Übersetzung: Die anhaltende Verweigerung des Paradies (Penelope Nin)

Es wird gemunkelt, dass wir (ein nicht genau definiertes “wir”, dessen mangelnde Definition den Gerüchten entgegenkommt) nichts mit dem Anarchismus zu tun haben und in Wirklichkeit Nihilist:innen sind, die sich verkleidet haben, um mit schlechten Absichten in das Heiligtum der Anarchie einzudringen. Es ist bekannt, dass jemand, der die Aufgabe übernimmt, den Tempel zu bewachen, am Ende überall Dieb:innen sieht. Vielleicht ist die Stunde gekommen, “unsere” besorgten Verleumder:innen zu beruhigen.

Zunächst einmal müssen sie erklären, was sie mit Nihilismus meinen. Ich persönlich betrachte jeden, der mir die Freuden des Nihilismus anpreist, mit Misstrauen, weil ich den Nihilismus als Begründung des Nichts für eine Täuschung halte. Wenn die Unvollständigkeit von allem mit einem Gefühl der Fülle kultiviert wird, ist es schwierig, der Versuchung zu widerstehen, das alte Absolute durch sein abstraktestes Moment zu ersetzen, in dem das Nichts sofort in das Alles verwandelt und somit totalisiert wird. Letztlich scheint mir der Nihilismus eine listige Form der Argumentation zu sein, die die gesamte Struktur des Wissens in die Dunkelheit des Nichts treibt, nur um durch diese spektakuläre, radikale Negation noch mehr vom Licht des Alles zu erhalten.

Aber wahrscheinlich besteht der behauptete “Nihilismus” aus etwas viel Einfacherem, nämlich aus einer vermeintlichen Abwesenheit von Vorschlägen. Mit anderen Worten: Man ist nihilistisch, wenn man sich beharrlich weigert, ein zukünftiges irdisches Paradies zu versprechen, sein Funktionieren vorauszusehen, seine Organisation zu studieren, seine Vollkommenheit zu preisen. Man ist nihilistisch, wenn man, anstatt alle Momente der relativen Freiheit, die diese Gesellschaft bietet, zu nutzen und zu schätzen, sie radikal negiert und die drastische Schlussfolgerung zieht, dass nichts von ihr zu retten ist. Schließlich ist man nihilistisch, wenn die eigene Tätigkeit, statt etwas Konstruktives vorzuschlagen, auf ein “zwanghaftes Hochjubeln der Zerstörung dieser Welt” hinausläuft. Wenn dies das Argument ist, dann ist es in der Tat ein mageres.

Zunächst einmal ist der Anarchismus – die Idee – eine Sache, und die anarchistische Bewegung – das Ensemble von Menschen, die diese Idee unterstützen – eine andere. Es macht für mich keinen Sinn, über die Idee zu sagen, was in Wirklichkeit nur ein paar Anarchist:innen behaupten. Die Idee des Anarchismus ist die absolute Unvereinbarkeit von Freiheit und Autorität. Daraus folgt, dass man in der völligen Abwesenheit von Macht die totale Freiheit genießen kann. Da die Macht existiert und nicht die Absicht hat, freiwillig zu verschwinden, wird es in der Tat notwendig sein, einen Weg zu schaffen, sie zu beseitigen. Korrigiert mich, wenn ich mich irre.

