Textsammlung: Fuck the Police heißt, dass wir uns nicht wie Bullen verhalten – Texte von Clementine Morrigan zur Cancel­Kultur

Fuck the police heißt, dass wir uns nicht wie Bullen verhalten ist eine Sammlung von Texten über die Verweigerung der “Cancel”-Kultur und die Erschaffung einer Linken, die auf Hingabe, Wertschätzung, Freiheit und Respekt vor Unterschieden basiert. Diese Broschüre behandelt viele verschiedene, miteinander verwandte Themen: Eine Definition von “Cancel”-Kultur; wie “Cancel”-Kultur Leid aufrechterhält, statt es zu  adressieren; was es bedeutet Verantwortung zu übernehmen, wenn wir jemandem Leid zugefügt haben; die Praxis in gewalttätige Situationen zu intervenieren; die Notwendigkeit von Dissens und Widerspruch in der Linken; die Überwindung des Verlangens Menschen gefallen zu wollen. Diese Broschüre nimmt die Arbeit für Gerechtigkeit und Befreiung ernst; schätzt die Genesung und Autonomie von Überlebenden; glaubt daran, dass niemand austauschbar ist; zielt darauf ab Gemeinschaften zu erschaffen, die nicht strafend oder autoritär sind.

Dies ist ein Liebesbrief an eine Linke, die wir gemeinsam erschaffen, für eine gerechtere Welt, in der wir keine Angst vor unseren Freund:innen haben.

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Fuck the police heißt, dass wir uns nicht wie Bullen verhalten.

Inhalt

Vorwort des Übersetzers

Einleitung

Fuck the police heißt, dass wir uns nicht wie Bullen verhalten

Die neue Welt jetzt

“Cancel” mich

Die zwölf Schritte

Scham

Vier mögliche Antworten auf leidvolle Situationen

Gedanken zur Übernahme von “Accountablity”, wenn wir wissen, dass wir jemandem Leid zugefügt haben

Es gibt Meinungsverschiedenheiten in der Linken

Dem Mob kann nicht entkommen werden

Du hast nicht unbedingt etwas falsch gemacht, wenn Menschen auf dich wütend sind

“Cancel”-Kultur ist missbräuchlich

Wir dürfen Leuten widersprechen, die ihren Anspruch auf Wahrheit und Autorität auf ihre Identität Gründen

Ich habe meinem Ex als missbräuchlich bezeichnet, obwohl er es nicht war: Über vergangene Traumata, gegenwärtiges Handeln und die Notwendigkeit der Unterscheidung

Den Unterschied zwischen “Accountability” und dem auf Traumata beruhenden Verhalten es anderen Recht machen zu wollen

Vorwort des Übersetzers

Clementine Morrigans Beiträge zur sog. “Cancel”-Kultur bieten eine spannende, aber auch schwierige Perspektive auf eben jene (Sub)Kultur. Die Stärke der formulierten Kritik liegt in der Perspektive einer Person, die die repressiven Tendenzen mitgetragen hat und am Ende den Bruch vollzog. Durch den sehr persönlichen Schreibstil wird die Kritik auch zu einer Selbstkritik. Das war der Grund, wieso diese Texte ins Deutsche übertragen wurden. Hoffentlich tragen sie zu einer hiesigen Diskussion bei, die weggeht von Anschuldigungen und wieder mehr auf Verständnis und Austausch setzt. Kritik von Außen trägt all zu oft den Charakter eines Angriffs, bzw. wird so aufgefasst. Die (verständnisvolle) Kritik einer Person, die persönlich weiß von was sie spricht, birgt da eine ganz andere Kraft.

Gleichzeitig ist eine große Schwäche dieser Texte, dass sie weiterhin die Logik, den Sprachgebrauch, und in vielerlei Hinsicht auch die Perspektiven in sich tragen, zu deren Überwindung sie aufrufen.

