschaftliche Kategorien auf dem Weg beschleunigter Proletarisierung (Gymnasiasten, Studenten, Lehrer, sozio-erzieherisches Personal…), welche nicht die Möglichkeit haben, konkret für kurzfristige Vorteile zu kämpfen und für welche die Tatsache, wirklich revolutionär zu werden, eine sehr tiefe persönliche Infragestellung voraussetzt. Der Arbeiter ist wesentlich weniger Komplize seiner gesellschaftlichen Rolle als der Student oder der Lehrer. Die Militanz ist für letztere eine Kompromisslösung, die ihnen erlaubt, sich für ihre schwankende gesellschaftliche Rolle einzusetzen. Sie finden in der Militanz eine persönliche Wichtigkeit, welche die Verschlechterung ihrer gesellschaftlichen Position ihnen verwehrte. Sich revolutionär zu nennen, sich mit der Transformation der gesamten Gesellschaft zu beschäftigten, erlaubt es, sich die Transformation seiner eigenen Bedingung und seiner persönlichen Illusionen zu ersparen.
In der Arbeiterklasse hat der Syndikalismus beinahe das Monopol der Militanz, sie erlaubt dem Militanten unmittelbare Befriedigungen und eine Position, deren Vorteile konkret messbar sind. Der Arbeiter, welcher von der Militanz angezogen ist, wird sich sehr wahrscheinlich des Syndikalismus zuwenden. Sogar die antisyndikalitischen Kampfkomitees tendieren dazu, zu einer neuen Art von Syndikalismus zu werden. Die politische Aktivität ist für die militanten Arbeiter nur die Fortsetzung der syndikalistischen Aktion. Die Militanz reizt den Arbeiter kaum, insbesondere die jungen Arbeiter, denn sie sind die hellsichtigsten Proletarier, was das Elend ihrer Arbeit im speziellen und jenes ihres Lebens im allgemeinen betrifft. In ihrer Gesamtheit schon wenig angezogen von den Syndikalismus sind sie es noch weniger von einem Linksradikalismus mit nebulösen Vorteilen.
Wenn im revolutionären Sturm die Herrschaft der Waren und des Konsums zusammenbricht, wird der Syndikalismus, dessen Ernsthaftigkeit auf der Forderung gründete, bereit sein, zur revolutionären Militanz überzugehen, um zu überleben. Er wird die extremistischsten Losungen übernehmen und viel gefährlicher sein als die linken Gruppen. Sieht man nicht jetzt schon nach Mai 68 wie die CFDT12 das Wort Selbstverwaltung mit ihrem neo-bürokratischen Kauderwelsch mischt!
DIE POLITISCHE ARBEIT
Die „freie“ Zeit, welche ihm seine beruflichen oder schulischen Verpflichtungen lassen, wird der Militante jener Aktivität widmen, welche er selbst „politische Arbeit“ nennt. Es müssen Flugblätter gedruckt und verteilt, Plakate erstellt und geklebt, Sitzungen gehalten, Kontakte geknüpft, Treffen vorbereitet werden…Doch es ist nicht diese oder jene Aktion, isoliert betrachtet, welche reicht, um die militante Arbeit zu charakterisieren. Die einfache Tatsache, ein Flugblatt zu schreiben mit dem Ziel, es zu drucken und zu verteilen, kann nicht an sich als militanter Akt betrachtet werden. Er ist ein Militanter, weil er Teil einer Aktivität ist, welche eine besondere Logik hat.
Da die Aktivität des Militanten nicht die Verlängerung seiner Wünsche ist, da sie einer ihm äusseren Logik gehorcht, ist sie mit der Arbeit vergleichbar. Genau wie der Arbeiter nicht für sich selbst arbeitet, kämpft der Militante nicht für sich selbst. Das Resultat seiner Aktion kann also nicht am Vergnügen gemessen werden, welche sie ihm verschafft. Es wird also an der Anzahl aufgewendeter Stunden, der Anzahl verteilter Flugblätter gemessen. Die Wiederholung, die Routine dominieren die Aktivität des Militanten. Die Trennung zwischen Ausführung und Entscheidung stärkt den Beamtenaspekt des Militanten.
Doch obwohl die Militanz mit der Arbeit vergleichbar ist, kann er nicht mit ihr gleichgesetzt werden. Die Arbeit ist jene Aktivität, auf welcher die herrschende Welt gründet, sie produziert und reproduziert das Kapital und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse; die Militanz ist nur eine zweitrangige Aktivität. Wenn auch das Resultat und die Effizienz der Arbeit definitionsgemäss nicht anhand der Befriedigung des Arbeiters messbar sind, so haben sie doch den Vorteil, wirtschaftlich messbar zu sein. Die Warenproduktion, durch ihre Währung und den Profit, erschafft Standards und Messinstrumente. Sie hat ihre Logik und ihre Vernunft, welche sie dem Produzenten und dem Konsumenten aufzwingt. Im Gegensatz dazu hat die Effizienz der Militanz, „das Fortschreiten der Revolution“, ihre Messinstrumente noch nicht gefunden. Ihre Kontrolle entwischt den Militanten und ihren Anführern. Natürlich angenommen, dass diese sich immer noch um die Revolution kümmern! Man ist also gezwungen, das produzierte und verteilte Material, die Rekrutierung, die ausgeführten Aktionen zu bilanzieren; was natürlich nie misst, was man behauptet, zu messen. Logischerweise führt das dazu, dass man glaubt, was messbar ist, sei ein Selbstzweck. Stellt euch den Kapitalisten vor, der, da er kein Mittel findet, um den Wert seiner Produktion zu bemessen, sich entscheidet, sich auf die Menge Öl zu stützen, welche seine Maschinen verbrauchen. Sehr schnell, unter dem Druck eifriger Vorarbeiter, würden die Arbeiter Öl in den Abfluss schütten, um die Produktion anzukurbeln. Unfähig, das angestrebte Ziel zu verfolgen, kann die Militanz nur die Arbeit nachäffen.
Indem sie sich bewusst auferlegen, die Arbeit zu imitieren, sind die Militanten nicht in der besten Position, um die einerseits durch die immer mehr verbreitete Verachtung jeglichen Zwangs und andererseits durch den Fortschritt des Wissens und der Technik eröffneten Perspektiven zu verstehen. Die Intelligentesten von ihnen machen gemeinsame Sache mit den Ideologien der modernistischen Bourgeoisie, um zu fordern, dass die Arbeitszeiten reduziert oder die widerliche Aktivität humanisiert wird. Sei es im Namen des Kapitals oder der Revolution, all diese Leute zeigen sich unfähig, eine Perspektive zu haben, die über die Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit, zwischen einer der Produktion und einer dem Konsum gewidmeten Aktivitäten hinausgeht.
Wir sind nicht aus natürlichen, sondern aus gesellschaftlichen Gründen zur Arbeit gezwungen. Arbeit und Klassengesellschaft gehen Hand in Hand. Der Meister will, dass der Sklave produziert, weil nur das produzierte aneigenbar ist. Die Freude, das Vergnügen, die einem irgendeine Aktivität bereiten kann, kann vom Kapitalisten nicht kapitalisiert, akkumuliert, in Geld gemessen werden, darum macht er sich nichts daraus. Wenn wir arbeiten, sind wir gänzlich einer Autorität, einem äußeren Gesetz unterworfen, unsere einzige Daseinsberechtigung ist das, was wir produzieren. Jede Fabrik ist eine Schutzgelderpressung, wo unser Schweiß und unser Leben aufgesogen werden, um in Waren verwandelt zu werden.
Die Arbeitszeit ist eine Zeit, während welcher wir nicht direkt unsere Wünsche befriedigen können, sondern sie opfern müssen, um auf die nachträgliche Entschädigung des Lohns zu warten. Es ist das genaue Gegenteil des Spiels, in welchem der Ablauf und der Rhythmus unserer Aktivität einzig und allein durch unser Vergnügen daran bestimmt werden. Wenn sich das Proletariat emanzipiert, wird es die Arbeit aufheben. Die Produktion der zu unserem biologischen Überleben notwendigen Lebensmittel wird nur noch ein Vorwand sein, um unsere Leidenschaften zu befreien.
