Textsammlung: Dekomposition – Für einen Aufstand ohne Avantgarde

“Reformismus ist zweifellos die beste Option, um Nischen innerhalb des Bestehenden zu arrangieren, und die Partisanen der alternativen Konfliktualität haben einen historischen Vorsprung in Bezug auf die Integration und Wiederaufnahme von Kämpfen. Was die anderen anbelangt, so gibt es immer noch eine ganze Welt, die angegriffen werden muss, in der autonome und auf Affinität basierende Möglichkeiten lebendig bleiben, mit denen zum großen Missfallen der Führer der Komposition und ihrer Verbündeten im Kampf gegen diesen Flughafen ,experimentiert wird.

In Notre-Dame-des-Landes liegt eine Leiche: die einer regelrechten Komposition, die, einmal an die Wand gestellt, endgültig klar gemacht hat, sowohl mit wem (dem Staat) als auch gegen wen (die Unkontrollierten) sie ihre opportunistische kleine Welt aufbauen will. Wir wissen auch, was der Preis dafür ist, die mehr oder weniger sichtbar organisierten Autoritären in Ruhe politisieren zu lassen. Das ist eine gute Nachricht, denn der zunehmend unerträgliche Geruch dieser Leiche eröffnet tausend andere Wege. Diesmal in Richtung Freiheit in Aktion.”

 

Cover

Inhalt

 

Textauswahl und Aufbau der Broschüre übernommen von:
Ungrateful Hyenas Editions: Decomposition ­ for insurrection without vanguards
ungratefulhyenas.noblogs.org

Dekomposition

Einleitung der deutschen Ausgabe

Tiqqunismus oder Appelismus konnte im deutschsprachigen Raum nie eine so große Tragweite entwickeln, wie in Frankreich. Nichtsdestotrotz verursachte “Der Kommende Aufstand” einige Furore und wird in Debatten immer wieder als Beispiel einer aufständischen Theorie herangezogen, wobei die kritische Auseinandersetzungen von Anarchisten mit den Vertretern dieser Strömung ausgeblendet werden. In den letzten Jahren gab es wieder einzelne pro-appelistische Texte und Publikationen, die glücklicherweise alsbald in der Versenkung verschwanden. Traditionellerweise nehmen in hiesigen Kämpfen verschiedene post-autonome Kadaver die Rolle der “radikalen” Rekuperatoren ein und versuchen in selbst-organisierten Kämpfen die Kontrolle zu übernehmen, sowie ihre Deutungshoheit darüber zu stülpen. Neben der Bewusstwerdung darüber, in welchen schicken Gewändern die Diener der Macht auftreten können, liegt hier auch die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Rekuperation in anderen Territorien: Die Akteur_innen mögen sich unterscheiden, die Taktiken ähneln sich oder sind gar die gleichen.

Ungrateful Hyenas haben mit dieser Zusammenstellung einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Appelismus im Territorium des nördlichen Amerikas geliefert und dabei Texte gewählt, die zum Teil bereits im Deutschen verfügbar waren, aber seit einigen Jahren nicht mehr zirkulieren. Die restlichen Texte sind außerhalb interessierter Kreise gänzlich unbekannt und wurden für diese deutsche Fassung aus dem Englischen übersetzt. Im Unterschied zur Vorlage wurde das Kapitel “A Composition” von Ungrateful Hyenas weggelassen, da es sich hierbei um eine Zusammenstückelung aus und Bezugnahme zu Texten handelt, die im Deutschen nicht verfügbar sind.

Der in den hier versammelten Texten immer wieder genutzte Begriff der “Composition” wurde im Deutschen beibehalten. Das hat einerseits den Grund, dass die Auseinandersetzung der Übersetzer mit appelistischen Texten bereits einige Jahre zurückliegt und die Erinnerung, wie dieser Begriff ins Deutsche übertragen wurde, verblasst, und jeder aktueller Versuch Texte aus dieser Richtung zu lesen Übelkeit hervorruft und andererseits daran, dass die verfügbaren aktuellen deutschen Übersetzungen pro-appelistischer Texte eher ein Beispiel für schlechte, technologische Übertragungen in eine andere Sprache sind, denn eine Referenz. Man mag das verzeihen, der Sinn bleibt aber erhalten. Wer versuchen will zu verstehen, was unter dem Begriff der Komposition zusammengefasst wird, kann sich mit “The Strategy of Composition” von Ill Will Editions beschäftigen.

Weitere Kritiken auf Deutsch von anarchistischer Seite:

Wolfi Landstreicher: Eine Verkaufsmasche für den Aufstand (Edition Irreversibel)

Machete: Die Insurrektion und ihr Double (Soligruppe für Gefangene)

Finimondo: Politische Taktiererei oder Möglichkeiten ergreifen? (In der Tat Nr.2)

Alain C. : “Der kommende Aufstand” Identitäres Konstrukt und existenzielle Alternative (An die Waisen des Existierenden)

Wien, April 2023


Einleitung der englischen Ausgabe

Die Schriften des Tiqqun und des Unsichtbaren Komitees haben zur Entstehung einer autoritären aufständischen Tendenz geführt, die seit etwa anderthalb Jahrzehnten rekrutiert und ihre Reihen aufbaut. Obwohl eines der Markenzeichen des Tiqqunismus seine “Unsichtbarkeit” ist, bzw. der Anspruch nicht als eindeutige Tendenz lesbar zu sein, haben die Tiqqunisten nach so vielen Jahren und einigen bedeutenden Verraten, gründlich enthüllt, wer sie sind und was sie wollen – was in direktem Widerspruch zu jedem Kampf gegen die Autorität steht.

Während der Tiqqunismus von Frankreich aus den großen Teich überquert und auf der Schildkröteninsel bis zu einem gewissen Grad Fuß gefasst hat, ist die anarchistische Kritik am Tiqqunismus noch nicht angekommen. Dies spiegelt ein allgemeines Eintreten für Toleranz im anarchistischen Raum wider, eine unglückliche Reaktion gegen den ideologischen Dogmatismus, der die Menschen in inselhafte und abgestandene subkulturelle Bereiche einsperrt. Durch die Linse dieses falschen Dilemmas zu denken, geht auf Kosten einer kompromisslosen Klarheit darüber, wie wir uns zu Macht, Reformismus, Repräsentation und den Mechanismen der Politik verhalten. Kurz gesagt verschwischt diese Toleranz die Grenzen, selbst wenn sie durch den Wunsch nach Offenheit und Verbindung motiviert ist, die der Autonomie und Selbstorganisation zugrunde liegen.

Der Tiqqunismus gibt vor einen Ausweg aus ideologischen Lagern zu bieten, indem er die Grenzen von Identitäten überschreitet, die uns nicht mehr dienen und uns einlädt in ihrer aufständischen Komposition Partisanen zu sein. Dies ist nicht nur ein leeres Versprechen, da die von ihnen gebildete subkulturelle Nische höchst exklusiv, inselartig, bedrückend und offen gesagt unangenehm ist, sondern es ist auch ein Weg die Leser zu manipulieren, damit sie ihre Vorschläge unkritisch annehmen oder zumindest tolerieren.

Diese Sammlung soll die autoritären Ambitionen beleuchten, die sich durch die tiqqunistischen Ideen ziehen, um die Anarchisten zu ermutigen, die Toleranz aufzugeben und zu einem prinzipiellen und notwendigen Konflikt überzugehen. Ideen sind nicht neutral, sie sind keine zufälligen ästhetischen Vorlieben oder persönliche Eigenheiten, sie bilden die Grundlage dafür, wer wir sind, wie wir uns in der Welt bewegen und wie wir kämpfen. Wie die Autoren von Blanqui oder der staatliche Aufstand uns daran erinnern, sind die Ideen, denen wir uns zugehörig fühlen, nicht irrelevant und bedeuten, dass wir eine unverwechselbare Seite wählen.

Die Rezension zu “Der kommende Aufstand” ist auch über ein Jahrzehnt später noch relevant, da es zeigt, wie die Praktiken der Tiqqunisten aus ihrem Hauptwerk “Der kommende Aufstand” völlig vorhersehbar sind. Blanqui oder der staatliche Aufstand führt den autoritären Insurrektionalismus zu seinem Ursprung zurück. Blanqui in Venaus gibt eine kurze Anmerkung zu den Vorschlägen zur Rekuperation in “An unsere Freunde”. Der Tod von Rémi und die Konfrontationen vertieft das Thema der Rekuperation, indem er die tiqqunistische Mobilisierung des Staates kommentiert, der einen Demonstranten ermordet, um mit ihm in den Dialog zu treten. Entscheidungen, Kompositionen, Verhandlungen befasst sich mit ihrer Logik der “Komposition” im Kontext der Kämpfe zur Verteidigung des Landes, und Hier liegt eine Leiche spricht über ihren Einsatz der Komposition zur Befriedung der ZAD.

Auch wenn sich der Tiqqunismus in verschiedenen Kontexten zwangsläufig unterschiedlich auswirkt, schätzen wir die Einsichten und Erfahrungen von Gefährten aus anderen Gebieten, wenn es darum geht Autorität in all ihren Erscheinungsformen zu erkennen und anzugreifen. Ill Will Editions hat kürzlich einen Text veröffentlicht, in dem “Komposition” als die Strategie verteidigt wird, die den “Sieg” bei der ZAD in Notre-Dame-des-Landes gesichert hat und schlägt vor, dass dieselbe Strategie im Kampf gegen No Cop City angewendet wird. Indem wir diese Texte zusammenbringen, hoffen wir, die Feindseligkeit gegen diese Vision des Sieges und gegen die Beteiligung der Tiqqunisten am No Cop City Kampf zu verbreiten oder wo auch immer sie ihre Manager-Köpfe erheben.

Für den Aufstand ohne Avantgarde,

Ungrateful Hyenas


Rezension zu “Der kommende Aufstand”

Ah! Möge die dickbäuchige Bourgeoisie auf ewig verdammt sein; möge man Salz und Schwefel dort ausstreuen, wo einst ihre Boutiquen standen, und möge die Bermherzigkeit ihres Gottes leicht umgehen mit ihrer fetttriefenden Seele! Und doch gibt es noch immer Leute, die an den revolutionären Geist Lebensmittelhändlers glauben!!!

Ernest Coeurderoy, Jours d’exil, Tome I, 1854

Kreise ziehen

Mehrere Gründe haben uns lange Zeit veranlasst, dieses Büchlein zu ignorieren, und dies trotz des Schlüsselwortes seines Titels: Aufstand.

Wie jeder Dieb beim FNAC[1] aus Erfahrung weiß, ist ein Buch, das von diesem Supermarkt hochgehalten wird, selten seines Inhalts wegen interessant, sondern vielmehr, weil es sich gut weiterverkaufen lässt.

Da nun aber der Herbst 2007 vorbei ist, hat dieses “Buch des Monats”, wozu es von dieser Firma ernannt wurde, seit längerer Zeit an Wert verloren. Es wäre also unnütz, irgendein Interesse an Der kommende Aufstand in seinem Tauschwert zu suchen.

Abgesehen davon würde unser Dieb, so sehr er auch ein Leser ist, kaum Gefahr laufen, sich von seiner kritischen Ausschweifung zufällig in Versuchung bringen zu lassen: denn was könnte ein solcher Text spannendes zu bieten haben, der bei einem Verleger von gaullistischen Bullen (Erik Blondin, Journal d’un gardien de la paix, 2002), von Gerichtsmedizinern (Patrick Chariot, En garde à vue, 2005), von Totengräbern der Revolution (Mao. De la pratique et de la contradiction, Texte ausgelegt von Slavoj Zizek, 2008), oder kürzlich auch von syndikalistischen Richtern (Syndicat de la magistrature, Les mauvais jours finiront, 2010) herausgegeben wurde? Was anderes könnten diese Texte sein, als eine Wiederverwertung der post-gauchistischen Suppe, die dem Gründer von La Fabrique so gut schmeckt?

Dieses Büchlein dümpelte also ganz ruhig auf den Schwankungen des Marktes vor sich hin, als ein ganz anderes Ereignis dafür sorgte, uns seine Existenz in Erinnerung zu rufen. Im November 2008 behauptet der Innenminister plötzlich, einen seiner anonymen Autoren unter den Angeklagten (und Verhafteten) der sogenannten Tarnac-Affaire wiedergefunden zu haben. Irgendein Staatsanwalt bezeichnet den Text sogar als “eine Art Brevier des bewaffneten Kampfes”. Verdammt nochmal! Hätte die Schläue der Geschichte seit mehr als einem Jahr einen subversiven Schmöker inmitten der Regale der linken Kultur versteckt gehalten? Wäre die Inhaftierung eines “Lebensmittelhändlers” oder einer “Studentin”, wie sich einige der Angeklagten damals gerne präsentierten, ein Hinweis dafür, sich etwas näher mit diesem Pamphlet zu beschäftigen? Würden wir den literarischen Ratschlägen von einem der Beschuldigten folgen: “Der Skandal an diesem Buch ist, dass alles, was darin steht, rigoros und katastrophal wahr ist und nicht aufhört, dies mit jedem Tag noch mehr zu werden”[2]?

Unsere krankhafte Neugier wurde kaum einen Moment auch nur leicht gekitzelt. Denn, während sich die Elite der Intelligentia des Landes fragte, ob “die unter dem Vorwand des Terrorismus und der Sicherheit angewandten Ausnahmegesetze langfristig mit der Demokratie kompatibel sind”[3], lassen sich die Mehrheit der angeklagten Forme-de-vie in Interviews und Artikeln in den Medien aus, während sie kollektiv eine unschuldsorientierte und frontistische Verteidigungsstrategie fahren (auf der einen Seite die Linke wiedervereinigend, auf der anderen Seite den empörten Mittelstand). Zweifellos konnten auch sie uns nicht davon überzeugen, dieses kleine Buch aufzuschlagen. Aber vielleicht funktioniert dieses falsche Spiel ja wo anders besser, denn schließlich haben mehrere ausländische Verlagshäuser ihre Übersetzung von Der kommende Aufstand freiwillig mit der Repression gegen “einige junge kommunistische Bauern”[4] in Verbindung gebracht, um ihre Suppe besser zu verkaufen. Aus dem Staat und seinen Reaktionen das Maß für den revolutionären Charakter eines Buches zu machen, darauf muss man erstmal kommen! Wenn das vielleicht nichts über dieses letztere aussagt, dann spricht es hingegen Bände über jene, die daran profitieren…

Eigentlich war unser tapferer Anarchist keineswegs von der Wichtigkeit einer Rezension dieses Buches überzeugt und es bedurfte aller wohlwollenden Beharrlichkeit der Beteiligten an dieser Zeitschrift, um ihn dazu zu bringen, diesen Beitrag zum laufenden Dossier über das Thema Insurrektion zu erbringen. Im Bewusstsein darüber, dass andere, hier und anderswo, diese Kritik bereits ausgearbeitet haben, und aufgrund des beschränkten Platzes, der dieser Rezension zukommt, werden wir uns hier auf einige Punkte beschränken.

Gemeinplätze

Dieses Buch besteht, neben einem Prolog, aus sieben Kreisen und vier Kapiteln. In einem ersten Teil lässt uns das Unsichtbare Komitee in danteskem Kostüm die Hölle der heutigen Gesellschaft durchwandern. Im Zweiten werden wir schließlich ins Paradies des Aufstands eingeführt, welches durch eine Vermehrung der Kommunen erreicht werden kann.Während es für den ersten Teil ein leichtes ist, auf eine gewisse Zustimmung zu stoßen, indem er eine von permanenten Desastern durchsähte Welt beschreibt, ist der zweite Teil viel unbeschwerter. Dennoch treffen sich beide in einem Punkt: eine gewisse Vagheit, die gut eingebettet ist in einen trockenen und entschiedenen Stil. Vielleicht ist das nicht einmal eine Schwäche, sondern ganz im Gegenteil vielmehr eine grundlegende Komponente, die den Reiz dieses kleinen Buches ausmacht.