Ich verstehe nicht, warum eine solche Prämisse, die zu leugnen und zu unterdrücken keine:r anarchistischen “Nihilist:in” je im Traum eingefallen ist, zwangsläufig dazu führen muss, neue gesellschaftliche Regelungen zu postulieren. Ich verstehe nicht, warum man sich, um “Teil” der anarchistischen Bewegung zu sein, erst einer Doktorprüfung in der Architektur der neuen Welt unterziehen muss, und warum es nicht ausreicht, die Freiheit zu lieben und jede Form von Autorität mit allem, was dazu gehört, zu hassen. All dies ist nicht nur vom theoretischen Standpunkt aus absurd, sondern auch vom historischen Standpunkt aus falsch (und die anarchistischen Gerüchtekrämer:innen zeigen so viel Eifer für die Geschichte). Einer der Punkte, über den Malatesta und Galleani regelmäßig aneinandergerieten, war genau die Frage, ob es notwendig sei, zu planen, was nach der Revolution geschaffen werden würde oder nicht. Malatesta argumentierte, dass die Anarchist:innen sofort damit beginnen müssen, Ideen zu entwickeln, wie das gesellschaftliche Leben zu organisieren sei, weil es keine Unterbrechung zulasse; Galleani hingegen vertrat die Ansicht, dass die Aufgabe der Anarchist:innen die Zerstörung dieser Gesellschaft sei, und dass künftige Generationen, die gegen die Logik der Herrschaft immun seien, herausfinden würden, wie man sie wieder aufbauen könne. Trotz dieser Differenzen beschuldigte Malatesta Galleani nicht, Nihilist zu sein. Eine solche Anschuldigung wäre grundlos gewesen, denn ihre Differenz bestand nur in dem konstruktiven Aspekt der Frage; über den destruktiven Aspekt waren sie sich völlig einig. Obwohl dies von vielen seiner Exeget:innen unterschlagen wird, war Malatesta in der Tat ein Insurrektionalist, ein überzeugter Anhänger eines gewaltsamen Aufstandes, der in der Lage wäre, den Staat zu vernichten.

Heutzutage braucht man jedoch nur darauf hinzuweisen, dass jeder, der die Macht innehat, seine Privilegien nicht freiwillig aufgibt, und die entsprechenden Schlüsse zu ziehen, um des Nihilismus bezichtigt zu werden. Innerhalb der anarchistischen Bewegung, wie überall, ändern sich die Zeiten. Während sich die Debatte unter Anarchist:innen einst um die Art und Weise drehte, wie man sich die Revolution vorstellt, scheint sich heute alle Diskussion um die Art und Weise zu drehen, sie zu vermeiden. Welchen anderen Zweck könnten all diese Abhandlungen über Selbstverwaltung, libertären Munizipalismus oder die gesegnete Utopie des gesunden Menschenverstands haben? Es ist klar, dass die destruktive Hypothese erschreckende Konturen annimmt, sobald man das Projekt der Insurrektion als solches ablehnt. Was für Malatesta nur ein Irrtum war – sich auf die Zerstörung der sozialen Ordnung zu beschränken -, stellt für viele heutige Anarchisten einen Horror dar.

Wenn fromme Seelen das Bellen eines Hundes hören, denken sie immer, dass ein grausamer Wolf kommt. Für sie wird das Blasen des Windes zu einem herannahenden Tornado. In gleicher Weise ist für jede:n, der:die die Aufgabe, die Welt zu verändern, allein der Überzeugungsarbeit anvertraut hat, das Wort “Zerstörung” verstörend und ruft schmerzhafte und unangenehme Bilder im Kopf hervor. Diese Dinge machen einen schlechten Eindruck auf die Menschen, die, wenn sie bekehrt werden und sich schließlich in die Reihen der Vernunft einreihen sollen, eine Religion brauchen, die einen Eden des Friedens und der Geschwisterlichkeit verspricht. Ob es sich dabei um das Paradies, das Nirwana oder die Anarchie handelt, ist von geringer Bedeutung. Und wer es wagt, eine solche Religion in Frage zu stellen, kann nicht einfach als Ungläubige:r betrachtet werden. Im Lauf der Dinge muss eine solche Person als gefährliche:r Gotteslästerer:in dargestellt werden.

Und deshalb werden “wir” (aber wer ist dieses “wir”?) “Nihilist:innen” genannt. Aber was soll der Nihilismus in all dem, was soll das?

 

Veröffentlicht in: Killing King Abacus #1 Frühling 2000