DER SITZUNGSWAHN
Eine bedeutende Charakteristik der Militanz ist die an Sitzungen verbrachte Zeit. Lassen wir die den grossen Strategien gewidmeten Debatten beiseite: Wie sieht es aus mit unseren Genossen in Bolivien, wann kommt die nächste weltweite Wirtschaftskrise, gibt es Fortschritte im Aufbau der revolutionären Partei…Beschränken wir uns darauf, uns mit den die „alltägliche Arbeit“ betreffenden Sitzungen auseinanderzusetzen. Dort zeigt sich das Elend der Militanz vielleicht am besten. Einige hoffnungslose Fälle ausgenommen, beschweren sich die Militanten selbst, über die etlichen „Sitzungen, während welchen man nicht vorankommt“. Obwohl sich die Militanten gerne gegenseitig aufheizen, schaffen sie es nicht, nicht unter dem offensichtlichen Widerspruch zwischen einerseits ihrem Willen, zu handeln, andererseits der durch nutzlose Diskussionen, ausgangslose Debatten verlorenen Zeit zu leiden. Sie sind dazu verdammt, in einer Sachgasse festzustecken, denn sie hinterfragen den „Sitzungswahn“, ohne einzusehen, dass die ganze Militanz zur Debatte steht. Die einzige Möglichkeit, dem Sitzungswahn zu entfliehen, ist die Flucht in einen Aktivismus, der immer weniger mit der Wirklichkeit zu tun hat.
WAS TUN? WIE SICH ORGANISIEREN? Das sind die Fragen, welche den Sitzungen zu Grunde liegen und sie verursachen. Diese Fragen können allerdings nie geregelt werden, man kommt ihrer Lösung nie näher, denn wenn die Militanten sie sich stellen, stellen sie sie als von ihrem Leben getrennt. Die Antwort lässt auf sich warten, weil die Frage nicht von jenem gestellt wird, welcher die konkrete Lösung besitzt. Man kann sich während Stunden versammeln, sich das Hirn zermartern, der praktische Träger, welcher den Ideen fehlt, wird nicht plötzlich auftauchen. Während diese Fragen für das revolutionäre Proletariat Lappalien sind, weil sich ihm die Fragen der Aktion und der Organisation konkret stellen, werden sie zum PROBLEM für die Militante. Der Sitzungswahn ist die notwendige Ergänzung zum Aktivismus. Eigentlich ist die gestellte Frage immer folgende: Wie kann man mit der Massenbewegung verschmelzen, obwohl man von ihr getrennt bleibt? Die Lösung dieses Dilemmas ist, entweder wirklich mit den Massen zu verschmelzen, indem man die Wirklichkeit seiner Wünsche und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung wiederfindet, oder ihre Macht als Militante zu stärken, indem man sich auf der Seite der alten Welt gegen das Proletariat einreiht. Die wilden Streiks zeigen, dass das Risiko existiert!
In seinem Verhältnis zu den Massen reproduziert die Militanz seine inneren Makel, insbesondere seine Tendenzen zum Sitzungswahn. Man versammelt Leute und man zählt sie. Für einige wie z.B. die AJS13 wird die Tatsache, sich zu zeigen und zu zählen, sogar zum Gipfel der Aktion!
Diese Fragen der Aktion und der Organisation, die bereits von der wirklichen Bewegung getrennt sind, sind auch mechanisch untereinander getrennt. Die diversen Ausrichtungen des Linksradikalismus konkretisieren diese Trennung. Man findet auf der einen Seite mit den Maoisten der ehemaligen GP [Gauche prolétarienne – Proletarische Linke]14 den Pol der Aktion, auf der anderen mit den Trotzkisten der Ligue Communiste [Kommunistische Liga – Vorläufer der Ligue communiste révolutionnaire]15 den Pol der Organisation. Man fetischisiert entweder die Aktion oder die Organisation, um aus der Sackgasse herauszukommen, in welche die Militanz geraten ist, indem er von den Massen getrennt ist. Alle beschützen ihre bevorzugte Dummheit, indem sie sich über die Ausrichtung der konkurrierenden Gruppen lustig machen.
DIE BÜROKRATIE
Die Organisation der Militanten sind alle hierarchisiert. Einige Organisationen kaschieren das nicht, ja sie tendieren gar eher dazu, damit zu prahlen. Andere beschränken sich darauf, so wenig wie möglich davon zu sprechen. Einige kleine Gruppen schliesslich versuchen, es abzustreiten.
Genau wie sie die Arbeit reproduzieren oder eher nachäffen, brauchen die militanten Organisationen „Chefs“. Da sie ihre Einigung nicht auf konkreten Problemen aufbauen können, sind die Militanten natürlicherweise dazu verleitet, zu glauben, dass die Vereinheitlichung der Entscheidungen nur von der Existenz einer Führungsspitze kommen kann. Sie können sich nicht vorstellen, dass die gemeinsame Wahrheit vom spezifischen Willen, aus der Scheisse auszusteigen, hervorquellen kann, sie muss aufgeworfen und von oben auferlegt werden. Sie stellen sich darum notwendigerweise die Revolution als Zusammenstoss zweier hierarchisierter Staatsapparate vor, einer davon bürgerlich, der andere proletarisch.
Sie wissen nichts von der Bürokratie, ihrer Autonomie und der Art und Weise, wie sie innere Widersprüche auflöst. Der durchschnittliche Militante glaubt naiverweise, dass die Konflikte zwischen Anführern auf Ideenkonflikte reduziert werden können und dass, wenn man ihm sagt, dass eine Einheit existiert, sie tatsächlich existiert. Sein grosser Stolz ist es, die Organisation oder Tendenz erkannt zu haben mit DER guten Führungsspitze. Indem er sich dieser oder jener Clique anschliesst, übernimmt er ein System von Ideen wie man ein Kostüm anzieht. Da er davon nicht die geringste Grundlage überprüft hat, wird er bereit sein, alle Konsequenzen davon zu verteidigen und alle Einwände mit einem unglaublichen Dogmatismus zu beantworten. In einer Zeit, wo die Priester wegen der spirituellen Krise ein zerrissenes Herz haben, behält der Militante seinen Glauben.
Da die Militanz gezwungen war, der immer mehr verbreiteten Verachtung jeglicher Form von Autorität Rechnung zu tragen, hat er Sprösslinge einer neuen Art produziert. Einige Organisationen behaupten, sie seien keine, und, vor allem, verbergen ihre Führungsspitze. Die Bürokraten verstecken sich, um besser die Fäden ziehen zu können.
Einige traditionelle Organisationen versuchen, parallele Organisationsformen zu gründen, manchmal permanent, manchmal nicht. Sie hoffen, im Namen der „proletarischen Autonomie“ Leute, welche ihnen sonst entgangen wären, abzuholen oder zumindest zu beeinflussen.
Man kann die Rote Hilfe16, die OJTR17 und die Arbeiter- und Bauernversammlungen des PSU18 nennen…Einige unabhängige oder Satellitenzeitungen behaupten auch, sie drücken nur den Standpunkt der revolutionären Massen oder autonomer Basisgruppen aus. Nennen wir die Cahiers de Mai19, La technique en Lutte, L’outil des travailleurs…Dort, wo man sich weigert, klar die Organisations- und theoretische Fragen zu stellen unter dem Vorwand, die Stunde des Aufbaus der revolutionären Partei sei noch nicht gekommen oder im Namen einer Pseudo-Spontaneität („Wir sind keine Organisation, nur ein Zusammenschluss ehrlicher Typen, eine Gemeinschaft“, usw.), kann man sicher sein, dass man Bürokratie und sogar oft Maoismus antrifft. Der Trotzkismus hat den Vorteil, dass sein Organisationsfetischismus ihn dazu zwingt, Farbe zu bekennen; er vereinnahmt und sagt es auch. Der Vorteil des Maoismus (wir sprechen nicht vom reinen und prähistorisch stalinistischen Maoismus à la Humanité Rouge20) ist es, die Bedingungen zu seiner eigenen Überschwemmung zu erzeugen; indem er den Balancierkünstler der Vereinnahmung spielt, wird er zwangsläufig auf die Schnauze fallen.