Um seinen Diskurs zu verkünden, braucht das Komitee keine Analysen. Es bevorzugt Feststellungen. Genug von diesen Kritiken und Debatten, die einem zu Kopfe steigen, Platz dem Offenkundigen und der betonierten Objektivität, die sofort ins Auge springt! Mit einer vorgespielten Bescheidenheit präzisieren die Redakteure gleich zu Beginn, dass sie nichts anderes tun, als “etwas Ordnung in die Gemeinplätze der Epoche zu bringen, in das, was an den Tischen der Bars, hinter der geschlossenen Tür der Schlafzimmer gemurmelt wird.”, soll heißen, dass sie sich damit zufrieden geben, “die notwendigen Wahrheiten festzuhalten” (S. 9). Sie sind im Übrigen nicht die Autoren dieses Buches, sondern “haben sich zu den Schreibern der Situation gemacht”, denn “es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Richtigkeit dort in guter Logik zur Revolution führt.” Darauf muss man erstmal kommen: die Gemeinplätze sind die notwendigen Wahrheiten, die es niederzuschreiben gilt, um den Sinn für das Richtige zu wecken, welches selbst wiederum logischerweise zur Revolution führen wird! Offenkundig, nicht?

Wenn wir uns in die sieben Kreise vertiefen, welche die zeitgenössische soziale Hölle aufgliedern, werden wir darin nur wenige Ideen finden, über die nachgedacht werden könnte, und viele Gemütszustände, die geteilt werden können. Die Autoren/Redakteure vermeiden um jeden Preis, ihren Diskurs auf irgendeine explizite Theorie zu stützen. Um nicht Gefahr zu laufen, von den Dingen überholt oder in Frage gestellt zu werden, ziehen sie es vor, das Erlebte in seiner Banalität aufzuzeichnen, dort, wo alles vertraut wird. Daraus ergibt sich dann eine Aneinanderreihung von Gemeinplätzen, in denen “der Franzose”, diese Fiktion, bei jeder passenden Gelegenheit auftaucht. Und wenn man schon dabei ist, kann man ja gleich jede beliebige Plattheit anfügen, bis die Wirklichkeit schließlich zur Wiederspiegelung einer einzigen totalitären Herrschaft wird, anstatt das Ergebnis einer Dialektik innerhalb des sozialen Krieges zu sein. Aber es ist wahr, letzteres würde erfordern, etwas weiter zu gehen, als bei verallgemeinerten Empfindungen stehen zu bleiben. Für die Beschreibung ihrer imaginären Welt, die weder Klassen noch Individuen kennt, wird die Propaganda der Macht zu einer nicht unwesentlichen und vor allem glaubwürdigen Quelle: der französische Verfassungsschutz (S.27), der Personalmanager von Daimler-Benz (S.30), ein israelischer Offizier (S.40), die Witze von Führungskräften (S.46) oder die erstbeste Meinungsumfrage (S.47) erfüllen somit den Zweck. In Der kommende Aufstand wurde alles gleichgemacht, durch Kontrolle und Repression zermalmt. Es ist nicht die Welt, die darin beschrieben wird, sondern die Wüste, die sich die Macht erträumt, die Darstellung, die sie von sich selbst gibt. Doch diese Quasi- Abwesenheit einer Dialektik zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist kein Zufall: ein jeder Leser soll sich in der Wahrnehmung des totalitären Albtraums wiederfinden können und sich daran erschrecken. Es geht nicht darum, ihn zu überzeugen, und noch weniger darum, die Mechanismen der Zustimmung oder der freiwilligen Beteiligung an der eigenen Unterwerfung aufzuzeigen. Die Tatsache, ihn die pseudo-universelle Hölle teilen zu lassen, hat den Sinn, ihn anschließend in einem Stück retten zu können, wenn er sich nur dem großen Wir und seinen subjektiven Intensitäten anschließt.

Während es in apokalyptischem Ton das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt zur Kenntnis nimmt, indem es die verschiedenen Milieus Revue passieren lässt, in denen sich dieses abzeichnet, verweilt das Unsichtbare Komitee bei den am unmittelbarsten wahrnehmbaren Auswirkungen des Desasters, während es über die möglichen Ursachen stets schweigt. Es informiert uns beispielsweise darüber, dass: “das allgemeine Unglück nicht mehr aushaltbar ist, sobald es als das erscheint, was es ist: ohne Grund noch Boden.” (S. 47). Ohne Grund noch Boden? Bloß keine scharfen Analysen des Bestehenden, weder die mehr kommunistischen gegen den Kapitalismus, noch die mehr anarchistischen gegen den Staat. Das wäre nicht mehr vage genug, und ausserdem gibt es dafür andere Texte, wie jene, die einem kleinen Milieu vorbehalten sind (die beiden Ausgaben der Zeitschrift Tiqqun, welche sich 2001 selbst auflöste, oder der Appel [Aufruf], ein Buch, das in Frankreich im Jahr 2003 erschien, wovon ein Auszug den Umschlagtext der 4. Auflage von Der kommende Aufstand bildet). So führen die politische Ohnmacht oder das ökonomische Scheitern, wenn sie in diesem Pamphlet auftauchen, nie zur Entwicklung einer radikalen Kritik an der Politik oder an den Bedürfnissen, denn diese Themen dienen nur als Vorwand für eine Unbehagen erzeugende Beschreibung, die das später folgende aufwerten soll. Als Verlagsware entstanden, wurde Der kommende Aufstand schlicht erdacht und geschrieben, um die “breite Öffentlichkeit” zu erreichen. Und da diese “breite Öffentlichkeit” aus Zuschauern besteht, die gierig nach unmittelbar konsumierbaren Emotionen verlangen, da ihr jede Idee widerstrebt, die einem ganzen Leben Sinn geben könnte, darum geben wir ihr lieber einfache Bilder, an denen sie sich ohne große Anstrengungen festklammern kann. Um sie besser bei der Hand nehmen zu können, ist es ebenfalls notwendig, sie in den Aufbau eines großen, kollektiven “Wir” miteinzubeziehen, das man gegenüber dem nichtswürdigen individuellen Ich verherrlichen wird. Das Individuum, das bekanntlich nur als Werbeslogan von Reebock existiert (“I am what I am”), wird schnell als ein Synonym von “Identität” (S.13) oder “Zwangsjacke” (S.80) beseitigt. Es sind nämlich die berüchtigten Banden, die “die ganze Freude, die möglich ist” (S.20) verkörpern sollen. Diese sind nicht länger das komplexe Produkt des Sich-Durchschlagens und der Einschließung, der gegenseitigen Hilfe (was nicht dasselbe ist wie Solidarität) im Überleben und des Konkurrenzkampfes, sondern die Selbstorganisationsform par excellance, von der wir uns inspirieren lassen sollten. In einem anderen Buch resultiert daraus noch expliziter: “Die Aussicht Gangs zu bilden erschreckt uns nicht; als Mafia zu gelten belustigt uns eher.” (Aufruf, Proposition V).

Wie andere bereits feststellten, sehen die Redakteure von Der kommende Aufstand “schon jetzt im Zerfall aller sozialen Formen einen “Glücksfall”: So wie die Fabrik für Lenin die Armee der Proletarier formte, so formt das moderne “imperiale” Chaos für diese Strategen, die auf die Wiedereinrichtung von bedingungslosen Solidaritäten im Clan-Stil setzen, die Banden, die Basiszellen ihrer imaginären Partei, welche sich zu “Kommunen” zusammenschließen, um in Richtung Aufstand zu gehen.”[5]. Nur angehenden Schafhirten gefällt der Gestank der Herde, “der Zusammenschluss einer Vielfalt von Gruppen, von Komitees, von Banden” (S. 95) und alles, was einen genügend ausgeprägten Herdencharakter haben könnte, um darüber Kontrolle auszuüben. Die Einzigartigkeit muss verworfen werden, sie gestattet nicht, über eine ausreichende Masse an Arbeitskraft zu verfügen.

Es wird auch gesagt und wiederholt, dass diese Gesellschaft unerträglich geworden ist, dies aber vor allem, weil sie ihre Versprechen nicht gehalten hat. Und wenn dem nicht so wäre? Wenn “das Volk” nicht aus “seinen ländlichen Gebieten”, “seinen Straßen”, “seinen Stadtvierteln”, “seinen Eingangshallen der Wohnblöcke” (S.87) verdrängt worden wäre, wenn wir nicht “unserer Sprache durch den Unterricht”, “unserer Lieder durch die Popmusik”, “unserer Stadt durch die Polizei” (S.18) enteignet worden wären?… Könnten wir dann vielleicht noch immer glücklich in unserer Welt leben? Als ob sie uns je gehört hätte, diese Welt, als wären nicht eben diese Viertel oder diese Städte ein Abbild unserer Enteignung, etwas, das es zu zerstören gilt. Als wäre die Aneignung der gefängnishaften Architektur durch die Armen nicht gerade eines der ultimativen Zeichen der Entfremdung. Niemand kann “diese Viertel beneiden” (S. 18) und schon gar nicht, weil dort die “informelle Ökonomie” herrscht. Die jesuitischen Unterscheidungen zwischen der Mafia und dem Staat, oder zwischen den verschiedenen Ausdrücken der Warenherrschaft, das heißt, das kleine Spiel der taktischen Präferenzen zwischen den verschiedenen Gesichtern des Meisters überlassen wir gerne dem Komitee. Wir für unseren Teil ziehen es vor, gegen die Autorität und die Wirtschaft als solche zu kämpfen.

Nach soviel Verkennung eines vielseitigen sozialen Krieges, der nicht einem Subjekt (dem revoltierenden Jugendlichen aus den Banlieus) vorbehalten ist, fragt man sich im Laufe der Seiten doch manchmal, ob die Schreiber dieses kleinen Buches nicht vielleicht aus Unwissenheit zu Werke gehen, während sie vielleicht schlicht das Spiegelbild der Leser sind, an die sie sich richten, derjenigen, die im ganzen Leben der “Siedlungen” nur Bullen und junge Krawallanten sehen, derjenigen, die ihre Rechnung mit der Familie begleichen, indem sie Verbindungen aufrechterhalten, um so die soziale Subversion zu subventionieren (S.23), derjenigen, die “sich von einem Ende des Kontinents zum anderen und ohne große Probleme auf der ganzen Welt “frei bewegen”” (S.73), oder sich sogar am Wahlzirkus beteiligen können, während sie den Eindruck haben, irgendeine subversive Geste zu vollführen (“wir beginnen zu durchschauen, dass in Wirklichkeit gegen die Wahl selbst weiter gewählt wird” (S. 11)).

Der Aufstand als Vervielfältigung von Kommunen

Wenn man uns von der modernen Hölle erzählt, wo will man damit schließlich hin? Zu welchem Morgenrot wird uns das Ende dieser zusammenbrechenden Zivilisation führen, dieser Zivilisation, die uns nichts mehr zu bieten hat; die angeblich sogar, wie ein reibungslos funktionierender Mechanismus, “die Mittel ihrer eigenen Zerstörung” produziert (und dies ist kein Hinweis auf die permanente nukleare Katastrophe, sondern auf… “die Vervielfachung der Handys und der Internetzugänge”! (S. 43))?

Der Aufstand, der in diesem Buch beschrieben wird, hat bei genauerer Betrachtung keinen anderen Zweck, als die Beschleunigung des großen Zusammenbruchs, ohne seine eigene Überwindung erreichen zu wollen, die ihn beispielsweise nach der Anarchie (oder, für andere, nach dem Kommunismus) ausrichten könnte. Der Aufstand ist sein eigenes Ziel und genügt sich selbst. “Wir arbeiten an der Bildung einer kollektiven Kraft, welcher ein Ausruf wie “Tod dem Bloom!” oder “Nieder mit dem jungen Mädchen!” genügen würde um tagelange Krawalle zu provozieren.”, merkten schon die Tiqqunianer nicht ohne Lächerlichkeit an [6]. Mehr als um Nihilismus – im Stil von jenseits dieser Welt gibt es nur diese Welt, ohne Zukunft oder Möglichkeiten – geht es hier um einen revidierten Millenarismus, demnach die apokalyptische Zukunft bereits in der Gegenwart verborgen liegt und demnach diese völlig losgetrennt zu sein scheint von unseren gegenwärtigen und bewussten (oder unbewussten) Handlungen. Man bräuchte lediglich in der Lage zu sein, diesen letzten Todeskampf zu empfangen, um daraus einen befreienden und reinigenden Moment zu machen, und Partei zu ergreifen für den großen, zerstörerischen Aufstand, indem man sich als Kraft konstituiert. Es geht hier nicht nur darum, dass einem der katastrophenliebende Realismus einer solcher Position fraglich erscheinen mag, sondern auch darum, dass es im hypothetischen Fall einer solchen Situation durchaus denkbar wäre, dass dieser Aufstand schlicht zu Umstrukturierungen der Macht, und nicht zwangsweise zu einer wirklichen Veränderung der Welt führen würde, die jegliche Herrschaft untergräbt. Die “Kommunen” scheinen folglich nie als Grundlagen eines Experimentieres, als eine Spannung gedacht zu werden. Sie sind bereits da: “Jeder wilde Streik ist eine Kommune, jedes auf klaren Grundlagen kollektiv besetzte Haus ist eine Kommune” (S. 81)

Im Übrigen ist diese Frage für das Komitee so vage, dass es sich eingesteht: “Ein Aufstand – wir wissen nicht einmal mehr, womit das anfängt.” (S. 74). Mit Unruhen, wäre man versucht zu antworten. Oder mit einer Revolte, die sich sozial ausbreitet, obwohl sie zunächst das Werk einer Minderheit ist. Aber nein, das ist schon viel zu verpflichtend für sie. Lieber die Frage offen lassen, um möglichst viele Neugierige anzuziehen, lieber die Themen meiden, worüber die Geister aufleben und sich scheiden. Lieber weiterhin die Realität des Antagonismus vereinfachen, indem diese als eine Gesamtheit präsentiert wird, die man nur ausgehend von einem hypothetischen Anderswo angreifen kann, durch eine “Abspaltung”, indem man sie “überholt” (S.88) oder “ein Ensemble von Brennpunkten der Desertation” (Aufruf, Proposition V) bildet. Durch die Tatsache, den Aufstand nicht als einen speziellen Vorgang zu betrachten, mit allem, was ihm vorausgeht, wird vor allem vermieden, darüber nachzudenken, wie, in ihm und aus ihm heraus, für die Zerstörung dieses Systems gekämpft werden kann, während man in der Art und Weise, dies zu tun, bereits die Projektualität einer anderen Welt trägt. Denn dies würde voraussetzen, von der Hypothese auszugehen, die derjenigen der Verfasser dieses Buches entgegengestellt ist.Von einer revolutionären Hypothese, die weder alternativistisch ist (Nischen innerhalb des Bestehenden aufbauen und innerhalb des Kapitalismus bereits heute “einer neuen Idee des Kommunismus Gestalt geben”[7]), noch messianisch (die Unausweichlichkeit der zusammenbrechenden Zivilisation, auf die wir uns vorbereiten müssen). Eigentlich gibt es überhautpt kein Außerhalb, das den sozialen Verhältnissen der Herrschaft entginge und somit ein Stützpunkt bilden könnte, um eine Kraft aufzubauen, die in Richtung Aufstand geht. Diese sozialen Verhältnisse können nur in Momenten des Bruchs untergraben werden. Wie es ein alter Text bereits ausdrückte: “Keine Rolle, wie gesetzlich riskant sie auch sei, kann die reelle Veränderung der Beziehungen ersetzen. Es liegt keine Abkürzung zur Hand, es gibt keinen unmittelbaren Sprung ins Anderswo. Die Revolution ist kein Krieg.”[8].