Für Außenstehende mag die “Social-Justice”-Szene mit ihrem Kauderwelsch oft unverständlich sein. Da diese Community schon immer viel Inspiration aus dem englischsprachigen Raum zog (und teils auch Diskussionen so führt, als wären wir dort), werden auch viele Begriffe direkt aus dem Englischen übernommen. Da es sich dabei mittlerweile um feste Begrifflichkeiten handelt, die fixe Konzepte repräsentieren, wurden die entsprechenden englischen Begriffe beibehalten. Diese Stellen wurden mit ” ” markiert. Anführungszeichen im Original werden mit « » dargestellt.

Die Texte wurden an einigen Stellen gekürzt und ein Essay wurde nicht mitaufgenommen. Inhaltlich befassten sich alle Auslassungen (und auch der Text) mit den Reaktionen des Nervensystems auf Trauma. Dies geschah, da sie nicht zum inhaltlichen Fokus der Textsammlung passten.

Da Clementine dazu neigt ihre Texte zu absurden Preisen zu verkaufen, ist es natürlich eine besondere Freude den deutschsprachigen Leser:innen das Material zur freien Verfügung zu stellen. Stay pirate – Stay rebel.

Einleitung

Vor etwa fünf Jahren lernte ich jemanden kennen. Wir hatten viel gemeinsam und beschlossen uns gegenseitig auf Facebook zu adden. Ich freute mich über diese neue Verbindung, da diese Person eine Menge ähnlichen Aktivismus wie ich machte und wirklich cool wirkte. Wir lebten in unterschiedlichen Städten, aber es war cool online in Kontakt zu sein.

Kurz nach dem Hinzufügen zu Facebook benachrichtige mich ein:e Freund:in, dass diese Person problematisch sei, dass es in der anderen Stadt einen “Call-out” gegeben hatte und ich sie nicht unterstützen sollte. Die Anschuldigungen waren vage und ich hatte keine Möglichkeit herauszufinden, inwieweit sie der Wahrheit entsprachen.

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon ein paar Jahre trocken und immer noch voller Scham über mein früheres Leben als Suchtkranke:r. Ich fühlte mich wie ein:e Hochstapler:in in diesen “Social-Justice”-Gemeinschaften mit deren vermeintlichen ethischen und politischen Reinheit. Ich bin jemand, der sich gegenüber vielen Menschen übergriffig verhalten hat, bevor ich trocken wurde. Und während ich versuchte mit Integrität zu leben und ein neues Leben aufzubauen, hatte ich große Angst, dass mir das alles genommen werden könnte. Ich hatte immer wieder Selbstmordgedanken, wenn ich daran dachte wie leicht es wäre mich zu “canceln”.

Also beschloss ich, dass es sich nicht lohnte diese neue Verbindung weiter zu pflegen. Obwohl diese Person nett zu sein schien, obwohl ich nicht wissen konnte, ob das was geredet wurde der Wahrheit entsprach, obwohl nicht einmal klar war was wirklich gesagt wurde oder ob das, was gesagt wurde überhaupt bedeutete, dass etwas Falsches getan worden war und obwohl ich ganz sicher nicht in der Position war, darüber zu urteilen, brach ich die Verbindung ab.

Die Person schrieb mir und fragte mich, warum ich sie entfreundet hätte und ich antwortete, dass ich diese Dinge gehört hätte. Die Person war auch suchtkrank und am genesen und so versuchte sie mit mir von Suchtkranke:r zu Suchtkranke:r zu sprechen. Sie erzählten mir, dass sie vor ein paar Jahren einen zwischenmenschlichen Konflikt hatte und die Reaktionen darauf völlig unverhältnismäßig gewesen wären. Sie wurden nun als schlimm und problematisch dargestellt und es kam immer wieder zu Situationen in denen die Leute sich einem Kennenlernen verweigerten.

Ich hatte großes Mitgefühl. Und doch wollte ich nicht in der selben Lage sein. Meine einzige Empfehlung war, darüber zu reflektieren, was die eigene Rolle gewesen sein könnte. Die Antwort war, dass dies schon getan wurde und es Versuche gegeben hätte die Dinge in Ordnung zu bringen, aber nichts schien etwas zu bewirken. Ich sagte ihr, sie solle es weiter versuchen und beließ es dabei.