OBJEKTIVITÄT UND SUBJEKTIVITÄT
Die Systeme von Ideen, welche die Militanten übernehmen, variieren je nach Organisation, doch sie sind alle aufgerieben von der Notwendigkeit, die Natur der Aktivität, die sie verstecken, und die Trennung von den Massen zu verbergen. Man findet im Zentrum von militanten Ideologien ebenfalls die auf mechanische und ahistorische Art und Weise konzipierte Trennung zwischen Objektivität und Subjektivität.
Der Militante, der sich dem Dienste am Volk verschreibt, obwohl er nicht bestreitet, dass seine Aktivität subjektiv motiviert ist, weigert sich, dieser Tatsache eine Bedeutung zuzugestehen. Was subjektiv ist, muss sowieso für alles, was objektiv ist, eliminiert werden. Da der Militante sich weigert, von seinen Wünschen angetrieben zu werden, muss er sich darauf beschränken, sich auf historische Notwendigkeiten zu berufen, von denen er glaubt, sie seien ausserhalb der Welt der Wünsche. Dank dem „wissenschaftlichen Sozialismus“, eine erstarrte Form eines degenerierten Marxismus, glaubt er, den Sinn der Geschichte entdecken und sich ihm anpassen zu können. Er benebelt seine Sinne mit Konzepten, deren Bedeutung ihm entgeht: Produktionskräfte, Produktionsverhältnisse, Wertgesetz, Diktatur des Proletariats usw. All das erlaubt ihm, sich über die Ernsthaftigkeit seiner Agitation sicher zu sein. Indem er sich ausserhalb „seiner Kritik“ der Welt platziert, ist er dazu verurteilt, nichts von deren Fortgang zu verstehen.
Die Leidenschaft, welche er in seinem alltäglichen Leben nicht finden kann, sucht er in seiner imaginären Teilnahme am „weltweiten revolutionären Spektakel“. Die Welt wird auf ein Marionettentheater reduziert, wo sich die Guten und die Bösen, die Imperialisten und die Anti-Imperialisten gegenüber stehen. Er kompensiert die Armseligkeit seiner Existenz, indem er sich mit den Stars dieses weltweiten Zirkus identifiziert. Der Gipfel der Lächerlichkeit wurde gewiss mit dem Kult des „CHE“ erreicht. Als wahnsinniger Ökonom, jämmerlicher Stratege, doch heisser Typ wird Guevara zumindest den Trost haben, für seine Talente als Hollywoodstar belohnt geworden zu sein. Ein Rekord im Posterverkauf!
Was ist die Subjektivität, wenn nicht das Überbleibsel der Objektivität, das, was eine auf der Reproduktion gegründete Gesellschaft nicht integrieren kann? Die Subjektivität des Künstlers vergegenständlicht sich im Kunstwerk. Für den von den Produktionsmitteln und der Organisation seiner eigenen Produktion getrennten Arbeiter bleibt die Subjektivität im Zustand von Manien, Wahnvorstellungen…Was sich vergegenständlicht, tut dies durch die Gnade des Kapitals und wird selbst zu Kapital. Die revolutionäre Aktivität, genau wie die Welt, die sie andeutet, überwindet die Trennung zwischen Objektivität und Subjektivität. Sie macht die Subjektivität objektiv und nimmt subjektiv die objektive Welt in Beschlag. Die proletarische Revolution ist der Einbruch der Subjektivität!
Es geht nicht darum, in den Mythos der von der Gesellschaft unterdrückten und ihre Rückkehr anstrebende „wahren Menschennatur“, des „ewigen Wesens“ des Menschen zurückzufallen. Aber wenn auch die Form und der Zweck unserer Wünsche unterschiedlich ist, so können sie sicher nicht auf das Bedürfnis reduziert werden, dieses oder jenes Produkt zu konsumieren. Die durch die Entwicklung und die Notwendigkeiten der Warenproduktion historisch bestimmte Subjektivität beugt sich nicht dem Drang nach Konsum und Produktion. Um die Wünsche des Konsumenten zu vereinnahmen, muss sich die Ware ununterbrochen anpassen. Doch sie ist unfähig, den Willen zu leben durch die totale und direkte Verwirklichung unserer Wünsche zu befriedigen. Als Avantgarde der Warenproduktion müssen die Schaufenster immer öfter die Kritik des Pflastersteins erdulden!
Jene, welche sich weigern, der Wirklichkeit IHRER Wünsche im Namen des „materialistischen Denkens“ Rechnung zu tragen, gehen das Risiko ein, vom Gewicht UNSERER Wünsche eingeholt zu werden.
Die Militanten und ihre Ideologen, sogar jene mit Universitätsdiplom, sind immer weniger fähig, ihre Epoche zu verstehen und die Geschichte treffend darzustellen. Unfähig, ein auch nur annähernd modernes Denken zu verbreiten, sind sie gezwungen, im Müllhaufen der Geschichte zu wühlen, um sich Ideologien wiederzuholen, die schon seit einer gewissen Zeit ihr Scheitern bewiesen haben: Anarchismus, Leninismus, Trotzkismus…Um das ganze etwas leichter bekömmlich zu machen, würzen sie es mit etwas missverstandenem Maoismus oder Castrismus. Sie berufen sich auf die Arbeiterbewegung, doch verwechseln ihre Geschichte mit dem Aufbau eines Staatskapitalismus in Russland oder dem bürokratisch-bäuerlichen Epos des „langen Marschs“ in China. Sie behaupten, sie seien Marxisten, doch verstehen nicht, dass das marxistische Projekt der Aufhebung der Lohnarbeit, der Warenproduktion und des Staates untrennbar von der Machtergreifung des Proletariats ist.
Die „marxistischen“ Denker sind zunehmend unfähig, die Analyse der grundsätzlichen Widersprüche des Kapitalismus zu übernehmen, welche Marx eingeführt hat. Sie verlieren sich auf dem Terrain der bürgerlichen politischen Ökonomie, während sie Dummheiten zum Wertgesetz, dem tendenziellen Fall der Profitrate, der Realisierung von Mehrwert endlos wiederholen. Trotz ihrer Vermessenheit verstehen sie nichts vom Gang des modernen Kapitalismus. Indem sie sich verpflichtet glauben, ein marxistisches Vokabular zu benutzen, deren Gebrauchsanweisung sie nicht kennen, verpassen sie die wenigen Möglichkeiten der Analyse, die der politischen Ökonomie verbleiben. Ihre „Forschungen“ sind weniger Wert als jene des erstbesten Schülers von Keynes.
MILITANTE UND ARBEITERRÄTE
Die militanten Organisationen stärken sich gegenüber der Massen, die sie zu repräsentieren glauben. Das führt natürlicherweise dazu, dass sie glauben, es sei nicht die Arbeiterklasse, die die Revolution macht, sondern „die Organisationen der Arbeiterklasse“. Es ist also angebracht, diese zu stärken. Das Proletariat wird zu einem Rohstoff, einem Misthaufen, auf welchem die Revolutionäre Partei als rote Rose wird aufblühen können. Die Notwendigkeiten der Vereinnahmung verlangen, dass man davon extern nicht allzu häufig spricht; dort fängt die Demagogie an.
Die Autonomie der Ziele der militanten Organisationen muss kaschiert werden. Diesen Zweck erfüllt die Ideologie. Man proklamiert lautstark, dass man im Dienste des Volkes stehe, dass man nicht für sein eigenes Wohl handle und dass, falls man für eine kurze Zeit gezwungen sein wird, die Macht zu ergreifen, man sie nicht missbrauche. Sobald die Arbeiterklasse genug gebildet sein werde, werde man sich beeilen, sie ihr zurückzugeben.
Die Geschichte der Arbeiterräte zeigt, dass die sogenannten Arbeiterorganisationen systematisch ihr eigenes Spiel spielten und ihre eigenen Kastanien aus dem Feuer holten; natürlich nur aus den besten Beweggründen. Um sich die Macht zu sichern, versuchten sie, die Organisationsformen, die sich das Proletariat gab, zu beschränken, zu vereinnahmen und zu zerstören: territoriale Sowjets, Fabrikkomitees.