Eine andere Frage, welche üblicherweise mit dem Aufstand aufkommt, ist jene der Beziehungen und der Affinität (das Teilen einer allgemeinen Perspektive und von Ideen), was nicht dasselbe ist wie die Affektivität (ein vorübergehendes Teilen von gewissen Situationen und Gefühlen, wie beispielsweise Wut). Erwartet auch hier nicht, eine Antwort zu bekommen, denn das Komitee zieht sich mit einer Pirouette aus der Affäre: “Jede Affinität ist Affinität in einer gemeinsamen Wahrheit.” (S. 77). Die Sache ist simpel. Anstatt von den individuellen Verlangen auszugehen, Verlangen, die somit zwangsläufig verschieden und vielfältig sind, genügt es, von sozialen Situationen auszugehen, die leicht als gemeinsame wahrnehmbar sind, und daher “Wahrheiten” genannt werden. Denn das Komitee interessiert sich nicht für Ideen, die entwickelt werden, es bevorzugt Wahrheiten, die uns besitzen. “Eine Wahrheit ist keine Sicht über die Welt, sondern das, was uns mit ihr auf unreduzierbare Weise verbunden hält. Eine Wahrheit ist nicht etwas, das man besitzt, sondern etwas, das einen trägt.” (S. 76). Die Wahrheit ist messianisch, äusserlich und objektiv, eindeutig und über jeden Zweifel erhaben. Es genügt, das Gefühl dieser Wahrheit zu teilen, um sich gemeinsam aufgrund von Banalitäten im Stil von “wir müssen uns organisieren” zusammenzufinden. Um die Verzauberung nicht zu durchbrechen, ist ein Beispiel einer solchen Wahrheit, die wir schlucken müssen, dass die Sackgasse, in der sich die soziale Ordnung befindet, sich in eine Schnellstraße Richtung Aufstand verwandeln wird, und dass eine Verlängerung dieser Agonie beispielsweise unmöglich sei. Und da alles unausweichlich ist, kann also jeder angenehm vermeiden, sich Fragen zu stellen, wie “auf welche Art und Weise können wir uns organisieren”, “um was zu tun”, “mit wem” und “warum”?

So verschwände dann auch die alte Debatte zwischen der Vorstellung, dass die Zerstörung der alten Welt ein unumgänglicher Moment ist, der jeder wirklichen sozialen Veränderung vorausgehen muss, und der Überzeugung, dass das Wachsen neuer Lebensformen an sich ausreichen wird, um die alten autoritären Modelle auszulöschen, wodurch jede direkte generalisierte Konfrontation mit der Macht überflüssig wird. Das unsichtbare Komitee nämlich, ist bestens in der Lage, diese seit jeher entgegengesetzten Spannungen problemlos in Einklang zu bringen. Einerseits wünscht es sich “eine Vielheit von Kommunen, die an die Stelle der Institutionen der Gesellschaft treten: Familie, Schule, Gewerkschaft, Sportverein, etc.” (S. 80), andererseits aber rät es, “sich nicht sichtbar zu machen, sondern die Anonymität, in die wir verbannt wurden, zu unseren Gunsten zu wenden und durch die Verschwörung, durch die nächtliche oder maskierte Aktion aus ihr eine unangreifbare Angriffsposition zu machen.” (S. 91) Auch hier ist wieder für jeden Geschmack etwas dabei: für die Alternativen, die sich ruhig auf dem Land niederlassen wollen (für die die Kommune die glückselige Oase in der Wüste des Kapitalismus ist), sowie für die Feinde dieser Welt (für die die Kommune Synonym ist für das aufständische Paris von 1871).

Auf die selbe Weise wie die modernen Verteidiger der “nicht-staatlichen, öffentlichen Sphäre” (von den verblüffendsten anarchistischen Militanten bis zu den gewandtesten negristischen “Ungehorsamen”), behauptet auch das Unsichtbare Komitee: “Indem die lokale Selbstorganisation ihre eigene Geografie der staatlichen Kartografie aufzwingt, verwischt sie diese und macht sie ungültig; sie produziert ihre eigene Abspaltung” (S. 87). Doch während erstere in der progressiven Verbreitung von Erfahrungen von Selbstorganisation eine Alternative zur aufständischen Hypothese sehen, schlägt das Komitee eine strategische Integration von Wegen vor, die bisher für unvereinbar gehalten wurden. Es ist nicht mehr entweder Sabotage oder kleiner Laden, sondern Sabotage und kleiner Laden. Tagsüber Kartoffeln pflanzen und nachts Leitungsmasten fällen. Die Tagesaktivität wird gerechtfertigt durch den Unabhängigkeitsanspruch gegenüber den Diensten, die vom Markt und vom Staat angeboten werden, und die Tatsache, sich eine gewisse materielle Autonomie verschaffen zu wollen. (“Wie ernährt man sich, wenn alles lahmgelegt ist? Das Plündern der Läden, wie es in Argentinien gemacht wurde, hat seine Grenzen” (S. 102)). Die Nachtaktivität beruht auf dem Anspruch, die Flüsse der Macht zu unterbrechen (“Damit inmitten der Metropole etwas entstehen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, ist die erste Geste, ihr Perpetuum Mobile zu stoppen.” (S. 43)) Die Schreiber fragen sich also: “Warum sollten sich die Kommunen nicht bis ins Unendliche vervielfachen? In jeder Fabrik, in jeder Straße, in jedem Dorf, in jeder Schule. Endlich das Reich der Basiskomitees!” (S. 80) Denn warum sollte die alte Illusion der 70er Jahre über “bewaffnete Kommunen”, die nicht nur ihr eigenes befreites Gebiet verteidigen, sondern auch zum Angriff gegen die Gebiete übergehen, die noch in den Händen der Macht sind, nicht realisierbar sein?

Die Antwort verbirgt sich in dem Widerspruch, den die Autoren des Büchleins zu überwinden gedenken: Außerhalb eines aufständischen Kontexts kann sich eine Kommune nur durch die Spielräume aufrecht halten, die von der Macht offen gelassen werden. Ihr Überleben bleibt an ihren nicht-offensiven Charakter gebunden. Solange es darum geht, in biologischen Gärten ohne Gott noch Meister Karotten anzupflanzen, in Volksküchen Mahlzeiten zu niedrigen Preisen (oder gratis) anzubieten, Kranke in selbstverwalteten Kliniken zu pflegen, solange mag alles noch gut gehen. Dass sich jemand um die Lücken in den sozialen Dienstleistungen kümmert, kann eigentlich ganz nützlich sein, und auch das Schaffen einer Abstellfläche für Randständige, weit entfernt von den Schaufenstern der Metropole, kann ganz praktisch sein. Kaum zieht man aber los, um Jagd auf den Feind zu machen, geht die Sache schief. Eines Tages wird die Polizei an der Tür klopfen und die Kommune bricht zusammen oder verkleinert sich. Der zweite Grund, der jeglichen Versuch einer Verbreitung von “bewaffneten Kommunen” außerhalb eines Aufstands sinnlos macht, hat mit den materiellen Schwierigkeiten zu tun, mit denen derartige Experimente zu kämpfen haben, die bald eine Unmenge an Problemen und einen chronischen Mangel an Ressourcen aufkommen sehen. Da lediglich einige Privilegierte in der Lage sind, jede Schwierigkeit in der kurzen Zeit zu lösen, die es braucht, um einen Scheck zu unterschreiben, sehen sich die Teilnehmer der Kommunen fast immer gezwungen, ihre ganze Zeit und Energie dem internen “Funktionieren” zu widmen.

Kurzum, um bei der Metapher von vorhin zu bleiben, neigt die Tagesaktivität einerseits dazu, mit ihren Erfordernissen alle Kräfte auf Kosten der Nachtaktivität zu verschlingen, während die Nachtaktivität und ihre Konsequenzen andererseits dazu tendieren, die Tagesaktivität zu gefährden. Und früher oder später platzt diese Spannung. Dies soll nicht heißen, dass die Bedeutung und der Wert solcher Erfahrungen aberkannt werden sollten, es bedeutet aber, dass man ihnen nicht einen Inhalt und eine Tragweite geben kann, die sie nicht haben: nämlich, dass sie an sich bereits Bruchmomente seien, die durch ihre Verbreitung den Aufstand bilden werden. Wie Nella Giacometti bereits 1907 nach der Erfahrung von Aiglemont anmerkte, ist “eine Kolonie, gegründet von heutigen Menschen und gezwungen, am Rande der gegenwärtigen Gesellschaft zu bestehen, sowie aus ihren Ressourcen zu schöpfen, unweigerlich dazu bestimmt, nichts weiter zu sein, als eine groteske Imitation der bourgeoisen Gesellschaft. Sie kann uns nicht das Modell von Morgen liefern, da sie allzu sehr das alte Modell von Heute in sich wiederspiegelt, wovon wir alle unbewusst durchdrungen sind und das uns entstellte.”[9]

Was die Tatsache betrifft, das Konzept der “Kommune” auf jeglichen Ausdruck von Rebellion oder Revolte auszuweiten und den Aufstand als die Summe all dieser zu erklären, so ist dies eine weitere geschickte Formulierung des Komitees, das um den heißen Brei herum redet, ohne der Frage auf den Grund zu gehen. Wenn die Gesamtheit der subversiven Praktiken den Aufstand bildet, dann ist dieser nicht am kommen: er ist bereits hier. Habt ihr das nicht bemerkt? Diese Verwirrungsstiftungen ermöglichen es dem Unsichtbaren Komitee gleichermassen jene zufrieden zu stellen, die nach der Befriedigung ihrer alltäglichen Bedürfnisse streben, wie jene, die für die Realisierung ihrer utopischen Wünsche kämpfen, es gleichermassen jenen Recht zu machen, die sich dem Verständnis der “Biologie des Planktons” (S. 86) widmen, wie jenen, die sich Fragen stellen im Stil von “Wie macht man eine TGV-Strecke und ein elektrischesVerbundnetz unbrauchbar?” (S. 90). Schön und gut, wenn das Komitee auf rein theoretischer Ebene behaupten kann, dass sich all diese Praktiken gegenseitig in ihrem Interesse ergänzen, es schreitet dennoch keinen Schritt voran in der Frage, was diese Formen entwickeln, im Wofür, das ihnen als einziges wirklich Bedeutung gibt, während es davon ausgeht, dass eine Gesamtheit von Dagegen ausreichen würde. Einer der Zwecke dieser Verherrlichung von Formen der Feindschaft unabhängig von ihrem Inhalt liegt vielleicht im expliziten Willen des Komitees “Frontlinien auf weltweiter Ebene” (S. 78) zu entwerfen, also nicht die Leidenschaft für ein Leben ohne jede Form von Herrschaft zu vertiefen, sondern alle möglichen Arten von Allianzen zu bilden, die nur durch diese Abwesenheit eines gemeinsamen positiven Inhaltes möglich werden.

Schließlich weckte noch ein letzter Punkt unsere Neugierde: Wenn dieses Buch schon kein Warum des Aufstands definiert, kann es dann wenigstens auf die Frage nach dem Wie eine Antwort geben? Auch hier wird der Stil erlauben, die Hürde geschickt zu umgehen: “Was die Entscheidung über Aktionen betrifft, könnte das Prinzip so sein: dass jeder auf Erkundung geht, dass man die Informationen in Übereinstimmung bringt, und die Entscheidung wird von selbst kommen, sie wird uns treffen, mehr als das wir sie treffen!” (S. 101)

Unnütz, seine Zeit mit langweiligen Debatten über die anzuwendende Methode und das anzustrebende Ziel zu verschwenden, Debatten, die ausserdem den Nachteil haben, Uneinigkeiten hervorzurufen. Machen wir uns auf die Suche nach Informationen, und die Entscheidung wird von selbst kommen, schön, leuchtend und brauchbar für alle. Braucht ihr noch weitere Erklärungen? Dann werft kurz einen Blick auf die historischen Referenzen im Aufruf und in Der kommende Aufstand und zeigt etwas Vorstellungskraft. Wenn “der Brand vom November 2005 ihr Modell ist” (S. 91), dann ist das nur in den Worten, denn die Aktion, die den Schreibern vorschwebt, gleicht eher der einer Black Panthers Partei angeführt von Blanqui (sei es nun die Bildung einer “Partei des Aufstands” oder die “permanenten kollektiven Organisation”[10]). Diese autoritäre Rumpelkammer, die mit schwammigen Anmerkungen wie der “Dichte” der Verbindungen oder des gemeinschaftlichen “Geistes” (S. 80) ergänzt wird, vollendet den konfusen Charakter dieses Buches, der, wie bereits gesagt, nicht seine Schwäche, sondern sein größter Trumpf ist. Der kommende Aufstand entspricht der heutigen Zeit, geht völlig mit der Mode. Er besitzt die Qualitäten des Moments: eine Flexibilität und eine Elastizität, um sich an alle Umstände in einem rebellischen Milieu anpassen zu können. Er gibt ein gutes Bild ab, hat Stil und scheint jedem sympathisch, da er allen Recht gibt, ohne niemanden völlig zu verärgern.

Lasst uns nun zum Ausgangspunkt dieser Rezension zurückkehren und ein Buch, dessen Redakteure sich entschieden, es bei einem gauchistischen Handelsverlag herauszugeben und es in den Tempeln des Konsums verteilen zu lassen, ausnahmsweise einmal beim Wort nehmen. Wenn es deutlich ist, dass “die Aufgabe der kulturellen Milieus es ist, die aufkeimenden Intensitäten ausfindig zu machen und einem den Sinn dessen, was man macht, zu entwenden” (S. 79), dann müssen wir die Heuchelei, ihre Exkurse auf feindliches Gebiet als heile Taktik durchgehen zu lassen, obwohl es sich doch offensichtlich um nichts anderes als politische Spekulation handelt, den Opportunisten überlassen. Welch seltsame Idee, eine Abtrennung oder Autonomie gegenüber den Institutionen voranzustellen, wenn sich die Autoren doch organisieren, um freiwillig in ihnen Fuß zu fassen und sich ohne Gewissensbisse an ihnen zu beteiligen!

Eine revolutionäre Bewegung, die vom Willen angetrieben wird, einen Bruch mit dem Bestehenden zu erreichen, hat die Bestätigung der sozialen Ordnung, die sie kritisiert, nicht nötig. Der kommende Aufstand in den Schaufenstern aller Buchläden ist nichts als die Karikatur und die Verwandlung in eine Ware des Aufstands, der sie alle einschlagen könnte.

Einige Aufständische ohne Augenbinden

September 2010

[A Corps Perdu – internationale anarchistische Zeitschrift #3, Juni 2012]

[1] Französische Handelskette für Unterhaltungsprodukte (Bücher, Tonträger, etc.)

[2] Exklusiv-Interview mit Julien Coupat in Le Monde, 25. Mai 2009

[3] Agamben, Badiou, Bensaïd, Rancière, Nancy und andere wahrhaftige Demokraten: “Non à l’ordre nouveau”, Le Monde, 28. November 2008

[4] Unsichtbares Komitee, Mise au point [Klarstellung], 22. Januar 2009, S. 4

[5] Réne Riesel und Jaime Semprun, Catastrophisme, administration du désastre et soumission durable, Encyclopédie des nuissances, Juni 2008, S. 41–42

[6] Tiqqun, Nachwort vom März 2004 zur italienischen Ausgabe der Theorie vom Bloom, Bollati Boringhieri, November 2004, S.136. Wir weisen ausserdem bei dieser Gelegenheit auf das kleine Spiel von Korrespondenzen zwischen den siamesischen Zwillingen Tiqqun, Aufruf und Der kommende Aufstand hin: In diesem Nachwort empfiehlt Tiqqun der “italienischen Öffentlichkeit” die Lektüre des Aufruf, während Der kommende Aufstand aus diesem sein Deckblatt der 4. Auflage machte. Schließlich enthält der zweite Text des Unsichtbaren Komitees, Mise au point, diskret Unten auf der dritten Seiten eine Internetadresse, welche diese verschiedenen Schriften versammelt und andere Texte, mit denen sie im Zusammenhang stehen (wie jene des Comité de la Sorbonne en exil).