Ich musste annehmen, dass sie im Unrecht war, so wie ich wusste, dass ich zutiefst im Unrecht war. Ich musste glauben, dass man einen Call-out verdient hat, denn das war die Botschaft die ich von der politisch selbstgerechten Gemeinschaft, in der ich mich befand, erhielt. Ich musste glauben, dass die einzige Antwort darin bestand die eigene Verantwortlichkeit zu übernehmen, so wie ich versuchte meine Verantwortlichkeit zu übernehmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in dem Fall vielleicht gar nichts falsch gemacht wurde oder dass vielleicht die Leute, die sie belästigten und sie daran hinderten neue Freund:innen zu finden, diejenigen waren die sich übergriffig verhielten.

Die Jahre vergingen und ich lebte ein unbedeutendes Leben voller Angst und Scham. Ich prägte mir die ständig wechselnden Regeln der “Social-Justice”-Szene ein, in der ich mich bewegte. Ich machte die richtigen Posts auf Social Media. Ich stellte sicher, dass ich andere Leute korrigierte, wenn sie etwas falsch machten und sprach oft über meine Privilegien und auch über die Art und Weise, wie ich unterdrückt wurde. Ich wusste nicht, was ich mit meiner Vergangenheit anfangen sollte. Ich habe, wo immer es möglich war, direkte Wiedergutmachung geleistet und mein Verhalten geändert, aber ich wusste, dass das in der Welt der “Social-Justice” nicht genug war. Ich wusste, dass die Dinge, die ich getan hatte einen dauerhaften und unwiderruflichen Makel auf mir hinterließen und egal wie gut ich jetzt war, wenn meine Vergangenheit jemals ans Licht käme, wäre es für mich vorbei.

Nachdem ich etwa fünf Jahre trocken war erreichte ich eine neue Stufe der Genesung. Ich lernte, mich wirklich zu lieben und durch diese Liebe begann ich die Glaubenssysteme, die ich in mir trug, zu hinterfragen. Ich begann meine Scham abzulegen und mich über meine Integrität und mein Handeln in der Gegenwart zu definieren, anstatt über die Fehler meiner Vergangenheit. Ich begann mich zu fragen, ob die übermäßige Überwachung und Angst, die ich in meinen Gemeinschaften spürte, gesund war. Ich begann mich zu fragen wie es wohl wäre nicht mit dieser Angst zu leben.

Ich begann, über Menschen nachzudenken, die ich aufgrund von Gerüchten, die ich über sie gehört hatte, aus meinem Leben ausgeschlossen hatte. Ich begann mich zu fragen, ob ich auch so behandelt werden wollte. Ich begann mich zu fragen, ob das wirklich zur Heilung der Menschen und ihrer Fähigkeit, “Accountablity” zu übernehmen, beitrug. Ich war mir sicher, dass meine Heilung und mein verändertes Verhalten durch die bedingungslose Akzeptanz und die Gemeinschaft, die ich in den Zwölf-Schritte-Programmen1 fand, ermöglicht wurden. Wie kam ich also auf die Idee, dass Klatsch und Ausgrenzung den Menschen helfen würden sich zu ändern?

Die Wahrheit ist, dass ich nicht wirklich dachte, dass es helfen würde. Ich wollte einfach nicht selbst “gecancelt” werden. Ich wollte mich von den Leuten abgrenzen, die einen Call-out erfuhren. Aber jetzt, durch meine eigene Heilung und mein Wachstum, fand ich den Mut, mir einzugestehen, dass dieses Verhalten nicht mit meiner Integrität, meinen Prinzipien oder meinen Werten vereinbar war. Ich wollte ein integres Leben führen, in dem ich die Menschen so behandle, wie ich selbst behandelt werden möchte.

Ich wandte mich an einige dieser Menschen, die ich ausgegrenzt hatte und entschuldigte mich bei ihnen. Eine dieser Personen war diese Person, die in einer anderen Stadt lebte und mit der ich mich vor Jahren auf Facebook entfreundet hatte. Ich schickte ihr eine Freund:innenschaftsanfrage und sagte ihr: «Du warst immer nur nett zu mir und es war nicht cool von mir dich aufgrund einiger Gerüchte, die ich gehört hatte, so zu behandeln.» Sie war sehr nett und nahmen meine Entschuldigung an. Es stellte sich heraus, dass ich diese Stadt bald besuchen würde und wir beschlossen, uns zu treffen und einen Kaffee zu trinken.