Die russischen Sowjets wurden zuerst von der bolschewistischen Partei und dem bolschewistischen Staat vertuscht, dann liquidiert. Lenin misst ihnen 1905 keine Bedeutung zu. Im Gegensatz dazu proklamiert man 1917: „Alle Macht den Sowjets“. Ab 1921 werden die Sowjets, welche als Trittbrett zur Machtergreifung dienten, zu einem Störfaktor; die Arbeiter und die Matrosen von Kronstadt, die freie Sowjets fordern, werden von der Roten Armee niedergeschlagen.
In Deutschland nimmt die sozialdemokratische Regierung der „Volkskommissare“ die Liquidation der Arbeiterräte im Namen der Revolution in die Hand.
In Spanien kümmern sich einmal mehr die Kommunisten darum, die Formen der Volksmacht zum Verschwinden zu bringen. Das sollte dazu dienen, den Kampf gegen den Faschismus zu fördern!
Es lohnt sich nicht, Beispiele anzuhäufen. Alle historischen Erfahrungen haben den Antagonismus zwischen dem revolutionären Proletariat und der militanten Organisation bestätigt. Die extremistischste Ideologie kann eine konterrevolutionäre Position verstecken. Wenn auch einige Organisationen wie der Spartakusbund und die anarchosyndikalistische CNT-FAI Seite an Seite mit dem Proletariat bis zur gemeinsamen Niederlage kämpften, so beweist das doch nicht, dass diese Organisationen nicht für ihre eigene Macht gekämpft hätten, wenn der Gegner besiegt worden wäre.
China ist nichts weiter als ein vulgärer Staatskapitalismus. Die Warenproduktion und die Lohnsklaverei wurden durch die „kommunistische“ Machtergreifung nicht aufgehoben. Im Gegenteil, indem sie zu einem Bruch mit der Plünderung von China durch die Imperialisten führte, konnte nur diese Machtergreifung es ermöglichen, Kapital vor Ort zu akkumulieren und die Industrialisierung zu lancieren. Der Personenkult und der ideologische Druck, um das Volk zur Teilnahme am „Kampf an der Produktionsfront“ zu drängen, führten nicht zur Eliminierung der klassischen Methoden. Diese Werbung für Seife [Bild in der Originalbroschüre] bezeugt es.
Unsere lokalen Bürokraten, die von Maos „Dialektik“ und der Erneuerung der Theorie durch die sogenannte Bürokratiefeindlichkeit der Kulturrevolution schwärmen, werden vom roten China genauso enttäuscht sein wie sie vom stalinistischen Russland enttäuscht wurden.
Obwohl sie in der Politik eingesperrt sind, bleiben die Militante doch soziale Individuen, welche dem Einfluss ihres Milieus ausgesetzt sind. Wenn es heiss zu- und hergeht, werden potenziell viele ins Lager der Revolution wechseln. Man sah auch schon Syndikatssdelegierte bei Entführungen eine Hauptrolle spielen! Doch die massive Fahnenflucht der Militanten wird aufgrund der Tatsache, dass die Räte und die rätekommunistischen Revolutionäre stärker sein werden, umso wahrscheinlicher sein. Die Bewegung kann in ihren Erfolgen durch den Nachschub an etlichen Militanten unterstützt werden, doch im Falle von Fehlern oder Unschlüssigkeit wird das Pendel in die andere Richtung ausschlagen. Die militanten Organisationen werden gestärkt werden, durch die Zufuhr von Proletariern, die sich beruhigen wollen.
Die Liquidation der Arbeiterräte wurde möglich wegen ihrer Schwäche, ihrer Unfähigkeit, die Regeln der direkten Demokratie anzuwenden und effektiv alle Macht durch die Zerstörung aller äusseren Macht an sich zu reissen. Die militanten Organisationen sind eigentlich nur die eigene veräusserlichte Schwäche des Proletariats, die sich gegen es wendet.
Die Arbeiter werden wieder Fehler machen. Sie werden nicht sofort die adäquate Form ihrer Macht finden. Je weniger die Massen Illusionen bezüglich der Militanz haben, desto eher wird die Macht der Räte Chancen haben, sich zu entwickeln. Die Militanten diskreditieren und lächerlich machen, das ist die gegenwärtige Aufgabe der Revolutionäre. Diese Aufgabe wird vollendet werden, durch die Kritik in Form von Taten, durch die Entstehung rätekommunistischer Organisationen. Diese Organisationen werden ohne Führungsspitze und bürokratischen Apparat auskommen. Als Produkt der Solidarität der kämpferischen Arbeiter werden sie die freie Gemeinschaft autonomer Individuen sein. Nichts wird ihnen fremder sein als die ideologische Indoktrinierung und die organisationelle Einreihung. Sie werden nicht durch ihre Ideen, sondern vor allem durch ihr Verhalten in den Kämpfen zeigen, dass sie nie andere Interessen als jene der Gesamtheit des Proletariats zu verfolgen drohen.
Die Entwicklung des modernen Kapitalismus, die sich in der Besetzung allen gesellschaftlichen Raums durch die Waren, die Verallgemeinerung der Lohnarbeit, aber auch durch den Verfall der moralischen Werte, die Verachtung der Arbeit und der Ideologien äussert, wird die Gewalt des Zusammenstosses verstärken. Die Proletarier werden sehr viel schneller sehr viel weiter gehen als in der Vergangenheit. Die militanten Organisationen konnten zwar früher während einer gewissen Zeit eine revolutionäre Rolle spielen, doch das wird nicht mehr möglich sein. Diese Organisationen werden schnell nur doch die Möglichkeit haben, immer mehr auf der Seite der Konterrevolution zu stehen während den nächsten grossen Schlachten des Klassenkampfes. Eingeklemmt zwischen dem Proletariat und der alten Welt werden sie nur überleben können, indem sie letzterer als Festung dienen.
Wenn die Syndikalisten und andere Militante versuchen, die Versorgung, danach die Organisation der Produktion und die Aufrechterhaltung der Ordnung in die Hand zu nehmen, um auf die „Schwäche“ des Kapitals und des Staates zu reagieren und sich in den „Dienst der Hausfrauen“ stellen, müssen sie als das, was sie sind, behandelt werden: eine sich bildende neue Führungsschicht. Die Rätekommunisten werden dafür kämpfen müssen, dass die für besondere Aufgaben verantwortlichen Kommissionen und Delegierten EINZIG UND ALLEIN der Generalversammlung Rechtfertigung schulden und jeder Zeit widerrufbar sind. Die Mitglieder irgendeiner Organisation, welche in die Räte gewählt werden, dürfen nicht die Repräsentanten ihrer Organisation sein, sie sind die Delegierten der Arbeiter. Die Räte müssen ALLE MACHT UND KEINE SCHEINMACHT sein, die innerlich durch die Spaltung und die Versuche der Vereinnahmung der Organisationen geschwächt sind. Wir werden das Spiel der durch die Parteien in Politikerjahrmärkte transformierten russischen Sowjets oder der kommunistischen, sozialistischen, anarchistischen, trotzkistischen bewaffneten Kolonnen, welche sich während des Spanienkrieges gegenüberstanden und um Waffen und Einfluss bekämpften, nicht mehr spielen. Die Räte werden alle Aufgaben, die zur Zerstörung der bürgerlichen Ordnung nötig sein werden, in die Hand nehmen und verbinden müssen und all jene als Feinde behandeln, die ihnen dieses Recht absprechen!
Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires [Organisation der jungen revolutionären Arbeiter]
1A.d.Ü., sowie deren Erhalt, Aufbau usw.
2A.d.Ü., wortwörtlich auf Deutsch: Militantismus als höchstes Stadium der Entfremdung.
3A.d.Ü., Entfremdung durch die Waren, evtl. Verdinglichung
4A.d.Ü., hier ist die Trennung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit gemeint, also die Trennung zwischen der Theorie und der Praxis, dem Denken und dem Handeln, usw.
5A.d.Ü., Warenproduktion
6A.d.Ü., als Entrismus gilt die trotzkistische Taktik, um, historisch ging es um die Sozialdemokratie, zu unterwandern, indem sich Mitglieder der trotzkistischen IV. Internationale sozialdemokratischen Parteien anschlossen und diese von innen heraus unterwanderten, indem sie die Mitglieder radikalisierten. Funktioniert hat es noch nie, seitdem wird der Begriff verwendet, um dieses Handeln, das der Unterwanderung, so zu bezeichnen.