[7] Unsichtbares Komitee, Mise au point, 22. Januar 2009, S. 3

[8] In offener Feindschaft mit dem Bestehenden, seinen Verteidigern und seinen falschen Kritikern, Frühling 2010 (1998), S. 41

[9] Ireos, Una colonia comunista, Biblioteca de la Protesta Umana (Milano), 1907.

[10] Vorschlag 14 des Comité d’occupation de la Sorbonne en exil, Juni 2006 & Vorschlag von Jardin s’embrase, Les mouvements sont faits pour mourir, Tahin Party (Lyon), August 2007, S.114


Blanqui oder der staatliche Aufstand

Louis Auguste Blanqui (1805-1881) hat uns höchstens einen Slogan und ein Buch hinterlassen. Ersteres, Ni Dieu, Ni Maître (Weder Gott noch Meister), wurde auch der Name einer Zeitschrift, die er im November 1880, einige Monate vor seinem Tod, gründete. Letzteres ist das faszinierende L’eternité à travers les astres, méditiations sur l’existence de mondes parallèles et le retour éternel (Die Ewigkeit durch die Sterne, Ansichten über das Bestehen von parallelen Welten und die ewige Wiederkehr). Ein Schlachtruf und ein philosophisches Werk über Astronomie: das ist alles wofür Blanqui es verdient, erinnert zu werden. Den Rest schmeißen wir mit viel Freude auf den Müllhaufen der Geschichte, von seinen anderen Zeitschriften (wie La Partie est en Danger) bis zu seiner avantgardistischen und autoritären Politik.

Nicht jeder teilt diese Sicht. In letzter Zeit gibt es sogar einige, die sich abmühen, um seinen Namen, der für die Vergessenheit bestimmt zu sein schien, wieder auszugraben. Seine Wiederentdeckung wurde von Subversiven einer autoritären Couleur gestartet, die nachdrücklicher, weniger steif und gewandt im Trend der Zeit sind. Angesichts des immer heftigeren Zusammenstürzens dieser Gesellschaft, angesichts des fortwährenden Aufloderns der Brandherde der Krawalle, werden sie einsehen, dass es wahrscheinlicher (und auch wünschenswerter) ist, dass sich ein Aufstand hervortut, als ein Wahlsieg der Linksextremen (die sich dann übrigens in einer zu verwaltenden und lösenden Situation wieder finden würden, aus der es keine schmerzlosen Auswege gibt). Um also von diesem Standpunkt auszugehen, würden sie Gefahr laufen, den Anarchistenbauerntrampeln freies Spiel zu geben, den einzigen, die die aufständische Perspektive niemals über Bord geworfen haben, auch nicht in den grausten Jahren der sozialen Befriedung. Die linken Vorväter der sozialen Kritik, die so genannten “Klassiker”, konnten keine nennenswerte Hilfe sein, da diese schon vor langer Zeit ihren Glanz verloren hatten. Nachdem sie mehr als ein Jahrhundert auf ihren Altären gestanden sind, nachdem ihr Gedankengut wie ein strahlender Feuerturm im Zentrum eines revolutionären Wirbelwinds stand, der mit dem beschämendsten aller Schiffbrüche beendet wurde, bieten ihre Namen keine Garantie mehr. Viel schlimmer noch, sie verursachen wirklich allergische Abstoßreaktionen. Blanqui, der vergessene Blanqui, der größte Vertreter des autoritären Insurrektionalismus besitzt also alle Charakteristiken um ein alternativer, origineller und charismatischer historischer Bezug zu sein, den kommenden Zeiten gewachsen.

Marx, der die Lehnstühle im British Museum warm gehalten hat, um zu erklären, was der Mehrwert oder die formelle Akkumulation des Kapitals ist, oder Lenin, der im Zentralkomitee beschäftigt damit war den Triumph der Parteibürokratie vorzubereiten, also bitte, seien wir uns ehrlich, davon wird man doch nicht mehr entfesselt. Blanqui jedoch, großer Gott, was für ein Mann! Zuallererst löst sein Leben – als Protagonist von vielen aufständischen Versuchen und mit seinem Beinamen l’Enfermé, da er mehr als 33 Jahre innerhalb der Mauern eines der französischen kaiserlichen Gefängnisse verbracht hat – einen derartig bedingungslosen Respekt aus, dass jede eventuelle Kritik, die nicht schon in Stille verstummt ist, doch zumindest etwas vorsichtiger wird. Und dann gibt es noch seine überwältigende Militanz, seine unaufhörliche Agitation und seinen inbrünstigen Aktivismus… und das ganze zusammen mit einer einfachen und unverzüglichen Sprache, die ein kommunistisches Gedankengut ausdrückt, hartnäckig gegen den kalten marxistischen Ökonomismus. Darin verbirgt sich seine heutige Anziehungskraft. Beim Mangel an kritischem Zurückblicken dieser Zeiten, in denen die Augen nur scharf sehen um Allianzen zu bilden, kann Blanqui nahezu durch jeden geschätzt werden: sowohl durch die Antiautoritären, geil auf die Aktion, als auch durch die Autoritären, besorgt um die Disziplin. Blanqui könnte die perfekte Synthese zwischen zwei Geisteshaltungen sein, die im Lauf der Geschichte die revolutionäre Bewegung geformt und geteilt haben. Seinerzeit wurde er von den Gelehrten des wissenschaftlichen Sozialismus ein Bisschen von oben herab behandelt (welche seine guten Absichten erkannten, ihm jedoch letztendlich die gleichen Fehler vorwarfen, die sie auch Bakunin zuschrieben) und von den Feinden jeder Autorität entschieden bekämpft, heute – im vollkommenen Untergang der Bedeutung – hat er alle Karten in der Hand um Revanche zu nehmen.

Denn Blanqui ist nicht nur ein permanenter und feuriger Agitator (jetzt werden die Libertären ohnmächtig vor lauter Emotion), er ist auch ein permanenter und berechnender Führer (und jetzt brechen die Waisen des Staatskommunismus in Applaus aus). Er vereinigt den Mut der Barrikaden mit dem Märtyrertum des Gefängnisses, das Auge verirrt sich im Durchforschen des Sternenzelts. Er formuliert keine großartigen theoretischen Pläne, komplizierten Ausarbeitungen, die unverdaubar sind für den eingeengten Magen von heute, er gibt Anweisungen für den Aufmarsch. Er täuscht keine tiefgehenden Gedanken vor, die unmittelbaren Reflexe reichen aus. Er ist die perfekte revolutionäre Ikone, um heute auf den Markt gebracht zu werden, heutzutage, wo die komplizierten Systeme, über die man sich den Kopf zerbrechen muss, nicht mehr willkommen sind. Heute will man intensive, konsumierbare Emotionen. Und Blanqui langweilt nicht mit abstrakten Diskursen, er ist ein praktischer Mensch, direkt, jemand, dem man zuhören kann, von dem jeder etwas lernen kann und einer dem man vertrauen kann. Deshalb wurde er wieder ausgegraben. Denn unter den vielen Reinkarnationen der revolutionären Diktatur ist er der einzige, der möglicherweise als faszinierender Abenteurer durchgehen kann, anstatt sofort als dreckige Machtfigur entlarvt zu werden. Mit eineinhalb Jahrhunderten Verspätung angelt sich Blaunqui jeden. Hätte er ein Profil auf Facebook, würde es eine Welle an “Gefällt mir” geben.

Seine Neuaufwertung wird auch durch seine Aktionstaktitk verlockender gemacht. Hast Du in letzter Zeit gesehen, wie die Arbeiterklasse die Bourgeoisie terrorisiert oder eher ein Lächeln auf den Gesichtern der Industriebosse? Hast Du gemerkt wie das Proletariat für seine eigene Emanzipation kämpft, oder eher wie es der Polizei die Hitzköpfe ausliefert? Hast Du Straßen erschüttern gehört durch die aufständigen Massen, die auf den Palast zustürmen, oder hast Du eher Massen an Hooligans gesehen die zum Stadion rennen. Hast Du die Ausgebeuteten gesehen wie sie sich für die radikale Sozialkritik begeistern, oder eher für die nächste Folge einer Reality-Show. In seinen Memoiren erinnert sich Bartolomeo Vanzetti an die nächtlichen Stunden die er mit Büchern verbrachte, Stunden die er bewusst nicht für die Erholung der Strapazen seiner Arbeit in Betracht zog. Er war ein Arbeiter, aber er widmete seine freie Zeit dem Studium: um zu verstehen, um zu wissen, um kein Teil der Maschine des Kapitals mehr zu sein (oder der Dialektik irgendeines Intellektuellen). Heutzutage haben die dunklen Augenringe der Arbeiter eine ganz andere Ursache. Wer am laufenden sozialen Krieg teilnehmen will, muss deshalb diese Offensichtlichkeit berücksichtigen: der Masse ist die Revolution scheißegal.

Aber das ist wahrlich kein Problem mehr, und weißt Du warum? Weil die Massen Blanqui scheißegal waren. Er brauchte sie nicht, ihm genügte eine scharfsinnige, handlungsfähige, unverschämte Elite, die bereitstand um einen gut kalibrierten Schlag im passenden Moment auszuführen. Die Massen würden sich, so wie gewöhnlich, schon an die vollendeten Tatsachen anpassen. Auch direkt inmitten der heutigen kapitalistischen Verfremdung gibt es also noch jemanden, der uns erneut Hoffnung gibt.

Die Leninisten sind überholt, die es noch immer nicht eingesehen haben, dass es sich nicht mehr auszahlt die große Partei zu bilden, die es schafft die Ausgebeuteten zu führen. Auch die Anarchisten sind überholt, denn die sind derartig dumm, dass sie nicht einsehen, dass es kein Bewusstsein mehr unter den Ausgebeuteten zu verbreiten gibt, um zu vermeiden, dass sie in die Hände der Parteien fallen. Was sich auszahlt ist, was sein kann, in anderen Worten, eine handvoll eingeschworener Subversiver, die im Stande sind die richtige Strategie auszuarbeiten und anzuwenden. Ein schneller Eingriff und die soziale Frage ist gelöst! Man muss zugeben – Blanqui ist der richtige Mann, zur richtigen Zeit wiederentdeckt, durch Menschen, die nichts anderes als richtig sein können.

Derartig richtig, dass sie gut aufpassen, um das Gedankengut von Blanqui in seiner Substanz in Betracht zu ziehen, ein Gedankengut, das in vielen Aspekten abscheulich ist. Und das wissen sie. Seine imaginären Freunde sind sich dem derartig bewusst, dass sie sich darauf reduzieren, die Kraft, den Stil, das Gefühl, die Entschlossenheit auf sich wirken zu lassen (zweifelsohne bewundernswerte Qualitäten, die jedoch nicht viel über die Person aussagen, die sie hat: Napoléon, Mussolini oder Bin Laden könnten sich auch damit rühmen). Seine realen Freunde jedoch, wie der Kommunarde Casimir Bouis (der übrigens sein Verleger war), zweifelten nicht am Ansehen von Blanqui: “er ist der kompletteste Staatsmann, besessen von der Revolution.” Die blanquistische Kraft, der blanquistische Stil, das blanquistische Gefühl, die blanquistische Entschlossenheit – alles steht im Dienst eines sehr genauen politischen Projekts: die Eroberung der Macht. Und sogar sein erstaunliches Buch über Astronomie oder sein sehr treffender Slogan, könnten das niemals verschleiern.

Wer weiß warum diese anständigen Menschen, die Lobeshymnen auf einen Verschwörer aus der Vergangenheit, einem Mann der Barrikaden, einem Verfolgten, einer einflussreichen Person der Bewegung anstimmen wollen, nicht an Bakunin gedacht haben? Denn wenn man den Namen Bakunins hört, erinnert man sich an den Dämon der Revolte, ein Synonym für absolute Freiheit, während Blanqui eher ein Synonym der Diktatur ist. Bakunin wollte “die Anarchie”, Blanqui kündigte die “geregelte Anarchie” an (ist dieses Adjektiv nicht entzückend?). Bakunin sprach von “der Entfesslung der bösen Leidenschaften”, Blanqui schrieb vor, dass “kein einziges militärisches Manöver stattfinden vor dem Befehl des führenden Kommandanten dürfe, dass die Barrikaden nur auf jenen Plätzen errichtet werden dürfen, die dieser angibt (jener selbsterkorene, führende Kommandant war, ça va sans dire, natürlich er selbst). Bakunin suchte unter den Verschwörern jemanden, “der vollkommen davon überzeugt war, dass die Kommst der Freiheit unvereinbar mit der Existenz von Staaten sei. Darum musste er die Zerstörung aller Staaten wollen, zusammen mit allen religiösen, politischen und sozialen Einrichtungen, wie die offiziellen Kirchen, die permanenten Armeen, die Ministerien, die Universitäten, die Banken, die aristokratischen und bourgeoisen Monopole. Dies hat zum Ziel, es zuzulassen, dass auf deren Ruinen endlich eine freie Gesellschaft entstehen kann, die nicht länger von oben nach unten, vom Zentrum zur Peripherie organisiert wird, durch eine gezwungene Einheit, sondern ausgehend von freien Individuen, der freien Assoziation und der autonomen Kommune, von unten nach oben und von der Peripherie zum Zentrum organisiert wird, durch die freie Föderation.” Blanqui suchte jemanden, der auf die Frage ob “das Volk sich unmittelbar nach der Revolution selbst regieren könne?” antworten würde: “Nachdem der soziale Staat korrupt ist, brauchen wir heldenhafte Heilmittel um zu einem gesunden Staat zu kommen: das Volk wird für eine bestimmte Zeit eine revolutionäre Macht benötigen.” Jemand der vielleicht seine unmittelbaren Anordnungen durchführen kann, wie “den Austausch jedes vertriebenen Chefs durch ein (staatliches) Monopol… Zusammenführung aller Liegenschaften und beweglicher Güter der Kirchen, Gemeinschaften und Kongregationen beider Geschlechter und die ihrer Strohmänner… Reorganisation des Personals der Bürokratie… Ersatz aller direkten oder indirekten Beiträge durch eine direkte, progressive Steuer auf alle Erbschaften und Einkommen… Regierung: Pariser Diktatur.”

Im Lauf des 19. Jahrhunderts waren Bakunin und Blanqui nicht nur zwei Revolutionäre unter vielen anderen, ihre Namen haben so viel Ruhm bekommen, da sie die Verkörperung zweier unterschiedlicher und gegensätzlicher Ideen darstellen, weil sie vor der ganzen Welt zwei mögliche Richtungen des Aufstands vertraten: den anarchistische Aufstand gegen den Staat und den autoritären Aufstand zugunsten eines neuen Staates (erst republikanisch, später sozialistisch und letztendlich kommunistisch).

Auch heute bedeutet sich dem einen oder dem anderen näher zu fühlen, eine ziemlich eindeutige Wahl. Für Blanqui ist der Staat ein treibendes Instrument der sozialen Transformation, nachdem “das Volk nicht aus der Hörigkeit heraustreten kann, außer mithilfe des Impulses der großen Gesellschaft des Staates und man muss Mut haben um das Gegenteil zu behaupten. Der Staat hat in der Tat keine andere legitime Aufgabe als diese.” In seiner Kritik an den proudhonistischen Ideen behauptete er, dass egal welche Theorie, die das Proletariat befreien wolle, ohne Zuflucht zu nehmen bei der Autorität des Staates, für ihn ein Hirngespinst sei; schlimmer noch, es handle sich “in etwa” um einen Verrat. Nicht dass er so naiv war um Illusionen zu hegen. Er war ganz einfach davon überzeugt, dass “obwohl jede Macht von Natur aus unterdrückend ist”, der Versuch, es ohne Staat zu tun oder sich regelrecht gegen ihn zu wenden, das selbe ist wie “die Proletarier davon zu überzeugen, dass es einfach sei um, mit gefesselten Armen und Beinen zu laufen.”