Als ich Jay persönlich kennenlernte, war ich erstaunt, wie freundlich, großzügig und aufmerksam Jay war. Wir sprachen über viele Dinge und wir hatten so viel gemeinsam. Ich konnte nicht glauben, dass ich diese Verbindung so lange ignoriert hatte weil ich Angst um meinen Ruf hatte. Mir wurde klar, dass mir meine eigene Einschätzung des Charakters eines Menschen wichtiger war als Gerüchte.

Aus dem Kaffee wurde ein Date und aus einem Date wurde eine Beziehung. Jay, ist nun seit dreieinhalb Jahren mein:e Partner:in. Diese Beziehung hat mein Leben verändert, mir geholfen zu heilen und zu wachsen. Sie hat mir gezeigt, was sichere Bindung bedeutet. Jay ist mein:e Partner:in, Gefährt:in und Freund:in. Jay ist jemand den ich respektiere, liebe und dem ich vertraue. Ich finde es total verrückt, dass ich die Gelegenheit, diesen wunderbaren Menschen kennenzulernen, wegen der Heimtücke der “Cancel”-Kultur fast verpasst hätte.

Es ist auch erwähnenswert, dass dies die erste Beziehung war, in der ich mich voll und ganz wahrgenommen und akzeptiert fühlte, in der ich ohne Zweifel wusste, dass keine “Cancel”-Kampagne oder irgendeine Leiche in meinem Keller bedeutet verlassen zu werden. Jay und ich haben viele Stunden damit verbracht, über den “Cancel”-Kult zu sprechen, darüber wie missbräuchlich er ist, wie er unsere Gemeinschaften zerstört und wie viele Menschen sich in ihren Freund:innenschaften nicht mehr sicher fühlen, weil immer “canceln” droht. Ich habe mit Jay über meine Vergangenheit gesprochen, über die Dinge die ich bereue, die Dinge für die ich mich schäme und ich habe mich nicht ein einziges Mal gefragt, ob Jay diesen Scheiß ins Internet stellen würde, um zu versuchen mein Leben zu ruinieren. Ich werde wahrgenommen, geliebt und akzeptiert mit allem, was ich bin. Und an diesem Punkt in meinem Leben möchte ich nur noch solche Beziehungen aufbauen.

Das heißt aber nicht, dass Jay und ich uns nie gegenseitig hinterfragen. Jemanden zu lieben und zu respektieren bedeutet ehrlich zu sein und Feedback zu geben. Wir wollen, dass unser Gegenüber integer lebt und das Beste aus sich herausholt und deshalb erwarten wir, dass wir Feedback bekommen. Aber das Feedback wird mit Respekt, Neugier und Mitgefühl gegeben und respektiert immer die Autonomie und Zustimmung der anderen Person. So verhält es sich heute in all meinen Freund:innenschaften und engen Beziehungen. Ich baue keine Beziehungen mehr zu Menschen auf die an die “Cancel”-Kultur glauben.

Im vergangenen Sommer erlebte ich eine wirklich intensive “Cancel”-Kampagne. Die Anschuldigungen gegen mich lauteten, dass ich meinen Internetaktivismus nicht genau so betreibe, wie es eine mir unbekannte Person von mir verlangt. Das Ergebnis waren monatelange, unaufhörliche Belästigungen, der Verlust der meisten meiner engen Freund:innen, der Verlust einer Liebesbeziehung, der Verlust meiner Wohnung und der Verlust meines Einkommens und meiner beruflichen Sicherheit, weil ich zu überfordert war, um online zu sein (wo ich meine Arbeit bewerbe).

Ich wurde von meiner Gemeinschaft in meiner Stadt völlig im Stich gelassen und auch auf internationaler Ebene massiv belogen und schikaniert. Ich war zum ersten Mal, seit ich ein Teenager war, wieder ernsthaft selbstmordgefährdet. Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das war. Und das alles während Fremde von mir verlangten, dass ich “accountable” bin.