7Vgl. Rupture dans la théorie de la révolution (Bruch in der Revolutionstheorie). Texte 1965-1975, Senonevero, 2003, S. 481.
8Hier kann man die Nutzung von Nacktheit bei öffentlichen Demonstrationen erwähnen; siehe Guillon, Je chante le corps critique. Les usages politiques du corps, H&0, 2008.
9Siehe Le Lundi au soleil, Sammlung von Texten und Erzählungen der „Bewegung der Arbeitslosen“, Heft Nr. 1, November 1997-April 1998, La bande à 35 h par jour, L’Insomniaque, Juni 1998.
10CGT – Confédération générale du travail, ein Syndikate, die traditionell eng mit der französischen kommunistischen Partei verbunden ist.
11Alain Geismar – ein Mitglied der Parti socialiste unifié und Präsident des Professorensyndikats der Universität zu Beginn von Mai 1968. Er wurde zu einer der prominentesten Persönlichkeiten der Maibewegung. Nach deren Ende stand er der Bewegung des 22. März nahe und schloss sich Anfang 1969, zusammen mit anderen Mitgliedern, der Gauche prolétarienne (GP) an, die führende Gruppe des aktivistischen Flügels des französischen Maoismus. Er wurde zu einem öffentlichen Sprachrohr der GP und zu einer Berühmtheit als er 1970 wegen Anstiftung zum Landfriedensbruch ins Gefängnis musste. Später machte er als Akademiker Karriere und wurde Berater der sozialistischen Regierung.
12CFDT – Confédération française démocratique du travail – französische Syndikatsföderation. Nach dem Mai 68 (für welchen sie mehr Sympathie hatte als die mit der kommunistischen Partei verbundene CGT) entwickelte sie starke Beziehungen zur Parti socialiste unifié und wurde stark mit der Sache der Selbstverwaltung identifiziert. Später näherte sie sich der sozialistischen Partei an.
13AJS – Alliance des jeunes pour le socialisme. Gegründet 1969 als Jugendorganisation der (lambertistischen) Organisation communiste internationaliste. Die OCI war 1968 die am meisten „altlinke“ der französischen trotzkistischen Gruppen (sie war Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationalen mit der Socialist Labour League von Healy, bis sie mit diesem 1971 brach). Sie schaffte das bemerkenswerte Kunststück, junge Leute aufzurufen, 1968 Barrikaden niederzureissen und trotzdem danach kurz von der Regierung verboten zu werden. Ihr junger Flügel, die AJS, erlangte einen wenig beneidenswerten Ruf für ihren manipulativen Frontismus.
14Gauche prolétarienne (GP). Gegründet im September 1968 von ehemaligen Mitgliedern der (marxistisch-leninistischen) Union des jeunesses communistes, eine von Althusser inspirierte maoistische Gruppe, die sich 1966 von der UEC, der offiziellen Studentengruppe der kommunistischen Partei, abgespalten hatte. Anfang 1969 schlossen sich ihr einige Mitglieder der „spontaneistischen“ Bewegung des 22. März an und in den nächsten drei, vier Jahren war die GP jene Gruppe, welche von den „nichtparteilichen“, aktivistischen maoistischen Gruppen am ehesten repräsentativ war. Diese Strömung, welche ausserhalb Frankreichs kaum Pendants hatte, ist im Buch von A. Belden detailliert beschrieben (das betreffende Kapitel kann online gelesen werden). Ein Merkmal der GP war die Anzahl „Persönlichkeiten“, welche sie sowohl als Sympathisanten anzog (u.a. Sartre und der Verleger Maspero) als auch kreierte – in Frankreich war sie exemplarisch für die Praxis des „radical chic“. Ihre organisationelle Praxis war exemplarisch für das, was später in den USA und im Vereinigten Königreich als die Tyrannei der Strukturlosigkeit beschrieben wurde. Von der Regierung 1970 verboten, existierte die GP weiterhin durch etliche Fronten und einem Netzwerk von Gruppen und durch die Versuche, andere Projekte zu kontrollieren.
15Ligue communiste. Die OCI repräsentierte die „alte Linke“ innerhalb des Trotzkismus und die Ligue communiste die „neue Linke“, basierend auf den „neuen Avantgarden“ der Jugend, der Studenten, des schwarzen Nationalismus und der nationalen Befreiungsbewegungen. Der Name Ligue communiste wurde 1968 gewählt, als der (frankistische) Parti communiste internationaliste (PCI) und die Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR), die von ihr kontrollierte Studentengruppe, von der Regierung verboten wurden. Als französische Sektion des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationalen hatte der PCI bis 1968 Entrismus innerhalb der französischen Kommunistischen Partei praktiziert. Sein Einfluss auf die offizielle Studentengruppe der Partei führte 1967 zur Gründung der JCR. Die JCR war eine der aktivsten politischen Studentengruppen während dem Mai 68 und ihr erfolgreicher Aufstieg war das Sprungbrett für die Gründung der Liga.
16Der Secours rouge (Rote Hilfe) wurde 1970 von einem Komitee von „Aktivisten und Persönlichkeiten“ (Biard), darunter auch der allgegenwärtige Sartre, gegründet. Sein Zweck war es, ein einheitliches Gremium zur Organisation der praktischen Verteidigung und des praktischen Kampfes zu sein, theoretisch kontrolliert von lokalen Volksversammlungen. Er wurde von mehreren trotzkistischen, maoistischen und anarchistischen Gruppen unterstützt und organisierte Aktivitäten, die von Demonstrationen bis zu Versuchen praktischer Solidarität verschiedener Art reichten. In Wirklichkeit war der Secours rouge allen voran eine Initiative der maoistischen Gauche prolétarienne, die in der Zwischenzeit von der Regierung verboten worden war und in Form von Netzwerken von Gruppen und Organisationen existierte, die sie entweder selber aufgleiste oder einfach daran beteiligt war (siehe Fussnote 5). Von Anfang an bekämpften sich die verschiedenen Gruppierungen und nach und nach spalteten sich die trotzkistischen Gruppen und der linkssozialistische PSU ab und überliessen den Aktivisten der ehemaligen GP die Kontrolle bis sich der Secours rouge komplett auflöste.
17Die OJTR (Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires) war die Gruppe, welche diesen Text verfasste.
18Der Parti socialiste unifié (PSU) war eine kleine, 1960 gegründete linkssozialistische Partei. Sehr gespalten über ihre politische Linie während den Wahlen 1969 und mit starkem Druck von Sektionen ihrer Mitgliedschaft (sie integrierte viele jüngere und militantere Neumitglieder nach dem Mai 68), entschied die nationale Koordination der Partei, im ganzen Land Arbeiter- und Bauernversammlungen einzuberufen. Das neue Element war, dass sie offen für Nichtmitglieder der Partei waren und beauftragt, Strategiedokumente für den Parteikongress in Lille 1971 zu formulieren. Nicht überraschend wurden die Versammlungen sofort zur Bühne für Kämpfe um Einfluss zwischen den diversen Fraktionen der Partei und die Texte, welche schliesslich am Kongress präsentiert wurden, repräsentierten eher die Fraktionen als die „Stimme der kämpfenden Massen“.
19Cahiers de Mai – 1968 von einigen Aktivisten aus Nantes und Umgebung gegründete Zeitschrift, die ursprünglich zum Ziel hatte, den Standpunkt der im Mai geformten Aktionskomitees ausdrücken. Als die während dem Mai 68 entstandene Bewegung verschwand, bekam die Zeitschrift ein Forum zur Diskussion und Bekanntmachung von Arbeiterkämpfen. Im Januar 1969 initiierte sie eine Debatte zum Thema „Wie können wir den Arbeitern helfen, zur revolutionären Aktion überzugehen?“. In dieser Debatte waren Arbeiter sowohl als Aktivisten involviert und etliche Studiengruppen wurden aufgegleist. Es folgte 1972 ein Versuch, das ganze zu formalisieren durch einen Verein der Freunde der Cahiers de Mai, dem Einsatz für neue Organisations- und Aktionsformen und für autonomen Kampf ergeben. Dennoch, wie Biard es formuliert, „…ist die Idee der Autonomie der Arbeiterklasse eng mit der Idee der Organisation der Revolutionäre verbunden. Wie sind die Verhältnisse zwischen den autonomen Bewegungen und den revolutionären Gruppen? Je nach Antwort zu dieser Frage – von der Ablehnung revolutionärer Gruppen bis zur Anerkennung ihrer Rolle als Avantgarde – gibt es unendlich viele mögliche Positionen“. Die Publikation der Zeitschrift wurde 1975 eingestellt.