Und wer die Auferstehung von l’Enfermé als Interesse an der Praktik des Aufstandes kaschieren will, als technische Notwendigkeit ohne gemeinschaftliche Perspektiven, lügt, nur allzu gut wissend, dass er lügt (mit Ausnahme selbstverständlich der lächerlichen, libertären Trotteln, die es nicht wert sind ein Wort über sie zu verlieren). Denn Blanqui suchte tatsächlich nach einer Übereinkunft “auf dem Kernpunkt, ich meine auf der Ebene praktischen Mittel, die in letzter Konsequenz die Revolution sind,” er selbst allerdings versteckte nicht die Beziehung, welche die Aktion mit dem Denken verbindet: “Die praktischen Mittel jedoch, werden abgeleitet aus den Prinzipien und sind abhängig vom Ermessen der Menschen und von den Dingen.” Einer seiner berühmtesten Texte, Instructions pour une prise d’armes, der auch nach den Situationisten, weiterhin viele junge, intellektuelle Generalsanwärter der neuen Roten Armee faszinierte, ist nicht nur ein Handbuch für Aufständische. Es ist kein Zufall, dass der Text bereits 1931 in der Zeitschrift Critique Social publiziert wurde, nicht so sehr angezogen durch seine “anachronistische, strikt ‚militärische’ Seite”, sondern um den “Wert dieses wichtigen Beitrags zur Kritik an den anarchistischen Aufständen” zu unterstreichen. Tatsächlich sind diese Instructions eine unaufhörliche Apologie der Notwendigkeit einer Autorität, die im Stande dazu ist einer Freiheit ein Ende zu bereiten, die als kontraproduktiv angesehen wird. Sie sind das empörte Geschrei eines Mannes der Ordnung, der so viel Unordnung erblickt – “kleine Banden laufen hier und dort herum, entwaffnen die Wächterkorps, nehmen den Musketieren Waffen und Schießpulver ab. Alles passiert ohne Abstimmungen, ohne Führung, nach individueller Phantasie.” Der Text ist eine Anklage gegen “den Mangel einer Volkstaktik, die unumstößliche Ursache der Katastrophen. Kein einziges allgemeines Kommando, also überhaupt keine Führung… Die Soldaten tun vor allem was ihnen ihr Kopf sagt.”

Zusammengefasst: Wenn der Aufstand trotz des Muts und des Enthusiasmus derjeniger, die daran teilnehmen, fehlschlägt, dann aufgrund eines “Mangels an Organisation. Ohne Organisation gibt es keine Chance auf Erfolg.” Das wird auch stimmen, aber wie erlangt man dann diese Organisation, diese Koordination, diese Übereinstimmung unter den Aufständischen? Durch die horizontale Verbreitung eines Bewusstseins, einer Aufmerksamkeit, einer Intelligenz über die Notwendigkeiten des Moments (libertäre Hypothese), die ihm bereits vorausgeht und so umfangreich wie möglich ist, oder durch die vertikale Einführung eines Kommandos, das die Gehorsamkeit aller fordert und durch das alle bis zu diesem Moment in Unwissenheit gehalten werden (autoritäre Hypothese)? Blanqui gibt natürlich seine Anweisungen dazu: “Eine militärische Organisation ist für unsere Partei keine kleine Frage, vor allem wenn man diese auf dem Schlachtfeld improvisieren muss. Es setzt ein leitendes Kommando voraus und bis zu einem gewissen Punkt auch die gewöhnlichen Reihen von Offiziellen aller Ränge.” Mit dem Ziel den “wüsten Krawalle der zehntausenden isolierten Menschen, die zufällig handeln, in einem Durcheinander, ohne einen einheitlichen Gedanken, jeder in seiner Ecke und nach seiner eigenen Phantasie” ein Ende zu bereiten. Blanqui erschöpft sich nicht mit dem Auftischen seines Rezepts: “Es muss immer wieder wiederholt werden: das conditio sine qua non des Sieges ist die Organisation, das Gesamte, die Ordnung und die Disziplin. Es ist schwer vorstellbar, dass die Truppen einem organisierten Aufstand, der mit dem gesamten Apparat einer Regierungskraft handelt, lange Widerstand leisten werden.” Das ist die blanquistische Praxis des Aufstands: eine Organisation, die ihrem Feind gegenüber erbarmungslos ist, die es jedoch weiß in ihrem Inneren Ordnung und Disziplin auszuführen, nach dem Model eines Apparats der Regierungskraft.

Soviel Kasernengestank erweckt bei uns nur Grauen und Verachtung. Auch würde dort eine rote oder schwarz-rote Fahne wehen, die Kaserne wird immer ein Ort der Verpflichtung und der Verrohung bleiben. Der Aufstand, der, statt sich in freien Zügen in Freiheit entwickelt, die stramme Haltung der Autorität annimmt, ist schon von vornherein verloren, ist nichts anderes als das Vorzimmer des Putschs. Glücklicherweise kann man dieser unheimlichen Möglichkeit zum Trotz immer auf den berauschenden Genuss der Revolte vertrauen, die, einmal entfesselt, im Stande ist jedes Kalkül dieser Bettelstrategen über den Haufen zu werfen.

Maurice Dommanget, der Blanqui ein ganzes Leben an Zuwendung gewidmet hatte, berichtete über die Stimmung, die während des aufständischen Versuchs in Paris vom 12. Mai 1839, herrschte: “Blanqui versuchte Anordnungen zu geben, die Desertionen zu verhindern, die ‚Masse zu organisieren’, was eine schwierige Aufgabe war, fast niemand kannte ihn. Alle schrien. Alle wollten befehlen. Niemand wollte gehorchen. Es gab damals einen ziemlich lebendigen und symptomatischen Streit zwischen Barbès und Blanqui, der bis dahin noch von niemandem bemerkt worden war. Barbès beschuldigte Blanqui alle ziehen gelassen zu haben. Blanqui beschuldigte Barbès, dass er mit seiner Trägheit alle entmutigt hatte und den Fortzug der Feigen und der Verräter verursacht hatte.” Als der Aufstand ausbrach, als die Normalität plötzlich aufhörte die menschlichen Möglichkeiten einzubremsen, als alle befehlen wollten, da niemand gehorchen wollte, verloren die sogenannten Chefs jeglichen Einfluss, mühten sie sich sinnlos ab, um Anweisungen zu geben und begannen letztendlich untereinander zu streiten. Das Durcheinander der Leidenschaften ist immer das beste und wirksamste Mittel gegen die Ordnung der Politik und wird es auch immer bleiben.

Vielleicht kann man den Abgrund, der die autoritäre Vorstellung der insurrektionellen Aktion von der antiautoritären Vorstellung trennt, am besten erkennen indem man sie in der gleichen Zeit und im gleichen historischen Kontext miteinander konfrontiert. Nichts kann in dieser Hinsicht lehrreicher sein als ein Vergleich zwischen Blanqui und Joseph Déjaque, dem französischen Anarchisten, der verbannt wurde nachdem er an den Tagen im Jahr 1848 teilgenommen hatte. Was ist das organisatorische Modell, das von Blanqui vorgeschlagen wird? Eine pyramidale, eine streng hierarchische Struktur, wie die seiner Société des Saisons, die dem insurrektionellen Versuchs vom Mai 1939 vorausging: ihr erstes Element war die Woche, die aus sechs Mitgliedern bestand und einem Sonntag untergeordnet war; vier Wochen formten einen Monat, der unter dem Befehl eines Juli stand; drei Monate formten eine Saison, die durch einen Frühling geleitet wurde; vier Saisonen formten ein Jahr, das durch einen revolutionären Agenten kommandiert wurde; und diese revolutionären Agenten formten zusammen ein geheimes Exekutivkomitee, das den anderen Mitgliedern nicht bekannt war und dessen Generalissimus niemand anderer sein konnte als Blanqui. Im entscheidenden Moment, als endlich der Aufstand ausgerufen wurde, verbreitete das Komitee der Société des Saisons einen Aufruf an das Volk, in dem es mitteilte, dass “die vorläufige Regierung militärische Führer gewählt hat, um die Kämpfe zu leiten; diese Führer kommen aus euren Rängen, folge ihnen! Sie werden euch zum Sieg führen. Es wurden gewählt: Auguste Blanqui, führender Kommandant…” Dass auch die daraufhin folgenden Erfahrungen, keine Änderung seiner Ansichten zuließen, zeigt, neben seinen schon zitierten Instructions pur une prise d’armes aus dem jahr 1868, seine Société Républicaine Centrale aus dem Jahr 1848, genauso wie die Phalange und ihre klandestinen Gefechtsgruppen 1870. Zu keinem einzigen Zeitpunkt in seinem Leben hörte Blanqui auf sich gegen die an der Macht stehende Regierung zu verschwören, jedoch immer in einer militärischen, hierarchischen und zentralisierenden Weise, immer mit dem Ziel ein comité des salut public an der Spitze des Staates zu installieren.

Déjaque hingegen wies in den Anmerkungen zu La Question Révolutionnaire (1854) auf die Möglichkeit und die dringende Notwendigkeit hin, um zum Angriff überzugehen, über geheime sociétés hinaus, welche zum Formen kleiner autonomer Gruppen anspornten: “Dass jeder Revolutionär unter denjenigen, auf die er glaubt sich vollkommen verlassen zu können, ein oder zwei Proletarier so wie er selbst auswählt. Und, dass sie in Gruppen von drei oder vier, ohne Bindungen untereinander und separat funktionierend, damit die Entdeckung einer der Gruppen nicht zur Verhaftung aller anderen führt, mit einem gemeinschaftlichen Ziel agieren: die Zerstörung der alten Gesellschaft.” Zugleich erinnerte er auf den Seiten seiner Zeitung Le Libertaire (1858) daran, wie, dank des Zusammentreffens zwischen Subversiven und gefährlichen Klassen, “der soziale Krieg tägliche und universelle Proportionen annimmt… Wir ergänzen einander, wir Plebs der Arbeitsstätte, mit einem neuen Element, dem Plebs der Gefängnisse… Jeder von uns kann weiterhin auf seine eigene Weise rebellieren.” Dort wo Blanqui das Volk “einlud”, um eine manövrierbare, eingerahmte, disziplinierte und gehorsame Masse, unter dem Befehl, der selbsterklärten Chefs zu bleiben, wendete sich Déjaque an jedes proletarische Individuum, um dieses zu befreienden Aktionen anzuspornen, auf Basis des eigenen Vermögens und der eigenen Fähigkeit und zusammen mit den Komplizen mit der größten Affinität. Es überrascht darum auch nicht, dass derselbe Déjaque das diktatorische Streben von Blanqui bereits gebrandmarkt hatte: “Die Regierungsautorität, die Diktatur, ob sie sich nun Kaiserreich oder Republik nennt, Thron oder Sitz, Retter der Ordnung oder Wohlfahrtsausschuss; ob sie nun heute unter dem Namen Bonaparte oder morgen unter dem Namen Blanqui besteht; ob sie nun aus Ham oder Belle-Ile kommt; ob sie nun als Wappen einen Adler oder einen ausgestopften Löwen hat… ist nichts anderes als die Vergewaltigung der Freiheit durch die korrupte Virilität, durch die Syphilitiker.”

Auch hier ist es nicht gleichgültig sich mit dem einen oder dem anderen verwandt zu fühlen und stellt dies eine eindeutige Wahl dar.

Es gibt noch einen anderen Aspekt von Blanqui, der es für ein gieriges, aufmerksames Auge scheinbar die Mühe wert war um ihn wieder auszugraben – sein Opportunismus. Blanqui stellte ein gewisses Desinteresse für theoretische Fragen und eine starke Anhänglichkeit an gewöhnliche, materielle Probleme des Aufstands zur Schau, er ist der Pionier von einer Tendenz, die auch heute noch in subversiven Kreisen in Mode ist: der Taktikmus (ein gedankenloses Anwenden von Manövern und Hilfsmitteln um von anderen zu bekommen, was man will) im Namen der Taktik (Technik der Anwendung und das Manövrieren von militärischen Mitteln). Seine Kenner sind es gewöhnt, den Term “Eklektizismus” zu verwenden, um seine gewandten und selbstsüchtigen Sprünge zwischen verschiedenen Positionen zu beschreiben. Seine Vorstellung des Aufstands als Resultat eines strategischen Schachzugs, und nicht als soziale Gegebenheit, brachte ihn zu dem Schluss, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Für ihn zählte nicht die Art und Weise, sondern das Resultat, mit anderen Worten, die effektive Eroberung der politischen Macht. Deshalb versuchte er 1848, trotz seiner Vorliebe für Verschwörungen, eine demokratische Bewegung zu leiten, die für eine Teilnahme an den Wahlen war. Wie sein Kamerad Edouard Vaillant, der am Kongress der Ersten Internationalen im September 1871 in London sein Sprecher war, uns ins Gedächtnis ruft: “Das Werk der Revolution war die Zerstörung der Hindernisse, die ihr den Weg versperrten: ihre erste Aufgabe war es ‚die Bourgeoisie zu entwaffnen und das Proletariat zu bewaffnen, das Proletariat mit allen Kräften der eroberten, politischen Macht zu bewaffnen, die dem Feind abgenommen wurden. Mit diesem Ziel mussten die Revolutionäre gegen die Macht in den Kampf ziehen, auf ganzer Linie gegen sie aufmarschieren: Agitation, Aktion, Parlament usw… Die Revolutionäre schließen sich nicht in das ‚Modelgefängnis’ irgendeines Dogmatismus ein. Sie haben keinerlei Vorurteile.”

Dieser Mangel an “Vorurteilen” – die zu jener Zeit, jenseits jeder Betrachtung ethnischer Kohärenz, Intuitionen waren, die durch ein Minimum an Intelligenz gegeben waren – führte Blanqui zu teilweise peinlichen Resultaten. 1879, einige Jahre nachdem er gepoltert hatte, dass “den unseligen Ansehen der Versammlungen mit Entscheidungsrecht eine Ende bereitet werden müsse”, versuchte er, ohne Erfolg, als Abgeordneter in Lyon gewählt zu werden. Um dieses lobenswerte insurrektionelle Projekt zu vollbringen, rief er die Hilfe seines Freundes Georges Clémenceau an, damals ein radikaler republikanischer Abgeordneter, dem er schrieb: “Werde im Abgeordnetenhaus der Mann der Zukunft, der Chef der Revolution. Dort wurde es seit 1830 nicht geschafft einen zu finden. Der Zufall macht Sie zu einem, lass diese Chance nicht ungenutzt.” Nun, wie bekannt ist, machte Clémenceau tatsächlich Karriere. Zuerst wurde er Senator, danach Innenminister und letztendlich zweimal Präsident des Rats. Durch seine blutrünstige Unterdrückung von Streiks und Revolten, die in mehreren proletarischen Blutbädern kulminierten, durch seine erbarmungslose Jagd auf Subversive jeder Couleur und Tendenz, nicht zu sprechen von seiner Kriegssucht während des Ersten Weltkriegs, eroberte er den Zunamen “erster Bulle von Frankreich.” Es ist schwer zu sagen ob Blanqui sehr weitsichtig war, als er den zukünftigen Chef der Reaktion fragte, Chef der Revolution zu werden. Aber eigentlich ist es gar nicht so abwegig. Er hatte in Clémenceau die Fähigkeit eines politischen Führers erkannt. Er konnte jedoch nicht verstehen, dass die Macht das Grab der Revolution ist.

Deshalb haben wir keinen Grund den Kadaver dieses Generalanwärters zu huldigen. Abgesehen vielleicht vom Slogan und diesem Buch, ruft seine Erinnerung Abscheu hervor. Abscheulich wie sein Streben nach größerer Staatsmacht, sein militärischer Stil, sein Kasernengeist, die Entschlossenheit seiner Camouflagetechniken (“Seine Freunde waren davon überzeugt, dass die Persönlichkeit, die in ihm dominierte, die eines General war”, schrieb sein braver Freund Dommanget). Auf dass seine Bewunderer, alte oder neue Führer der Partei des staatlichen Aufstands, sein Grab aufbrechen und voller Emotion dessen Ausdünstungen einatmen. Bei den Erdstößen heutzutage, wer weiß, ob sie nicht zusammen mit ihrem Meister verschüttet werden – die Ewigkeit durch den Schlamm.