Viele Leute haben mich gefragt, warum ich nicht «Accountability übernehme» oder eine Erklärung über die Geschehnisse geben möchte. Der Grund: Es ist nichts passiert und es gibt nichts wofür ich die Verantwortung übernehmen könnte. Ich wurde zur Zielscheibe einer Mobbingkampagne, die sich auf vage und unbedeutende Anschuldigungen stützte und versuchte, mir alles wegzunehmen.

Aber sie konnten mir nicht alles nehmen. Jay hielt zu mir, hielt mir den Rücken frei und liebte mich in dieser Zeit. Eine Handvoll Freund:innen und Bekannte setzten sich für mich ein, kochten mir Essen, gaben mir die Schlüssel zu ihren Wohnungen, nachdem ich aus meiner Wohnung ausziehen musste und liebten mich während einer der schlimmsten Erfahrungen in meinem Leben. Ich habe herausgefunden wer meine wahren Freund:innen sind. Es waren nicht die, die ich erwartet hatte. Und das sind die Beziehungen, die ich hegen und pflegen werde. Das sind die Menschen denen ich vertraue und bei denen ich mich sicher fühle.

Jetzt, wo ich langsam die Teile meines Lebens wieder zusammensetze und neue Freund:innen gefunden habe, habe ich mich sehr verändert. Ich bin nicht mehr bereit, so zu tun, als wäre diese Scheiße in Ordnung. Ich bin nicht mehr bereit auf Zehenspitzen umherzugehen und meine Meinung zu verbergen, aus Angst, (wieder) “gecancelled” zu werden. Ich muss eine Gemeinschaft und Freund:innenschaften aufbauen, die vertrauenswürdig sind, was bedeutet, dass ich wissen muss, was die Leute über die “Cancel”-Kultur denken.

Bevor ich “gecancelled” wurde, war ich mutig genug ein paar Dinge über die “Cancel”-Kultur zu schreiben und seit meiner “Cancellung” habe ich noch mehr geschrieben. Dieses kleine Heft ist eine Sammlung einiger dieser Texte sowie damit zusammenhängender Texte über den Aufbau von Gemeinschaften, die nicht strafend sind und darüber, wie man Verantwortung übernimmt und bei Leid eingreift. Es ist Teil meiner Vision und meines Traums zum Aufbau einer Linken beizutragen, die freundlich und mitfühlend ist, die Meinungsverschiedenheiten und Dissens zulässt und die nicht auf Zwang und Strafe setzt.

Dieses Zine ist mit Liebe allen gewidmet, die mich nicht im Stich gelassen haben, auch wenn das ein persönliches Risiko bedeutete (“Cancelungen” sind ansteckend). Und ganz besonders ist es Jay gewidmet. Danke für deine Großzügigkeit und Güte, selbst nachdem ich bei deiner “Cancelung” mitgemacht habe, danke, dass du nicht bei meiner “Cancelung” mitgemacht hast, danke, dass du mir den Rücken gestärkt hast und verdammt mutig warst.

Fuck the police heißt, dass wir uns nicht wie Bullen verhalten

Die Abkehr vom Straf- und Gefängnisdenken ist entscheidend für den Aufbau starker Gemeinschaften.

Starke Gemeinschaften, die uns bei Konflikten nicht im Stich lassen oder uns entsorgen, wenn wir Leid verursacht haben, fördern eine sichere Bindung.

Starke Gemeinschaften schaffen die Voraussetzungen für die Übernahme von Verantwortung.

Eine Kultur der Austauschbarkeit fördert Angst und Scham.

Wir können Konflikte bewältigen und Leid abwenden, ohne uns auf Bestrafung oder Ächtung zu verlassen.