20Humanité rouge – Zeitschrift der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei Frankreichs (PCMLF), eine im Dezember 1967 von einigen ehemaligen Mitgliedern der Kommunistischen Partei gegründete zentralistische maoistische Partei. Im Gegensatz zur Althusser anhängenden UJCML, welche sich von der Studentengruppe der KP abspaltete und das Sammelbecken für die „parteilose“ maoistische Strömung wie die Gauche prolétarienne war, bestand die PCMLF v.a. aus Ultra-Stalinisten, die ablehnten, was sie den „Revisionismus“ der KP nannten. Aktiv im Mai 68 wurde sie wie viele andere Organisationen verboten und arbeitete danach klandestin, die Zeitschrift Humanité rouge wurde zu ihrem öffentlichen Gesicht und Namen.
Der Militante im 21. Jahrhundert
Die Situationisten machten aus der Verweigerung der Militanz eine grundlegende Banalität und diese Kritik wurde 1972 im Text „Die Militanz als höchstes Stadium der Entfremdung“1 zusammengefasst.
Für uns ist Militant keine Beleidigung für Leute, mit welchen wir nichts gemeinsam hätten (wie petit-bourgeois damals für viele Militante). Gewisse Gefährten können der Militanz verfallen: Da wir nicht die Perfektion suchen, sehen wir darin nicht zwingend ein Motiv, mit ihnen zu brechen.
In der situationistischen Kritik war die Militanz gleichbedeutend mit der Aufopferung seines Lebens für eine Sache, der Negation seiner persönlichen Wünsche und der Unterwerfung unter eine Doktrin. Und v.a. mit dem Glauben, die Veränderung der Welt durch immer mehr Interventionen, Sitzungen und Worten für möglich zu halten. Der Militante ist voluntaristisch und produktivistisch.
Wie hat sich der Militante vierzig Jahre später verändert? Mit welchen Konsequenzen für unsere Kritik der Militanz?
Von der Aufopferung zum Hedonismus
(Anm. d. Ü., das französische Wort militant kommt vom Wort militer) Militer, das ursprünglich Krieg führen bedeutet: Der Militante ist ein politischer Soldat, doch das Wort bekommt mit den Syndikaten und den Massenparteien, Zeitgenossen der Demokratie, seinen modernen Sinn.
Man engagiert sich als Militanter also wie man arbeitet, die Arbeit ist ein Kult im 19. und lange während dem 20. Jahrhundert: Die Arbeit hat einen heiligen Wert und die Anhänger der Situationistischen Internationalen waren nicht die ersten, welche die religiösen Aspekte der Militanz bemerkten.
Heutzutage ist die Arbeit in unserem Leben und in unseren Köpfen (auch in jenem des Arbeitslosen) dermassen verankert, dass sie keinen Kult mehr braucht. Im Westen wird die Aufopferung mittlerweile weniger gepriesen als der Hedonismus. Somit verändert sich der Militante. In der Politik ist die demonstrative Strenge nicht mehr in Mode und die Langeweile ist kein Beweis für Ernsthaftigkeit mehr. Kämpfen bedeutet, sich zu amüsieren, Partys zu feiern oder gar nur das zu tun. Für die temporären Kulturarbeiter ist die Organisation eines festlichen Picknicks beispielsweise eine „Aktion“, welche von der „Aktionskommission“ vorbereitet wird genau wie die Besetzung des Lokals der CFDT [gemässigtes christliches Syndikat].
Selbstverständlich lässt der geführte Klassenkampf wenig Raum für die Freude, aufopfernde Verhaltensweisen bleiben eine Möglichkeit für den syndikalistischen Militanten. Es verhält sich anders mit dem politischen Militanten, für welchen Handeln eine Entscheidung oder gar eine Freizeitaktivität ist: In den westlichen Demokratien strebt das zeitgenössische Individuum nach seinem eigenen Vergnügen und verweigert die Selbstnegation. Welcher Militante des NPA [Nouveau parti anticapitaliste – trotzkistisch] oder des PC [KP] opfert heutzutage sein persönliches Leben der Partei?
Missionar
Die religiöse Dimension ist noch lange nicht verschwunden: Es braucht eine Herrschaft des Bösen (König Geld zum Beispiel) damit die Befreiung geschehen kann.
Die Apokalypse (griechisch für Enthüllung oder Offenbarung) bedingt Satan, den „Prinzen der Welt“, d.h. immer mehr Unterdrückung im Kapitalismus.
Um das Monster niederzustrecken, ist es nicht mehr in Mode, Anführer werden zu wollen, wie damals die trotzkistischen Gruppen, welche gegründet wurden, um die zukünftigen Kader der Partei zu formen, obwohl der Militante also nicht mehr Chef werden will, glaubt er weiterhin, dass er mehr Bewusstsein hat als andere, betrachtet sich als unentbehrlich und gibt sich eine Mission. Er rekrutiert nicht mehr: Er informiert (siehe weiter unten zum Aktivismus und Cyberaktivismus).
Horizontalität
Weit jenseits der Kreise jener, welche man „Autonome“ nennt, bekennt sich heutzutage jeder linke oder linksradikale Militante mehr oder weniger zur Autonomie. Die Vorliebe unserer Zeitgenossen für die Freiheit ist daran wahrscheinlich nicht ganz unschuldig, doch der Niedergang der Vermittlungen und der Vermittler widerspiegelt v.a. eine Krise der Verwaltungsapparate der Verteidigung der Lohnarbeit – der sozialistischen Parteien und Syndikate. Die Bürokraten haben viel mehr Mühe als früher, ihre vermittelnde Rolle auszuüben. Diese Schwächung trägt zur Erschütterung des Glaubens an eine um die Arbeit strukturierte und von in Konflikt stehenden Klassen angetriebene Gesellschaft bei und er erlaubt es der Theorie der Herrschaft, sich auf Kosten der Klassenanalyse aufzudrängen: Es gebe keinen gesellschaftlichen Schwerpunkt mehr, nur eine Artikulation von Kräfteverhältnissen in allen Bereichen, die „Arbeitswelt“ ist nur einer davon.
Foucault und Bourdieu schrieben es unermüdlich: Alles sei heutzutage mit Dispositiven der Macht und der Kontrolle zu erklären.
Mit zwei Konsequenzen.
Erstens übt die Macht ihre Herrschaft durch eine Vielzahl an Praktiken aus, denn sie ist omnipräsent, scheinbar auch in uns selbst, die Kritik der Macht findet also an einer Gesamtheit von Orten (oder Identitäten) statt, wovon keiner (oder keine) die anderen bestimmt: Arbeit, Gender, Rasse, Kultur, Gesundheit, Umwelt usw., Schluss mit der vermeintlichen Hegemonie der Arbeiterklasse. Es ist nicht mehr prioritär, die Kämpfe von oben zu zentralisieren, sondern eher, auf ihr Niveau hinabzusteigen, durch einen distanzierten und in aufeinanderfolgende Mobilisierungen fragmentierten Militanz: Man unterstützt die Sans-Papiers, man denunziert das transatlantische Freihandelsabkommen, man demonstriert gegen den FN…
Danach, um „die Kämpfe miteinander zu verbinden“, drängt sich die Demokratie als Mittel zur Wiedervereinigung der getrennten Bereiche an: doch eine Basisdemokratie, direkt, heute lokal, übermorgen universell. Man zieht den Konsens der Abstimmung vor, gemäss der von den demokratischen Gesellschaften proklamierten Verweigerung der Gewalt: Medien, Polizei, Staat, Universität usw. müssen nicht mehr zerstört, sondern in Einklang gebracht werden.
In Tat und Wahrheit beschränkt sich die Horizontalität im allgemeinen auf die Demokratie der Strassenumfrage. Eine früher emblematische Organisation der Erneuerung, ATTAC, funktioniert ausgesprochen anti-demokratisch und die Regel des Konsenses widersteht schlecht einer grundsätzlichen Meinungsverschiedenheit.