Dezember 2011

[Originaltitel: Blanqui o l’insurrezione di Stato; erschienen auf finimondo; Übersetzung: Unruhen Publikationen & An die Waisen des Existierenden]


Blanqui in Venaus

Politik ist die Kunst der Rekuperation. Die effizienteste Methode um jegliche Rebellion, jeglichen Wunsch nach wirklicher Veränderung zu entmutigen, ist den Staatsmann als Subversiven auszugeben, oder noch besser, den Subversiven in einen Staatsman zu verwandeln. Nicht alle Staatsmänner sind von der Regierung bezahlt. Es existieren Funktionäre, die nicht im Parlament sitzen und noch weniger in dessen Nebenzimmern; im Gegenteil, sie besuchen die sozialen Zentren und kennen insgeheim die revolutionären Hauptthesen. Sie berichten ausführlich über das befreiende Potential der Technologie, sie theoretisieren nicht-staatliche Sphären der Öffentlichkeit und die Überwindung des Subjekts. Die Realität – das wissen sie gut – ist immer komplexer als irgendwelche Aktion.

– 10 Dolchstiche gegen die Politik

Seit einiger Zeit kursiert unter einigen Anarchisten in Europa ein Gerücht über die jüngste Veröffentlichung des Unsichtbaren Komitees (den Autoren des internationalen Bestsellers “Der Kommende Aufstand” von 2007). Es wird gemunkelt, dass die Mitglieder des Komitees den Entwurf des Textes mit ihren politischen Freunden auf der ganzen Welt geteilt haben, um deren Reaktionen abzuschätzen und um nützliches Feedback zu erhalten. Der erste Entwurf enthielt einen scharfen Angriff auf die Anarchisten, die sich schuldig gemacht hatten, sich nicht richtig vor ihnen zu verneigen (und sich über die Farce von Tarnac lustig gemacht zu haben, wo die angeblichen Autoren des Buches, als die Polizei anklopfte, in die schützenden Arme der Linken eilten, mit denen sie am Tag zuvor noch im Krieg gestanden hatten). Aber einige ihrer befreundeten Korrespondenten – aus unserem schönen Land, wie es heißt – schlugen vor die allzu vehementen Teile zu streichen und den Ton abzumildern, denn schließlich können diese anarchistischen Idioten, mit etwas Nachdenken, noch viele Dienste leisten. Dieses Gerücht stammt von einem boshaften Anarchisten, der anscheinend sowohl den ursprünglichen Entwurf des Textes, als auch die Korrespondenz darüber gelesen haben könnte. Das sind die Risiken der Kommune und der gemeinsamen Nutzung von Werkzeugen: Man weiß nie, wer auf einen eingeschalteten und unbeaufsichtigten Computer schauen könnte!

Unabhängig davon, ob dieses Gerücht wahr ist oder nicht, haben wir vor einigen Tagen als Geschenk das neue, druckfrische Buch des Unsichtbaren Komitees erhalten, das Ende des letzten Monats in Frankreich erschienen ist. Es trägt den Titel An unsere Freunde (politische Freunde, versteht sich) und seine baldige und gleichzeitige Veröffentlichung in sieben weiteren Sprachen ist in Arbeit, um seine Verbreitung auf den vier Kontinenten zu fördern. Italien wird eines der glücklichen Länder sein, also können wir genauso gut warten, um die vollständige Übersetzung zu lesen.

Aber warum, werdet ihr fragen, sprechen wir dann hier und jetzt darüber? Weil wir dank der Lektionen des Unsichtbaren Komitees endlich verstehen, dass Werbung nicht nur die Seele des Geschäfts ist, sondern auch die Seele der Subversion (nun ja, das Geschäft der Subversion). Außerdem würden wir Gefahr laufen für staatliche Bürokraten gehalten zu werden, wenn wir uns nicht beeilen würden, unseren Lesern wenigstens ein paar Auszüge aus diesem neuen Meisterwerk zu präsentieren. Wie auch immer, hier ist eine Vorschau, eine Art Knüller.

Die Entscheidung, welchen Teil man teilen möchte, fällt leicht, zu leicht sogar. Diese Enkel von Blanqui widmen einige Gedanken Italien, genauer gesagt dem Kampf gegen den TAV im Susa-Tal und seinen wundersamen Auswirkungen. Hier ist, was sie schreiben:

Zu den vielen Wundern des Kampfs im Susatal zählt, dass es gelungen ist, so viele Radikale von ihrer Identität loszureißen, die sie sich so mühsam aufgebaut haben. Er hat sie auf den Erdboden zurückgebracht. Indem sie wieder Kontakt mit einer realen Situation aufgenommen haben, konnten sie einen guten Teil ihres ideologischen Raumanzugs ablegen, nicht ohne damit die unerschöpflichen Ressentiments derer auf sich zu ziehen, die in dieser interstellaren Radikalität steckengeblieben sind, in der man so schlecht Luft bekommt. […]

Familienfreundliche Demonstrationen wechselten ab mit Angriffen auf die TAV-Baustelle, man setzte das eine Mal auf Sabotage und das andere Mal auf die Bürgermeister des Tals, und Anarchisten waren genauso einbezogen wie katholische Omas – so ist dieser Kampf mindestens insofern revolutionär, als es bislang gelungen ist, das teuflische Paar aus Pazifismus und Radikalismus zu entschärfen.

Ganz genau! Als nette, politische Tiere denken die Enkel von Blanqui, dass der Zoo die natürlichste und spontanste Umgebung ist, in der man leben kann. Diejenigen, die den Zoo nicht betreten oder sich fernhalten, verurteilen sich selbst zur Isolation, d.h. dazu die abgestandene Luft eines Raumanzugs zu atmen und zeigen einen unermüdlichen Groll gegen diejenigen, die problemlos dieselbe Luft atmen, wie Bürgermeister und Parlamentarier (und vielleicht sogar wie Spitzel und verschiedene Disassoziierte). Die Bewunderung des Unsichtbaren Komitees für seine italienischen anarchistischen Lehrlinge ist fast rührend, diese Victor Serge’s von uns, die endlich den strategischen Nutzen eines Wechselstroms der Konfliktualität verstanden haben, den die Autoritären seit jeher lieben. Schade, dass “sich ein Teil der Anarchisten selbst als “nihilistisch” bezeichnet”, in Wirklichkeit “nur Ohnmächtige” sind und diese begehrte Luft verpesten. Anarchisten, die den Feind identifizieren, sich Mittel geben und angreifen… brrr, was für ein Horror, sie sind offensichtlich nur machtlos. Andererseits, diejenigen, die sich mit Bürgermeistern, Priestern und Stalinisten einlassen, diejenigen, die in den Stadtrat gewählt werden wie die Tarnac-Superfans des Unsichtbaren Komitees, die haben natürlich…

Diese Menschen haben was? Sie haben verstanden, wie die Dinge funktionieren! “Es gibt kein Esperanto des Aufstands. Nicht die Aufständischen müssen lernen, anarchistisch zu sprechen, sondern die Anarchisten müssen sprachenkundig werden.” Esperanto ist eine törichte Utopie, diese neue Sprache, die Elemente aller Sprachen enthält, sie ohne Vorzug einbezieht und sie in Kommunikation bringt, während sie ihre Vielfalt respektiert. Die praktischste, unmittelbarste und strategischste Art zu kommunizieren, ist die Sprache der anderen zu sprechen. In der Wirtschaft vor allem Englisch. Autoritär nur in der Politik.

Anarchisten, seid polyglott! Hört auf, ganz allein in einer Geisterstadt zu miauen, bellt und knurrt in Gesellschaft von Hunden und Schweinen! Am Montag sprecht humanitär, am Dienstag demokratisch, am Mittwoch journalistisch, am Donnerstag syndikalistisch, am Freitag legalistisch, am Samstag kommunistisch, am Sonntag – amen – liturgisch. Und gelegentlich kannst du auch rebellisch sprechen, wenn du willst. Was die anarchistische Sprache angeht, so ist es besser, sie ganz zu vergessen.

Seien wir doch mal ehrlich, was nützt sie dir überhaupt?

November 2014

[Originaltitel: Blanqui a Venaus; erschienen auf finimondo]


Der Tod von Rémi und die Konfrationen: Die radikalen Rekuperatoren springen aus den Büschen

Unsere Kraft werden wir nicht daraus beziehen, den Feind zu benennen, sondern aus dem Bemühen, uns in die Geografie des anderen zu begeben.

An unsere Freunde, Das unsichtbare Komitee

Mathieu Burnel, Mitangeklagter in der Tarnac-Affäre, befand sich am 31. Oktober in guter Gesellschaft, am Set von “Ce soir ou jamais”, einer Sendung, die von einem der offiziellen Sprecher des Staatsterrorismus, dem Sender France 2, ausgestrahlt wurde. Zu einem Zeitpunkt, an dem es in mehreren Städten seit fast einer Woche täglich zu Zusammenstößen kam, nachdem die Polizei einen Demonstranten im Kampf gegen den Sivens-Staudamm getötet hatte, war endlich der Beginn eines Dialogs zwischen “einem Vertreter der Radikalen” und Vertretern der Behörden möglich. Gesegnet sind also all jene Bürger, die weiterhin gewissenhaft ihre Beiträge zahlen, damit der öffentlich-rechtliche Sender seine heilige Pflicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung (zu der auch der Dialog zwischen Beherrschtern und Beherrschten gehört) in der schlimmsten Situation erfüllen kann. Denn ohne Repräsentanten gibt es keine Repräsentierten mehr, und ohne Repräsentierte gibt es Anarchie! Um die Regale des großen Supermarkts der Fernsehmeinungen zu füllen, hat Mathieu Burnel seine besten Tricks angewandt, um mit Juliette Meadel, der nationalen Sekretärin der Sozialistischen Partei für Industriepolitik, Corinne Lepage, der Europaabgeordneten der Partei der Demokratischen Bewegung, und Pascal Bruckner, einem reaktionären Philosophen, zu konkurrieren.

Zum Thema “Ökologie, das neue Schlachtfeld?” zeigte er einmal mehr die praktischen Konsequenzen der Worte “unsere Macht wachsen lassen” oder “den Feind nicht benennen, sondern mit ihm komponieren”. Angesichts potenziell unkontrollierbarer Situationen braucht die Macht regelmäßig Gesprächspartner, auch aggressive, wie uns der Auftritt von Daniel Cohn-Bendit im ORTF am 16. Mai 1968, nach Beginn des Generalstreiks, in Erinnerung ruft. Und wenn, wie ein alter bärtiger Mann, der den Autoritären lieb und teuer war, sagte, sich die Geschichte oft in Form einer Farce wiederholt, dann deshalb weil die Macht nur die Possenreißer bekommt, die sie verdient. Der Oktober 2014 ist natürlich nicht der Mai 1968 (“Scheiß auf den Mai 68, kämpft jetzt!”, stand 2009 auf einem Schild an den Wänden Athens), aber nicht jeder hat den Scharfsinn auf einen Aufstand zu warten, bevor er sich ins Fernsehen stürzt und versucht die Führung zu übernehmen. Es sei denn, der Aufstand ist schon da, natürlich!

Indem er für jeden von uns spricht – für “unsere Generation”, für Rémi Fraisse (der zu den “Menschen gehört, die versuchen zumindest die Frage ihrer Existenz ernst zu nehmen”) und für “die jungen Leute von heute” – behauptet der diensthabende Rekuperator diese Wut der tausend Gesichter zu verkörpern. Nach Radio- und Fernsehauftritten mit seinen Kollegen Benjamin Rosoux (seit März 2014 Stadtrat von Tarnac) oder Julien Coupat (der im November 2012 neun Journalisten zu einem vierstündigen Interview einlud), war er diesmal nicht da, um sich gegen die Anschuldigungen der Polizei zu verteidigen, sondern um seine Partei des “gekommenen Aufstands” zu verkaufen!

Die Idee, die medialen Nischen, die die Macht den Revolutionären zugesteht, zu unserem Vorteil zu nutzen, ist nicht nur illusorisch. Sie ist offen gesagt gefährlich. Ihre bloße Anwesenheit auf der Bühne reicht nicht aus, um die Zwangsjacke der Ideologie in den Köpfen des Publikums zu sprengen. Es sei denn, man verwechselt die Macht des Ausdrucks mit der Macht der Verwandlung und glaubt, dass die Bedeutung dessen, was man mit dem Wort, der Feder, dem Bild usw. ausdrückt, a priori gegeben ist, ohne dass man sich darum kümmern muss, wer die Macht dazu hat. Es gäbe Inhalte, die dort in verschiedenen Formen existieren könnten, ohne dass sie davon betroffen wären. Dies ist die alte Illusion der verdinglichten Welt, in der die Tätigkeiten als von der Gesellschaft losgelöste Dinge an sich erscheinen. Aber genau wie andere Ausdrucksformen ist die subversive Form, die die Sprache annimmt, die Garantie für die Unbestechlichkeit ihrer Bedeutung. Sie ist nicht immun gegen die Gefahren der Kommunikation. Die Verwendung subversiver Sprache auf dem Terrain der Herrschaft reicht aus, um den Sinn der Sprache zu untergraben oder sogar umzukehren.

“The mirror of illusions, notes of discussions from the side of La Bonne Descente” (Paris), 1996

In den Medien mit dem alten leninistischen Argument (bezüglich des Parlaments) zu intervenieren, sie als Plattform zu nutzen, stärkt nicht nur die Legitimität dieser Instrumente der Herrschaft, sondern unterstützt auch das demokratische Spiel, das eine Basis des Dialogs und nicht der Konfrontation schafft. “Mit dem Feind streitet man nicht, man bekämpft ihn” ist ein Sprichwort aus der revolutionären Erfahrung, aber es gilt nur für diejenigen, die wirklich alle Autorität abschaffen wollen. Für die anderen – angefangen bei den Politikern der “Bewegung” – steht fest, dass man früher oder später Taktgefühl zeigen muss, Kompromisse in unwahrscheinlichen “Allianzen”1 einzugehen weiß, “mit dem Vorhandenen zu komponieren, wo man sich befindet”, d.h. sich dem Bestehenden anzupassen, statt es zu untergraben. Die Spielregeln zu akzeptieren, anstatt das Spiel selbst durcheinander zu bringen. Diese Dynamik, die wir in den letzten Jahren beispielsweise im Susa-Tal, Valognes und Notre-Dame-des-Landes nach den Konfrontationen, die die Bullen zurückgedrängt haben, beobachten konnten, ist nicht neu. Wir wissen seit langem, dass nicht alle Politiker im Parlament sitzen, sondern auch aus Kämpfen hervorgehen und dass die Eroberung der Macht (oder der Hegemonie) manchmal Nebenwege nimmt.

Die Verweigerung der Mechanismen der Politik, deren integraler Bestandteil die Rückgewinnung und die Repräsentation sind, ist keine Frage des Prinzips, sondern eine der Bedingungen, um Autonomie und Selbstorganisation wirklich zu erfahren. Nur der Dialog der Aufständischen kann die organisierte Verwirrung überwinden, in einem Raum des antiautoritären Kampfes, in dem die Worte und ihre Bedeutung nicht durch die Bedürfnisse der Kontrolle und den Konsens der Macht verstümmelt werden. Dort, fernab jeder Repräsentation, können die Ideen, die weder Herren noch Eigentümer sind, die Ideen, die uns beleben, endlich jedem gehören, der sich in ihnen wiedererkennt.