Die neue Welt jetzt

In einem dissoziativen Dunst durch Facebook und Instagram scrollen. Mit einer Horrorgeschichte nach der anderen bombardiert werden. Manchmal weine ich. Manchmal fühle ich nichts. In meinem Körper herrscht ein überwältigendes Gefühl des Grauens und der Hilflosigkeit. Ich sehe wie meine Freund:innen Beiträge verfassen, in denen sie erklären: «Ich will hoffen, dass du darüber schreibst!» und ich will nicht darüber schreiben. Nicht, weil es nicht wichtig ist, nicht, weil es mir egal ist, sondern weil es sich nicht hilfreich, sinnvoll oder aufrichtig anfühlt. Ich möchte mehr als eine Vielzahl von Beiträgen teilen, die schockieren, empören und von anderen verlangen, dass sie dasselbe tun. Es ist nicht so, dass der Schock und die Wut nicht echt wären, aber sie werden zu einer Darbietung, wenn sie befohlen werden und sie werden zu einer Darbietung, weil sie nicht einmal annähernd dem entsprechen, was wir wirklich fühlen.

Ich glaube nicht, dass Scham oder Angst gute Motivatoren sind. Ich denke sie korrumpieren das Handeln. Aus dem Studium (und dem Erleben) von Traumata weiß ich, dass Hypervigilanz den Frontallappen des Gehirns buchstäblich ausschaltet. Ein Leben, das auf Angst und Scham, auf Trauma und Terror basiert, macht Kreativität und Neugierde extrem schwierig, wenn nicht unmöglich.

Wir brauchen Kreativität und Neugier, wir brauchen die Fähigkeit neue Dinge auszuprobieren und neue Verbindungen herzustellen. Wir brauchen eine aktive und funktionierende Vorstellungskraft, damit wir Alternativen zu dem Bestehenden erträumen können.

Ich bin nicht mehr daran interessiert mich als Person mit «guter Politik» zu beweisen, die richtigen Dinge auf Facebook zu sagen und stillschweigend zuzusehen, wie sich meine Gemeinschaft wegen kleiner Vergehen gegenseitig niedermacht. Ich bin erschöpft von der Wiederholung der Darbietung, von der Art und Weise wie unterschiedliche Meinungen oder Strategien zum Ausschluss führen können, von der Art und Weise wie wir so hart an der Reinheit arbeiten und uns gegenseitig misstrauische Blicke zuwerfen, anstatt unsere Energie zu bündeln, anstatt uns gegenseitig zu unterstützen. Ich kann meine «Güte» oder meine «Richtigkeit» nicht beweisen. Ich bin ein menschliches Tier das tief in die Welt verliebt ist und dessen Leben und Freiheit mit dem deinen verbunden ist. Ich muss von einem Ort der Aufrichtigkeit und der Liebe aus kämpfen. Ich kann nicht aus Scham oder Angst handeln.

Ich interessiere mich für präfigurative Politik. Oder anders gesagt: Das Wie ist für mich genauso wichtig wie das Warum oder das Was. Ich glaube nicht, dass wir Freiheit schaffen können indem wir uns gegenseitig als Wegwerfartikel behandeln. Ich glaube nicht, dass wir Freiheit schaffen können indem wir hypervigilant unsere eigene und die Sprache und die Entscheidungen der anderen überwachen und unsere Auftritte in den sozialen Medien zu einer sorgfältig kuratierten Performance der «guten Politik» machen. Ich glaube nicht, dass wir Freiheit schaffen können indem wir Angst und Scham fördern oder darauf bestehen, dass jede:r auf bestimmte, spezifische Weise auf verheerende Gewalt reagieren muss.

Ich glaube, dass die Art und Weise wie wir uns gegenseitig behandeln das Herzstück unserer Bewegungen für Veränderungen ist. Wir werden die neue Welt in der Art und Weise erschaffen, wie wir einander in diesem Moment behandeln. Das bedeutet nicht, dass wir einander mögen müssen oder dass wir uns einig sein müssen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht wütend sein dürfen. Das bedeutet nicht, dass wir einander vertrauen müssen. Es bedeutet nicht, dass wir nie gemein oder genervt oder fertig sein können. Aber es bedeutet, dass wir mehr verändern werden indem wir für uns gegenseitig das schaffen, was diese gewalttätigen Systeme uns verweigern, die Dinge,die wir für unsere Menschlichkeit brauchen und auch die Dinge, die wir brauchen um die Welt zu verändern.