Expertise
Der zeitgenössische Protest ist allgemeinen Theorien gegenüber skeptisch, doch er braucht seine Experten: Spezialisten der Wirtschaft, Geographie, Soziologie, Ökologie, Recht usw., und natürlich die unentbehrlichen professionellen Organisatoren (welche im nächsten Absatz diskutiert werden).
Die alte sozialistische Arbeiterbewegung, v.a. die stalinistische, wählte bevorzugt der Arbeiterklasse entstammende Anführer aus, welche den Klassenkampf wie ein intellektueller Arbeiter verkörperten und die Synthese der Vergangenheit und der Gegenwart des Proletariats und der Menschheit darstellten. Maurice Thorez war sowohl bezüglich Kultur als auch politischer Strategie eine Autorität. Heutzutage hat es keinen Platz mehr für ein totales, von der Klassenpartei getragenes Wissen: Der Experte ist nur in seinem Bereich Experte.
Der Verlust der Totalität ermöglicht unvermeidlich neue Spezialisten: Experten der Komplexität, der Pluralität, der Transversalität, der Kontextualisierung, der Verwaltung der Koexistenz konkurrierender Identitäten, sowohl verbündet als auch rivalisierend.
Eine der Hauptaufgaben dieser „guten“ Experten ist es, die „bösen“ zu widerlegen, jene des Staates oder des MEDEF [französischer Zusammenschluss der Bosse], welche als unehrlich, parteiisch oder unfähig beurteilt werden, doch auf beiden Seiten geht es darum, realistisch zu sein, mit Zahlen zu beweisen, dass ein anderes Budget, eine alternative Verwaltung oder ein besseres Abkommen bezüglich der Arbeitslosenversicherung möglich wäre.
Beruf: Radikaler
Als die sozialistische Arbeiterbewegung einer Gegengesellschaft ähnelte, unterhielt sie ihre eigenen Berufsaktivisten: Journalisten, Vorsitzende, Verwalter von Vereinen, Genossenschaften usw. Die parlamentarische Demokratie wird heutzutage durch eine gesellschaftliche Demokratie ergänzt, wo die öffentlichen oder para-öffentlichen Mächte und eine Unzahl von privaten Organismen eine integrative und Arbeitsplätze schaffende Rolle spielen: So verschiedene Länder wie Frankreich und die USA entwickeln Vereine, „das Soziale“, die NGOs und einen Schwarm von Vermittlern. Soziale Arbeit wird zu einer politischen Waffe und die Schule als auch die Unternehmung zu einem Interventionssektor: Referenten gehen dorthin, um den Sexismus, den Rassismus oder die Homophobie zu denunzieren, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit jene Orte stärken, wo sich das reproduziert, was sie als Vorurteile betrachten.
Eine soziale Demokratie will ihre Widersprüche verstehen, eine Armee von Forschern beschäftigt sich also mit Konflikten, Streiks, Ausschreitungen, radikalen Theorien, linken Gruppen…Es werden Diplomarbeiten über die Trotzkisten in der Moselle oder die Ausgeschlossenen der Situationistischen Internationalen geschrieben. Nichts ist neutral: Die Mathematik liefert den mit Algorithmen vertrauten Trader, die Ornithologie beteiligt sich an der Erschaffung zukünftiger Supersoldaten2. Das 19. Jahrhundert hat die Soziologie der Massen eingeführt, heute ist die Polizei Forschungspartner der Wissenschaft der Kontrolle der Massen.
Das Studium wird mit der Praxis kombiniert. Die technisch-soziale Expertise gibt Anlass für eine vielfältige Serie an Jobs, welche in England movement jobs genannt werden: der entlohnte „Organisator“ eines Syndikates, der professionelle Rassismus-Redner, welcher in den Schulen spricht, der von der EU bezahlte Anti-Diskriminierungs-Forscher, der im Unternehmen für die Konfliktlösung verantwortliche Soziologe, ein mit öffentlichen oder privaten Geldern finanziertes radikales Magazin oder Kolloquium, z.B. jenes von der Partei Die Linke abhängige der Rosa-Luxemburg-Stiftung usw. „Wenn das eigene politische Engagement mit dem Geld Verdienen verschwimmt, lässt sich nicht mehr erkennen, was die Leute selber denken – und was sie aus beruflichen Gründen vertreten.“3
Der damalige Berufsrevolutionär wurde von der Partei bezahlt: Heute wird er vom Staat oder einem privaten Organismus entlohnt oder subventioniert, eine inakzeptable Abmachung für den Militanten der 1970er Jahre. Die Ablehnung der Parteien ist grösser, jene des Staates kleiner geworden.
Der neue Geist der Militanz entspricht übrigens einem sehr verbreiteten Bild des zeitgenössischen Kapitalismus, welcher als in Einheiten dezentralisierter Netze funktioniere, wobei jede um ein Projekt organisiert ist und beinahe autonom funktioniert. Dieser Neokapitalismus mache einen neuen Typ der Aktion notwendig, welche gleich funktioniert: Jede Gruppe von Aktivisten handelt mit ihrem Ziel, horizontal, ohne Hierarchie, um sich erst danach mit anderen zu koordinieren. „Der Bürokrat wird durch den Manager ersetzt. Libertärer als ersterer besteht er auf der Autonomie und der individuellen Verantwortung. Doch er zwingt die Normen des Kapitals durch Effizienz, Rentabilität und Leistung auf.“4 Die Abwesenheit von Hierarchie zwischen den Gruppen verunmöglicht nicht eine Hierarchie innerhalb jeder davon, auch wenn sie informell sind.
Aktivität, Aktivismus und Militanz…
Die Teilnahme an einer kleinen oder grossen sozialen Bewegung, 15 Stunden täglich während mehrerer Wochen, bedeutet die Erfahrung einer intensiven Aktivität. Der Aktivist glaubt, dass es unvermeidlich und möglich ist, permanent subversiv zu handeln. Die Theorie hat übrigens auch ihre Aktivisten, für welche ihre Schriften eine notwendige Bedingung der Revolution sind.
Obwohl er selten sagt, er sei militant und opfert sein Leben nicht für die Politik, hat der zeitgenössische Aktivist das Ideal, bei allen Handlungen, allen Demos, allen Besetzungen dabei zu sein, um sich jedes Mal an die Permanenz des Klassenkampfes und an das Erfordernis der Revolution zu erinnern. Doch um jeden Preis handeln zu wollen, führt dazu, dass man dort interveniert, wo man überhaupt nichts mit dem angestrebten Ziel gemeinsam hat, und sich somit ausserhalb des Kampfes befindet, an welchem man teilnehmen will. Es müssen also Notlösungen gefunden werden, um trotzdem daran teilzunehmen.
Wenn man unbedingt zu einer tauben Welt sprechen will, schreit man letztendlich, um gehört zu werden, erfindet etwas dazu, setzt auf den Willen und interpretiert jede Situation als Notfall: Die Aktion löst sich von der Realität ab, obwohl sie sich vorstellt, mittendrin zu sein. Es ist diese Trennung, welche die Militanz charakterisiert (und nicht aufopfernde Verhaltensweisen, welche nur Beiwerk sind). Mit folgenden Effekten: Routine, Zwang, Spezialisierung, sogar Hierarchie – die Politik ähnelt immer mehr einer Arbeit.
Natürlich existieren Abstufungen, eine Grauzone, wo die Versessenheit, zu handeln, in den „militanten“ Aktivismus abgleitet, ohne es zu sein.
Die Schwächen der Bewegung werden ihr von der Situation auferlegt. Unsere Absicht ist es nicht, eine klare Grenze zwischen dem beschränkten Militanten und dem authentischen Revolutionär zu ziehen. Ist es Militanz, wenn eine Gruppe von kämpfenden Arbeitslosen einen wöchentlichen Stand vor der Familienkasse hält und zur Lösung von administrativen Problemen beiträgt? Was ist mit den Genossen, welche eine Bibliothek aufbauen, um dem Quartier eine neue Dynamik zu geben und gegenwärtige und künftige Solidarität zu begünstigen? Alles hängt von der Entwicklung dieses Kampfes und des Quartiers ab.