Die Feinde der Ordnung

Oktober 2014

[Originaltitel: Mort de Rémi et affrontements: les récupérateurs radicaux sortent du bois]

[1] Eine Illustration dieser Logik findet sich in “Et maintenant qu’on fait?” (Indy Nantes, 28. Oktober), wo Anarchismus und Pazifismus keine Ideen mehr sind, die eine praktische Ausdehnung, eine Beziehung zur Welt haben, sondern dumme Spaltungen, die überwunden werden müssen, um “eine Kraft zu schaffen” und “Siege zu erringen”. Unsere kleinen post-blanquistischen Generäle brauchen sich in der Tat nicht mehr um Ideen und Kohärenz (z.B. zwischen Mitteln und Zielen) zu kümmern, da alles auf taktische “Situationen” reduziert wird, die einfach nur in ihre miserablen kleinen Berechnungen passen müssen: “Am Sonntagabend hörten wir, dass Rémi Pazifist sei, dass die Leute, die an den Zusammenstößen teilgenommen haben, Anarchisten seien. Solche Aussagen sind unerträglich. So etwas zu sagen, bedeutet alte Spaltungen aufrechtzuerhalten und der Polizei in die Hände zu spielen. Die Stärke von Bewegungen und Kämpfen wie dem No-Tav in Italien, der ZAD von Notre-Dame oder anderen besteht gerade darin, dass sie es verstanden haben in ihnen Praktiken zu versammeln, die sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern ergänzen und sich miteinander verbinden können, um zu sinnvollen und materiellen Erfolgen zu gelangen. Die Intelligenz des Kampfes besteht darin, das, was allzu oft als starre Spaltungen und Divergenzen erscheint, in revidierbare Spannungen zu verwandeln, die uns zusammenwachsen lassen. Zu wissen, wie man aus der Vielfalt der Praktiken eine Kraft schafft”.

Den gleichen Vorschlag finden wir natürlich auch in “An unsere Freunde” des “Unsichtbaren Komitees” (S. 149) über den Kampf gegen den TAV in Italien: “man setzte das eine Mal auf Sabotage und das andere Mal auf die Bürgermeister des Tals. Anarchisten waren genauso einbezogen wie katholische Omas – so ist dieser Kampf mindestens insofern revolutionär, als es bislang gelungen ist, das teuflische Paar aus Pazifismus und Radikalismus zu entschärfen.”


Entscheidungen, Kompositionen, Verhandlungen

Es gibt viele Möglichkeiten, einen Kampf gegen ein zerstörerisches Projekt zu planen und durchzuführen.

Einige Kämpfe, die durch eine anarchistische Perspektive motiviert sind, sind von dem klaren Vorschlag geprägt den Aufbau einer bestimmten Infrastruktur durch Selbstorganisation, direkte Aktion und permanenten Konflikt zu verhindern. Diese Methode, die konkret die Verweigerung von politischer und medialer Repräsentation, von Delegationsmechanismen und von jeglichem Dialog mit den Institutionen beinhaltet, verbindet ganz klar Mittel und Zweck: Ein Herrschaftsprojekt kann nicht mit den Instrumenten der Herrschaft bekämpft werden. Auf dieser Grundlage und durch die eindeutige Festlegung eines offensiven und destruktiven Ansatzes richtet sich der Vorschlag des Kampfes an all diejenigen, die sich darin wiedererkennen und ihn auf ihre eigene Art und Weise aufnehmen wollen, natürlich vor Ort, aber auch überall sonst, wo es Sinn macht.

Die Wette auf die Ausbreitung der Feindseligkeiten ist auch eine Wette auf die Vervielfachung der Treffpunkte und der Selbstorganisation, die die Verflechtung der Komplizenschaft und die Entwicklung der Solidarität in der Hitze des Kampfes ermöglicht. Das Potenzial, das die Koordinierung bietet, entsteht durch die freie Verbindung verschiedener Initiativen und individueller Absichten.

Natürlich ist die informelle Organisation keine Zauberformel, die eine Entscheidungsfindung frei von Problemen, Machtdynamik und Legitimitätsfragen garantiert. Dennoch kann die Autonomie jedes Einzelnen oder jeder Gruppe, von denen keine den Anspruch erheben kann, den Kampf um Entscheidungen, Kompositionen und Verhandlungen zu repräsentieren, geschweige denn die Führung zu übernehmen, es zumindest ermöglichen diese Probleme auf direkte und dezentrale Weise anzugehen.

Ganz anders verhält es sich, wenn sich ein Kampf um einen einzigen territorialen Brennpunkt herum entwickelt, z.B. eine mit dem umkämpften Projekt verbundene Besetzung und dieser zum Hauptbezugspunkt wird. Dies wirft die Frage nach der Zentralisierung von Entscheidungen und Aktivitäten auf. Langfristige Besetzungen erfordern oft die Mobilisierung einer großen Zahl von Menschen, um die Besetzung aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Dies hat oft zur Folge, dass diese Besetzungen zum Ausgangspunkt von “großen Momenten” oder Aktionen werden, die sich, wenn schon nicht auf eine Masse, so doch zumindest auf eine quantitative Dimension stützen.

In solchen Situationen, in denen es nicht in Frage kommt sich der Führung eines zentralen Komitees zu unterstellen, erfolgt die kollektive Organisation in der Regel durch Versammlungen. Selbst wenn man darauf achtet, zwischen Versammlungen, die sich mit der Organisation des Ortes befassen und Versammlungen, die sich mit dem Kampf befassen, zu unterscheiden, wirft die Tatsache, dass beide Aspekte miteinander verwoben sind, Fragen der Legitimität auf, die mit der Dynamik des Territoriums und der Besetzung insgesamt zusammenhängen (der Zeitpunkt der Ankunft, die Dauer und die “Grade” des Engagements vor Ort, die möglichen Auswirkungen bestimmter Aktivitäten auf andere und auf den Ort selbst usw.).

Wenn sie der Entscheidungsfindung dienen, haben Versammlungen die Eigenschaft, dass sie alle Teilnehmer sowohl repräsentieren als auch einbeziehen sollen. Ohne im Detail auf die verschiedenen Mechanismen einzugehen, die im Namen der Effizienz schnell in Gang gesetzt werden können, um eine mehr oder weniger erzwungene Mehrheit oder einen Konsens zu erreichen, wollen wir sagen, dass die Entscheidungen, die aus diesen Räumen hervorgehen, eindeutig ein besonderes Gewicht erhalten. Die Teilnehmer erwarten also, dass das Gewicht dieser Entscheidungen auch auf Personen übertragen wird, die nicht mit ihnen einverstanden sind. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich die zentrale Versammlung einer Besetzung in die Position des Vertreters oder Sprechers des Kampfes als Ganzes begibt. Zum Beispiel, wenn selbstorganisierte Medien den Anspruch erheben über die vielgestaltige Realität des Kampfes zu berichten, aber im Wesentlichen die Perspektiven oder die Aktivitäten wiedergeben, die von der Versammlung beschlossen wurden und über andere Erscheinungsformen schweigen, weil sie nicht in diesen Rahmen passen.

Keine dieser Fragen ist abstrakt und ihre Implikationen sind im Fall von Kämpfen, die streng an eine territoriale Basis gebunden sind und die zuweilen sehr heterogene Motivationen, Methoden und Perspektiven zusammenbringen, umso auffälliger. Dies bringt uns zurück zur alten Theorie der “gemeinsamen Fronten”, auch wenn hochtrabende Strategen, die diesen Begriff vielleicht für unmodern, zu offensichtlich mit Reformismus befleckt oder mit den bitteren stalinistischen Assoziationen der revolutionären Geschichte behaftet halten, beschlossen haben, ihn durch den Begriff “Komposition” zu ersetzen.

Die Theorie bleibt jedoch dieselbe: In der klassischen Beziehung “Gewalt gegen Gewalt” ist es bekanntlich “die Einheit, die Gewalt schafft”. Die Frage ist also, wie man gegensätzliche Logiken im Namen eines gemeinsamen Ziels, in diesem Fall die Verhinderung des Baus eines Infrastrukturprojekts an einem bestimmten Ort, nebeneinander bestehen lassen kann. Hinter dem langatmigen Euphemismus der “Vielfalt der Taktiken der verschiedenen Komponenten des Kampfes” verbergen sich politikähnliche Bündnisse und taktische Manöver, die darauf abzielen, grundlegende Meinungsverschiedenheiten in so entscheidenden Fragen wie dem Verhältnis zur Legalität und zu den Institutionen (Parteien, Gewerkschaften, Medien usw.), der Anwendung von Gewalt und der Bereitschaft zu Verhandlungen, dem reformistischen Ansatz oder Positionen, die völlig mit dem Bestehenden brechen, zu verschleiern und zu verwässern.

Es versteht sich von selbst, dass diese “strategische” Koexistenz auf dem Wunsch beider Seiten nach Instrumentalisierung beruht. So verlassen sich die Legalisten auf die radikale Arbeiterschaft, um ein Machtgleichgewicht herzustellen, das Verhandlungen eröffnen könnte, während andere glauben, auf die Linke zählen zu können, um bestimmte Aktionen zu “decken” oder die so genannte “Zivilgesellschaft” zu mobilisieren. In Wirklichkeit führt dieses umfangreiche Programm im Allgemeinen dazu, dass die Bürgerbewegung Aktionen verurteilt, die für ihren Geschmack zu anstößig sind. Oder es kommt zu einem Spiegeleffekt, bei dem radikal anmutende Aktionen ihrer Substanz beraubt werden, indem sie in den Dienst reformistischer Ziele gestellt werden.

In jedem Fall legen die Anhänger der Komposition Wert darauf, diese Fassade der Einheit aufrechtzuerhalten, sei es bei gemeinsamen Aktivitäten (wie z.B. einheitlichen Demonstrationen, die einen Teil des politischen Spektrums einschließen) oder im weiteren Panorama des Kampfes. Abgesehen von der absichtlichen Unschärfe, die dies mit sich bringt, bedeutet es die Formen des Kampfes zu kontrollieren, um alles um jeden Preis zusammenzuhalten und zu bestimmen, was opportun ist, um voranzukommen – was getan werden soll und was nicht. Das “Respektieren des Zeitplans der Bewegung” ist also ein Argument, das von den Autoritären eingesetzt wird, um die Linien durchzusetzen, die sie im Namen des “gemeinsamen Interesses” aus der Warte ihrer Machtposition heraus zu definieren gedenken.

Dies sind die Autoritären, die mit ihren Mittelsmännern die Möglichkeiten, die sich auf der ZAD von Notre-Dame-des-Landes und darüber hinaus im Kampf gegen den Flughafen und seine Welt eröffnet haben, im Keim erstickt haben, indem sie nicht gezögert haben zu versuchen den Verlauf bestimmter Demonstrationen in die eigenen Hände zu nehmen. Weiters bestimmte Angriffe (gegen Journalisten, Sicherheitskräfte, bestimmte politische Parteien) als “kontraproduktiv” zu bezeichnen und die subversiven Inhalte, sowie offensiven Perspektiven (die auf diejenigen abzielten, die tatsächlich an der Entwicklung der Herrschaft über den Flughafen beteiligt sind) zu ersticken.

In anderen Texten werden die Mechanismen, die es dieser so genannten “gemeinsamen” Logik allzu oft ermöglicht haben sich im Laufe der Zeit durchzusetzen, indem sie diejenigen, die für diese Welt unerwünscht und unkontrollierbar sind, unterdrückt haben, ausführlich und viel besser erläutert. CMDO & Co. haben (durch Einschüchterung und Schläge) das berühmte Label des “Sieges” bei der ZAD bekommen. Dieses wird von den Befürwortern der Komposition und der gemeinsamen Verwaltung der Landnutzung und des Kampfes hochgehalten. Dies führte zu dem katastrophalen Ergebnis, das wir kennen: erzwungene Legalisierung und Anpassung fast der gesamten Zone an die geforderten Standards. Weit davon entfernt “Gegenwelten” und andere “befreite Zonen” zu verteidigen, wie ihre Vorgänger auf Larzac, sind die “Sieger” in Verhandlungen über den Preis, der für das Land zu zahlen ist, verstrickt. Dabei steht alles von oben bis unten unter staatlicher Kontrolle.

Obwohl sie ihr Spiel unter einem radikalen Gewand verstecken, haben die Kompositionisten und ihre Freunde leider kein Monopol auf Verhandlungen und eine der Strategien der Macht in unseren Breitengraden besteht darin, jede Opposition durch das Zugestehen einiger Kuchenkrümel oder Nischen zu rekuperieren und zu integrieren. Natürlich ist der Reformismus nicht die ausschließliche Domäne der Kämpfe gegen zutiefst toxische Projekte, aber es steht außer Frage, dass sich rund um die Umweltfrage eine Vielzahl von Alternativen entwickelt hat.

Die ökologische Krise, die globale Erwärmung, die Rettung des Planeten liegen im Trend der Zeit und stehen auf der Tagesordnung. Die Mächtigen sind nicht mehr in der Lage die verheerenden Auswirkungen der industriellen und technologischen Gesellschaft zu leugnen, die nie als solche bezeichnet wird, da es vor allem darum geht ihren Fortbestand und ihre Ausbreitung zu sichern. Sie versuchen das Beste aus der Situation zu machen, um den größten Profit zu erzielen. So verkaufen die Staaten und ihre Experten weiterhin ihre technischen, wissenschaftlichen und profitablen Lösungen für die Probleme, die sie immer wieder selbst erschaffen. Gas- und Meerwasserentsalzungsanlagen, CO2-Kollektoren, Geothermie, Biomasse, Biokraftstoffe usw. sind allesamt neue Nischen für die nachhaltige Entwicklung des grün gefärbten Kapitalismus. Und die Lüge von der “Energiewende” umfasst die Umstellung riesiger Industriezweige und Investitionen in den Markt für erneuerbare Energien, parallel zu den bereits bestehenden Energieindustrien.

Die ökologische Täuschung hat jedoch auch von der Unfähigkeit der Kämpfe gegen schädliche, autoritäre Entwicklungen profitiert, andere Ideen und Perspektiven in den Vordergrund zu stellen. In den 1980er Jahren hat der französische Staat parallel zur Repression in ihrer ganzen Brutalität – die Armee wurde regelmäßig eingesetzt, um Anti-Atomkraft-Protestbewegungen zu unterdrücken – ein weiteres Instrument zur Neutralisierung des Dissenses geschaffen. Dieser Apparat hat wesentlich dazu beigetragen, den Kampf zu kanalisieren und zu entschärfen und zwar vor dem Hintergrund des Glaubens an die Versprechen der Linken.

Bürger- und Umweltverbände sind in die Landschaft eingedrungen, um ihre Dienste als glaubwürdige Gesprächspartner der Macht anzubieten und Alternativen vorzuschlagen, die den bestehenden Rahmen nicht in Frage stellen, der de facto als unüberwindbar wahrgenommen und dargestellt wird.

Die Logik des Verhandelns nimmt auch diffusere Formen an. Pragmatiker können versuchen das durch den Kampf entstandene Machtgleichgewicht auszunutzen, um im Gegenzug für die Durchführung eines Projekts Geld zu erhalten, z.B. durch eine Entschädigung für Umweltschäden (zusätzliches Einkommen für den Bezirk, Entschädigung für die Bewohner usw.). Auch kann der Landverwalter das Prinzip der Zonierung aufgreifen, um die Erhaltung eines Ortes als “Feuchtgebiet” mit “bemerkenswerter biologischer Vielfalt” usw. oder sogar als “Ausgleichsgebiete” zu fordern, als ob alles austauschbar wäre.

Nach der realistischen Logik des “kleineren Übels” fordern andere entweder von den Verursachern der Zerstörung, dass sie deren Auswirkungen abmildern oder kontrollieren (z.B. durch Versprechen die Schadstoffemissionen zu verringern) oder sie schlagen im Rahmen des Kampfes selbst alternative Projekte vor, die sie für akzeptabler halten: eine andere Autobahn- oder Hochgeschwindigkeitsstrecke, die Erdverlegung von Hochspannungsleitungen, andere Abfalllagerstätten usw.

Die Weigerung Pläne für die Endlagerung radioaktiver Abfälle Ende der 1980er Jahre zu akzeptieren, führte 1990 zum Moratorium. Mit dem Vorschlag, dass die radioaktiven Abfälle an dem Ort gelagert werden, an dem sie produziert wurden, wurde das Problem jedoch nur aufgeschoben, denn die derzeitige Anhäufung von Abfällen erlaubt es ihnen die Dringlichkeit einer Lösung, insbesondere in Bure, hochzuspielen.