Wir können Gemeinschaften schaffen in denen wir uns umeinander kümmern. Das bedeutet nicht, dass ich mich persönlich um jemanden kümmern muss der mich persönlich verarscht hat. Aber es bedeutet, dass es Netzwerke der Fürsorge geben muss, die Menschen einschließen die Leid verursacht haben. Menschen mit denen wir nicht einverstanden sind. Menschen mit unterschiedlichen Strategien. Es bedeutet, dass wir als grundlegende politische Arbeit Wege finden müssen, um Konflikte zu bewältigen, um Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Strategien zu fördern, um Aufrichtigkeit anstelle von Leistung zu erreichen.

Wir können Gemeinschaften schaffen in denen die gegenseitige Versorgung mit Nahrung, Liebe, Unterkunft, Zuhören, Heilung und Halt Vorrang hat. Wir können Gemeinschaften des Vertrauens schaffen, die die Menschen auffordern sich des Vertrauens würdig zu erweisen. Wir können Demut und Neugier kultivieren und das erstickende paranoide Gefühl einer selbstgerechten, starren Ideologie hinter uns lassen. Wir können die physiologische Realität von Stress und Trauma anerkennen, die Art und Weise wie diese Dinge uns krank machen. Und dass es in Ordnung, ja sogar notwendig ist, dass wir uns um unser eigenes Wohlergehen und das der anderen kümmern, während wir gegen diese gewalttätigen Systeme kämpfen.

Wir haben Körper! Und die implizite Bedrohung, dass wir unsere Gemeinschaft verlieren könnten (was sich wie eine Todesdrohung anfühlen kann, weil wir soziale Wesen sind die einander brauchen. Vor allem wenn unsere politischen Gemeinschaften die einzigen sind, in denen wir uns auch nur halbwegs sicher fühlen), wenn wir nicht zustimmen, auftreten, tun, was man uns sagt, überschwemmt uns mit Cortisol und Adrenalin. Es bereitet uns auf das Überleben vor: Kampf, Flucht, Erstarren oder klein beigeben (oft entscheiden wir uns für klein beigeben und entschuldigen uns sofort und ausgiebig, selbst wenn wir das Gefühl haben, dass die Reaktion auf unsere Handlung unverhältnismäßig oder ungerechtfertigt war, selbst wenn wir wirklich nicht einverstanden sind). Diese Angst und Hypervigilanz schränken unsere Fähigkeit ein, kreativ oder flexibel zu sein und uns andere Möglichkeiten vorzustellen. Wir werden nichts verändern, wenn wir unserem eigenen Körper nicht trauen dürfen, wenn wir nicht von Gemeinschaften genährt werden, die uns das Gefühl geben gebraucht zu werden und sicher zu sein.

“Cancel” mich

Ich versuche immer wieder mich für das Mädchen zu entschuldigen, das ich war, für das Leid, das sie verursacht hat, für die Dinge die sie getan und gesagt hat. Es kommt immer wieder zurück, das auf Angst basierende Denken, die Scham. Aber dann erinnere ich mich: Ich glaube nicht an Reue, ich glaube nicht an Beichte, ich glaube nicht an performative Schuld. Ich akzeptiere mich selbst und liebe mich bedingungslos. Ich glaube an Integrität, Transformation, Mitgefühl, Veränderung. Und ich habe mich verändert. Ich finde mich wieder und zwar nicht als Verleugnung von allem was ich war. Dieses Selbst ist aus dem Alten herausgewachsen. Die Person, die ich heute bin, konnte nur durch diese Verwandlung entstehen.

Es gibt keine Reinheit. Es gibt keine Erbsünde. Es gibt keine geheimen, schrecklichen Dinge in mir, die mich schlecht oder nicht liebenswert machen. Es gibt nichts zu bereuen. Es gibt nichts zu bekennen. Es gibt die Arbeit und den Prozess der Veränderung. Es gibt die Komplexität des Menschseins. Es gibt das Geflecht von generationsübergreifenden und kollektiven Traumata. Es gibt die Entscheidung zu heilen.