Cyberaktivismus
Eine Gemeinsamkeit des radikalen Milieus ist der Glaube, dass die Proletarier weltweit immer schlechter leben, obwohl sie immer mehr kämpfen: Wenn „die Revolution“ nicht kommt, was fehlt? Für viele sind es die Verbindungen: Es geht also darum, dazu beizutragen. Nicht, indem man den Kern einer künftigen Partei erschafft, sondern schlicht indem man die Organisation begünstigt und allen voran indem man die Informationsquellen und -kanäle unterstützt.
Wir sind die Medien, hört man häufig. Oh, wie sehr! Der Cyberaktivismus funktioniert nach dem gleichen Modell wie die Medien. Vereinfachen, übertreiben, wiederholen: So fasste ein Journalist die sogenannt populäre Presse zusammen. Diverse Homepages mit revolutionärer Ambition funktionieren leider auch nach diesem Motto. Genau wie in den Reportagen, welche man in den omnipräsenten Bildschirmen sieht, wird der Leser-Zuschauer mit einem ununterbrochenen Fluss von Ereignissen konfrontiert, von welchen das eine genauso wesentlich ist wie das andere, obwohl ihre unendliche Aufeinanderfolge ihren vergänglichen Charakter bestätigt und sie aushöhlt.
„Das hat nichts mit dem Fernsehen zu tun!“, wird man uns sagen, „Denn hier ist der Zuschauer auch Akteur: Unsere interaktiven Homepages zeigen Leute, die sich gegenseitig informieren und einen Streik in Turin mit Ausschreitungen in Manila in Verbindung bringen!“
Es ist für die Beteiligten einer Aktion selbstverständlich, die Bilder davon zu verbreiten, v.a. auf den sozialen Netzwerken. Doch die Vermutung, die Streikenden aus Turin würden mit den Aufständischen in Manila kommunizieren – ein Ausnahmefall, der kaum von uns abhängt – würde die Frage aufwerfen, was der mögliche Effekt dieses Austauschs auf ihre jeweiligen Kämpfe wäre.
Der Cyberaktivismus stellt diese Frage nicht, denn er glaubt an die Illusion, Kommunikation sei Handeln.
Noch schlimmer, indem es die Medien auf ihrem Terrain besiegen will, kopiert das radikale Medium sie: systematische Dringlichkeit, Akkumulation, Sensationslust durch die Suche nach der frappierenden Meldung oder dem schockierenden Bild, das normalerweise bedeutungslos ist. Was beweist ein Foto eines blutenden Gesichts?
Die positiven Aspekte (die übermittelte Information, die unterhaltenen Verbindungen) des Cyberaktivismus werden grösstenteils durch seine Funktionsweise sterilisiert: Er zeigt uns die Repräsentation einer Welt, welche stetig revoltiert oder sich gar erhebt, eine Phantasiewelt, ein wahrhaftiges Paralleluniversum wie in einem Roman von Philip K. Dick – doch man sollte die Fiktion und die Revolution nicht miteinander verwechseln.
Selbstbildung und Vulgarisierung
Der Glaube an die zwingend befreiende Bildung ist die Grundlage der Militanz.
Parteischule, Sommeruniversität, Praktikum, Anleitung, Kurzfassung – gestern wie heute, der Militant bleibt ein Lehrer, welcher den pädagogischen Moden seiner Zeit folgt. Schluss mit dem Frontalunterricht, die zeitgenössische Schule platziert den Schüler „im Zentrum des Bildungsprojekts“. Man füllt nicht mehr den Schädel, sondern lehrt Autonomie, man hilft dem Lernenden, „Subjekt zu werden“, indem man ihn eine Fülle von Daten und Meinungen ordnen lässt, auf dem Papier oder dem Bildschirm, besonders dank den etlichen Online-Konferenzen auf Youtube.
Man korrigiert die Verhaltensweisen der Militanten und bringt ihm bei, sich selbst zu korrigieren, z.B. bezüglich der patriarchalischen Wortwahl. Ein Video erklärt, wie eine Debatte zu führen ist, eine Broschüre, wie mit einer Frau gesprochen werden muss, ohne sie zu unterbrechen.
Trotzdem kann der Pädagoge nicht anders, wie modern er auch sein mag, als an Stelle seines Schülers zu denken, für ihn bedeutet Unterricht Vulgarisierung. In Anbetracht einer Idee ist die erste Reaktion des Militanten, sich die Frage zu stellen, wie er sie benützen könnte. Er „instrumentalisiert“ die Theorie.
Als Marx im Frühling 1847 vor Arbeitern präsentierte, was später unter dem Titel Lohn, Preis und Profit veröffentlicht wurde, fasste er nicht einfach die Thesen der damaligen Sozialisten zusammen. Er machte eine Synthese davon, um zu versuchen, sie zu verstehen, damit die Bewegung sie überwinden könnte. Im Gegensatz dazu wiederholen die Homepages, welche sich zur Mission gemacht haben, die Grundlagen des Marxismus (oder des Anarchismus), die grundlegenden kritischen Konzepte, die Krisenanalyse usw. zu präsentieren, was man schon weiss, bestätigen es und reduzieren damit das Verständnis auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf das, was schon errungen, offensichtlich, weder theoretisch noch praktisch umstritten ist. Der Leser wusste, dass der Lohnarbeiter ausgebeutet ist, und vermutete bereits, dass die Finanz nicht die tiefe Ursache der Krise ist: Man liefert ihm nun die Demonstration davon. Wie an der Uni gibt es einen Bruch zwischen „Unterricht“ (für die Masse) und „Forschung“ (für jene, welche die für schwierig gehaltenen Texte lesen).
„Aus welcher Position sprichst du?“…
…hätte man damals gefragt.
Die Schiessbudenlogik interessiert uns nicht. Wir halten uns nicht für schlauer als der Nachbar und glauben auch nicht, dass wir die Widersprüche der radikalen Kritik durch die Magie einer Dialektik überwinden können, welche überall die positiven Aspekte herausfischt (die Energie des einen, den Informationsdrang des anderen, die Reproduktion von alten Texten beim dritten…), indem sie sich vor den abschreckenden Fehler aller hütet.
Hoffen wir auf jeden Fall nicht, dass wir heute die Organisation aufbauen können, welche morgen, „wenn es knallt“, bereit sein wird. Verfügbar bleiben ist häufig das beste, was man tun kann, indem man sich informiert, ohne alle seine Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, indem man handelt, aber nicht zwingend jeden Tag. In der notwendigen Verbreitung der radikalen Information und Thesen sind diese selbst nicht wichtiger als die durch ihre Zirkulation entstehenden Verbindungen, Verbindungen, welche wohl eines Tages nützlich sein werden, deren Formalisierung heute jedoch überflüssig wäre. Obwohl die kollektive Trägheit ein Hindernis für die Revolution ist, unterhalten gewisse Aktionsformen ebenfalls die Passivität.
Gemäss einem alten proletarischen Sprichwort „sind es nicht die Revolutionäre, welche die Revolution machen werden, sondern die Revolution, welche die Revolutionäre machen wird“.
G.D.
1Drei Jahre später veröffentlichte die Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires eine Fortsetzung, welche die Entstehung des Texts und seine Geschichte zusammenfasste, und erklärte, dass sie 1972, als sie sehr vom Rätekommunismus beeinflusst war, „den verhängnisvollen Charakter der demokratischen, rätekommunistischen, selbstverwaltenden Konzeption“ nicht wahrgenommen hatte: „Das konstituierende Prinzip der Demokratie ist die Trennung zwischen der Entscheidung und ihrer Ausführung. Gruppen wie Socialisme ou Barbarie oder danach die Situationistische Internationale beriefen sich sowohl auf die Demokratie als auch auf die Abschaffung dieser Trennung. Das ist gleichbedeutend mit der Versöhnung des Unversöhnlichen.“
2Die Weisskehlammer (Zonotrichia albicollis) ist fähig, zu fliegen, ohne zu schlafen, die amerikanische Armee interessiert sich für sie in der Hoffnung, Soldaten zu erschaffen, die keinen Schlaf mehr brauchen (Le Monde diplomatique, Juni 2014).
3„Beruf und Bewegung“, Wildcat #96, 2014.
4Lilian Mathieu, „Un „nouveau militantisme“? A propos de quelques idées reçues“, Contretemps, 2008.