Um jeglicher alternativen Lösung keinen Raum zu geben und um nicht in den Bereich der Verwaltung der vorhandenen Abfälle einzutreten, gibt es offensichtlich keine andere Wahl, als das abzulehnen, was sie massenhaft produziert: die Kernkraft in all ihren Formen und die Gesellschaft, die sie braucht. Selbst wenn dies bedeutet gegenüber dem Staat, seinem Diktat und seinem Regime der Vernunft als unverantwortlich dargestellt zu werden.

Um die Befriedung und Rekuperation von Konflikten zu vereiteln, ist es ebenfalls unerlässlich, Klarstellungen und Bruchlinien vorzunehmen, die die Frage nach Mitteln und Zielen immer wieder neu stellen. Der Kampf gegen die zerstörerischen Ziele des Staates kann nicht durch Co-Management, durch juristische Auseinandersetzungen oder durch den Rückgriff auf eine vermeintliche “öffentliche Meinung”, die Zuschauer oder Schiedsrichter ist, geführt werden. Die Kontrolle über Räume und Leben wird nicht durch die Schaffung weiterer Normen und Vorschriften bekämpft, ebenso wenig wie die Projekte und Infrastrukturen der Herrschaft durch die Überzeugung von Entscheidungsträgern in Frage gestellt werden. Sich gegen die etablierte Ordnung zu stellen, bedeutet, sich mit ihren repressiven Kräften, aber auch mit ihrer Logik zu konfrontieren und das System zu bekämpfen bedeutet auch seine Instabilität zu verschärfen.

April 2021

[Kapitel aus Hourriya – Internationalistische Anarchistische Pamphlets #6: La guerre du sous-sol. Le champ de bataille des matières premières]


Hier liegt eine Leiche

Nach jahrelangem Kampf gab der französische Staat am 17. Januar 2018 offiziell bekannt, dass er sein Projekt zum Bau eines neuen Flughafens auf dem Gelände von Notre-Dame-des-Landes aufgibt und stattdessen den bestehenden Flughafen am Stadtrand von Nantes ausbaut. Endlich zeigte sich die ganze Tragweite des berühmten “und seiner Welt”, das als beruhigendes und sich fast selbst erfüllendes Totem des Kampfes angepriesen worden war. Eine Idee, die verhindern sollte, dass der Kampf auf die bloße Verteidigung des Territoriums reduziert wird und stattdessen eine Kritik an allem nährte, was die Existenz eines Ärgernisses wie des geplanten Flughafens überhaupt erst ermöglicht. Würden die Besetzer ihren Kampf fortsetzen, indem sie ihn im Namen von “Weder hier noch anderswo” auf den neu ausgewiesenen Standort ausweiten? Würden sie ihn auf andere große Ärgernisse ausdehnen, die mit Nantes und seinen Vororten verbunden sind (Technocampus Alimentation, Baugebiet Pirmil-Les Isles, ein neues Gefängnis in Bouguenais, 95 Videoüberwachungskameras, die mit der Einrichtung eines städtischen Überwachungszentrums zwischen Nantes, Rezé und Vertou installiert werden…) oder auf das Megaprojekt von 80 Offshore-Windkraftanlagen bei Saint-Nazaire? Es ist sicherlich noch zu früh, um sich vorzustellen, welche neuen Horizonte des Kampfes erschlossen werden, so groß ist das “und seine Welt”, aber wir wissen bereits, wie der Sieg vor Ort gefeiert wurde.

Vom 22. bis 25. Januar begann die bürgerlich-autoritäre “Komposition” der ZAD auf ausdrücklichen Wunsch des Staates, der dies als Vorbedingung für die Fortsetzung der Verhandlungen über die Zukunft des besetzten Landes festgelegt hatte, die Straße, die durch die Zone führt, von ihren Barrikaden zu befreien. Ebenso wurden aber auch gewaltsam die beiden kollektiven Hütten entfernt, die etwas zu sehr auf die Straße hinausragten. Nachdem sie ihre schmutzige Arbeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegenüber den Bewohnern, die sich dort niedergelassen hatten oder die Hütten nutzten, erledigt hatten, gaben sie die Kontrolle über die D281 an die Behörden zurück – eine merkwürdige Praxis der Selbstverwaltung für ein “befreites Gebiet” -, so dass diese unter dem Schutz ihrer Eskorte die Gräben säubern, die Feldzufahrten trockenlegen konnten und auch den Präfekten vor den Kameras vorführen konnten.

Die Unterstützungskomitees, die seit der Operation Caesar im Jahr 2012 ständig auf der Hut sind, hatten geschworen und sogar symbolische Stöcke in den Boden gesteckt, damit im Falle einer gewaltsamen Räumung der Baracken oder der Ankunft der Bullen auf der ZAD der Kampf beginnen würde. Klar, wenn da nicht eine kleine Klausel in Abschnitt 6 ganz unten auf der kollektiven Roadmap wäre, die besagt, dass der Alarm nur dann ausgelöst wird, wenn die Uniformen blau und nicht gelb oder schwarz sind. Denn es ist in der Tat eine Ansammlung von philo-statistischen Gruppen, von leninistischen Truppen und Anhängern einer (nicht ganz so) imaginären Partei, die den Weg für eine neue Polizeibesetzung freigemacht haben. Diese dauert nun schon seit sechs Wochen an (bis zu 30 mobile Polizeiwagen), mit Videoaufzeichnung, Identitätskontrollen, Schikanen und Überwachung per Drohne, Durchsuchungen von Fahrzeugen und Wohnräumen, alles im Herzen der ZAD.

Als die Behörden auf beiden Seiten der Barrikade versuchten, die Zone gemeinsam zu verwalten, musste ein Preis gezahlt werden: die Zerstörung der Hütten derjenigen Zadisten, die sich zu sehr gegen das staatliche Diktat und die Anordnungen der Kleinunternehmer des Kampfes auflehnten. Dies war keine banale Episode eines internen Konflikts, sondern gibt Anlass zu einigen Überlegungen zur Frage der Selbstorganisation und ihrer Perspektiven.

Eines der klassischen Probleme, das sich in jedem Kampf um Besetzungen stellt, ist das Projekt selbst: die Spannung zwischen einer ephemeren Besetzung, die darauf abzielt, Angriffe auf die Umgebung inmitten von tausend anderen dezentralen Initiativen selbst zu organisieren und einer permanenten Installation, die am Ende Kräfte konzentriert, die normalerweise unvereinbar sind, indem sie sich als experimentelle Insel von mehr oder weniger radikalen Alternativen präsentiert. Früher oder später bricht dieser unhaltbare Widerspruch zwischen innerer Alternative und Offensive gegen das Bestehende auf, entweder wenn der polizeiliche Druck zunimmt (mit der traditionellen Mediation einiger, die sich von den Angriffen distanzieren und die Radikalen anprangern) oder umgekehrt unter dem Gewicht der ausgehandelten Möglichkeit der Normalisierung (mit der traditionellen Ausräumung der unkontrollierten Elemente).

Das Bemerkenswerte an den jüngsten Ereignissen des Kampfes in Notre-Dame-des-Landes ist nicht so sehr, dass die Bürgerlichen nicht einmal eine Woche gewartet haben, um buchstäblich mit dem Präfekten und dem Generaldirektor der gesamten Gendarmerie anzustoßen, sondern dass es gerade die überzeugten Partisanen der Komposition mit allen waren, die noch am Vortag eifrig daran beteiligt waren, eine der beiden Baracken zu zerstören und ihre Bewohner vom Dach zu vertreiben. Wenn Komposition bedeutet mit dem Staat, an der Seite von Gewerkschaften und gewählten Vertretern zu verhandeln, wenn Komposition bedeutet, sich in einem entscheidenden Moment des Kampfes, in dem die Minderheit sich gegen jede Legalisierung wehrt, auf die Seite der Ordnung zu stellen, dann offenbart dies nur die wahre Bedeutung dieses dehnbaren Wortes: Kollaboration mit der herrschenden Macht. Diese Art der faktischen Konvergenz zwischen Macht und Gegenmacht, zwischen Konstituenten und Destituenten, ist nicht einfach das Ergebnis einer Not- oder Paniksituation, sondern die Folge einer Logik, die im Begriff der Komposition selbst steckt. Sie erlaubt es den Autoritären aller Couleur sich untereinander zu arrangieren, wenn es nötig ist und geht natürlich auch auf Kosten der Antiautoritären, deren Bedenken zu anspruchsvoll und nicht realpolitisch genug sind.

Strukturell gesehen ist der Begriff der Komposition nichts anderes als die interne Anwendung des militärischen Prinzips der Allianz nach außen. Während letzteres zwischen Feinden gilt, die gestern noch unversöhnlich waren und morgen wieder Krieg führen werden, betrifft ersteres Gegner innerhalb desselben Lagers, die in der Lage sind zusammenzuleben, ohne sich gegenseitig zu zerstören oder auszugrenzen, indem sie ihre gegensätzlichen Vorstellungen beiseite schieben, um ihre Kräfte vorübergehend auf einen gemeinsamen Feind zu konzentrieren. In beiden Fällen setzt dies eine bemerkenswerte Fähigkeit voraus, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und die Einzigartigkeit seiner Ideen sowie die Vielfalt seiner möglichen Assoziationen auszulöschen, um unterschiedliche Truppen zu trainieren, damit sie im Gleichschritt im Dienste einer übergeordneten Einheit (der Partei, der Versammlung, des Kollektivs, des Volkes, der Bewegung des Kampfs) marschieren.

Jenseits der Frage, ob der eine oder andere sympathisch ist oder nicht, ist die Komposition eine Logik, die grundsätzlich jede Ethik zugunsten des politischen Kalküls verbannt. Sie ist eine alternative Verwaltungstechnik der Ordnung und der Organisation der Verwirrung, die versucht die irreduziblen Antagonismen zu neutralisieren, die in den Kämpfen schwelen können: zwischen der Anpassung des Bestehenden oder seiner Zerstörung, zwischen der Verhandlung mit der Macht oder der direkten Aktion gegen sie, zwischen wissenschaftlicher Gegenexpertise oder der Verweigerung der Spezialisierung wie der Delegation, zwischen der Akzeptanz von Parteien und Gewerkschaften oder der Selbstorganisation ohne Vermittlung, zwischen der Anwesenheit von Journalisten oder der Verweigerung jeglicher Vertretung, zwischen Autorität oder Freiheit. Es ist daher wahrscheinlich kein Zufall, dass die Art der Komposition besonders gut zu den Autoritären passt, mit ihrer quantitativen Vorstellung von einer konzentrierten und wendigeren Kraft, als einer verstreuten und autonomeren, mit ihrem taktischen Gespür für wechselnde Winde und vor allem mit ihrer Besessenheit, Mittel und Zweck zu entkoppeln (was zum Beispiel ihre Skrupellosigkeit erklärt, wenn es darum geht, Profis der Massenlüge einzusetzen, um ihre Botschaft zu verbreiten; ihre Leichtigkeit, vor den Gerichten das Eine und vor ihren Anhängern das Andere zu erklären, oder ihre Fähigkeit, mit der institutionellen Linken in Kontakt zu treten). In dieser Logik der Buchhalter geht es nicht mehr darum, autonome Perspektiven und subversive Ideen hier und jetzt zu verteidigen, indem man sie im eigenen Leben verkörpert, sondern nur noch um strategische Situationen, die organisiert und verwaltet, ja diszipliniert und regierbar gemacht werden müssen, im Namen der Effizienz des Kampfes, zu dem einige wenige, notwendigerweise aufgeklärte Wesen die Schlüssel besitzen. In dieser Logik der Mehrheitsentscheidungen, der taktischen Kompromisse und der überlegenen Allmende wird natürlich noch weniger an riesige Konstellationen von Affinitätsgruppen gedacht, die sich auf informelle Weise selbst organisieren und der Kraft eine qualitative und dissonante Dimension verleihen. Diese Dimension ist in der Lage, das berühmte “und seine Welt” aus einer anarchistischen Perspektive vollständig zum Ausdruck zu bringen, mit einerseits einer revolutionären Kritik, die versucht, alles zu erfassen, was die Existenz des bekämpften Projekts ermöglicht und andererseits einer Methodik, die Feindseligkeiten nährt, so dass aus dem anfänglichen Rahmen des Kampfes – einem bestimmten Machtprojekt – aufrührerische Momente explodieren können, die darüber hinausgehen.

Trotz der vielen Siegesmeldungen, die den Eintritt der besetzten Gebiete in die Zwangsjacke des Gesetzes versprechen, kann niemand vergessen, dass seit den offensiven Anfängen des Kampfes viele Angriffe und Sabotageakte gegen die Welt des Flughafens stattgefunden haben (ganz zu schweigen von den Dutzenden von Solidaritätsaktionen anderswo oder den Zeiten der Konfrontation mit der Polizei).

Dies war bereits 2010 der Fall, beim Widerstand gegen die vorbereitenden Arbeiten (Absteckung und geotechnische Bohrungen, Bau von Zufahrtsstraßen) und die Gerichtsvollzieher; bei der Besetzung und Plünderung eines Teils des derzeitigen Flughafens Nantes Atlantique in Bouguenais im Juli 2011; bei der Sabotage der Baustelle für den Ausbau der Schnellstraße Sautron/Vigneux-de-Bretagne im Mai 2012; beim Anzünden von Material der Eisenbahn in Nort-sur-Erdre im November 2012; mit der Brandstiftung am Auto des Vinci-Wachmanns in Fay-de-Bretagne im November 2012; mit der Sabotage von sieben Strommasten mit einem Vorschlaghammer auf der Trasse des künftigen Straßenkorridors im März 2013; mit der dreimaligen Sabotage der Mobilfunk-Relaisstation in Vigneux-de-Bretagne im Juli, September und Oktober 2014; und mit der Plünderung der Total-Tankstelle in Temple-de-Bretagne im Februar 2016. In jüngster Zeit haben sich diese Möglichkeiten auch auf Biologen ausgeweitet (die im April 2015 nach Vigneux-de-Bretagne kamen, um einen Molch zu studieren), auf lokale Mitarbeiter (im November 2012 brannte in Vigneux-de-Bretagne der Schuppen und das Strohlager eines feindlich gesinnten Landwirts nieder, das Haus des Ehepaars Lamisse, das im Januar 2016 in Notre-Dame-des-Landes geplündert wurde), Journalisten (Autos von France 3 wurden im Oktober 2016 mit Eisenstangen zertrümmert) und Politiker (Autos von France Bleu Loire Océan und Mélenchon wurden im März 2017 mit Scheiße beschmiert).

Reformismus ist zweifellos die beste Option, um Nischen innerhalb des Bestehenden zu arrangieren, und die Partisanen der alternativen Konfliktualität haben einen historischen Vorsprung in Bezug auf die Integration und Wiederaufnahme von Kämpfen. Was die anderen anbelangt, so gibt es immer noch eine ganze Welt, die angegriffen werden muss, in der autonome und auf Affinität basierende Möglichkeiten lebendig bleiben, mit denen zum großen Missfallen der Führer der Komposition und ihrer Verbündeten im Kampf gegen diesen Flughafen ,experimentiert wird.

In Notre-Dame-des-Landes liegt eine Leiche: die einer regelrechten Komposition, die, einmal an die Wand gestellt, endgültig klar gemacht hat, sowohl mit wem (dem Staat) als auch gegen wen (die Unkontrollierten) sie ihre opportunistische kleine Welt aufbauen will. Wir wissen auch, was der Preis dafür ist, die mehr oder weniger sichtbar organisierten Autoritären in Ruhe politisieren zu lassen. Das ist eine gute Nachricht, denn der zunehmend unerträgliche Geruch dieser Leiche eröffnet tausend andere Wege. Diesmal in Richtung Freiheit in Aktion.

März 2018

[Originaltitel: Ci-gît un cadavre; erschienen in Avis De Tempêtes #3]