Ich habe genug von Internet-“Call-Outs”, die sich als Gerechtigkeit ausgeben. Ich bin erschöpft von den rasenden Angriffen und der Aufzählung unseres Schmerzes. Eine Traumareaktion nach der anderen. Nervensysteme in Bedrängnis. Wir alle versuchen gut zu sein, versuchen das Schlechte in uns selbst, das Schlechte in den anderen zu vertreiben. Wir zeigen mit dem Finger auf andere und geben ihnen die Schuld. Wir verwandeln Konflikte in Missbrauch, blockieren ihre Lösung, indem wir das Leid überbewerten und glauben, dass unsere Grenzen nur dann respektiert und unser Schmerz nur dann bestätigt wird, wenn die andere Person bestraft und als der Bösewicht abgestempelt wird. Ich bin es leid in Angst zu leben. Ich bin es leid mir sagen zu lassen, dass diese Kultur der Austauschbarkeit das Einzige ist was die Überlebenden schützt. Sie schützt uns nicht. Sie fördert nicht die Transformation. Sie lehrt uns nicht wie wir uns gegenseitig schützen können. Sie lehrt uns nicht wie man bei Schaden eingreift oder Konflikte löst. Sie bringt uns nur dazu in Angst und Scham zu leben.

Ich habe diese Dinge getan. Ich habe mich an diesen “Call-Outs” beteiligt. Ich habe mich aufgrund von Gerüchten und der Angst vor sozialen Konsequenzen geweigert mit Menschen befreundet zu sein, die zu mir nichts als freundlich waren. Ich habe mich geweigert an der harten Arbeit der Konfliktlösung beteiligt zu sein. Ich habe das zugefügte Leid zu hoch eingeschätzt. Ich habe mit dem Finger auf andere gezeigt, in der Hoffnung, dass der Finger nicht auf mich gerichtet wird. Ich habe in der Angst gelebt, dass meine verkorkste Vergangenheit ans Tageslicht kommt und alles zerstört was ich mir seit meiner Abstinenz aufgebaut habe. Ich habe so sehr versucht gut zu sein. Das Schlechte aus meinem Inneren zu verbannen. Aber gut zu sein wird das Problem niemals lösen, denn das Problem ist nicht, dass ich schlecht bin. Und wenn ich Menschen aus meiner Gemeinschaft ausschließe, wenn ich an Mobbing-Kampagnen teilnehme wird das das Problem auch nicht lösen. Denn das Problem besteht auch nicht darin, dass diese Menschen schlecht sind.

Wenn du nicht mit jemandem befreundet sein willst, der übergriffig war, dann bist du wohl nicht mein Freund:in. Wenn du von mir eine Auflistung aller von mir verursachten Schäden brauchst, um zu entscheiden, ob ich der Vergebung würdig bin, wirst du enttäuscht sein, denn ich werde keine Beichte ablegen. Wenn du wissen willst, ob ich ein vertrauenswürdiger Mensch bin, kannst du das anhand meiner Taten beurteilen, anhand der Art und Weise, wie ich dich und die anderen Menschen in meinem Leben behandle. Wenn du wissen willst, ob ich «verantwortungsbewusst» war, kann ich dir sagen, dass ich das Leid, das ich verursacht habe, nach besten Kräften wiedergutgemacht habe, auf der Grundlage meiner Integrität und Würde, aus Respekt vor mir selbst und meinen Mitmenschen. Darüber hinaus ist es eine Sache zwischen mir und denen, bei denen ich Wiedergutmachung geleistet habe, es ist eine Sache zwischen mir und dem lebendigen Universum.

Ich kann nicht in Integrität und Ehrlichkeit leben, wenn ich in ständiger Angst davor lebe ehrlich zu sein. Ich kann keine ehrliche Selbstreflexion und Verantwortung praktizieren, wenn ich durch Scham motiviert bin. Wenn ich in meinem eigenen Wert, meiner Integrität, meiner Ethik, meinen Prinzipien und meiner Spiritualität verankert bin, wenn ich mit meiner Gemeinschaft verbunden bin, die mich liebt und mich auch notfalls liebevoll herausfordert, dann bin ich frei meine Wahrheit zu sagen und es spielt keine Rolle, ob man mich mag oder nicht. Denn meine Absicht ist nicht gut zu sein, sondern in der Realität zu leben und mit Integrität zu handeln. Ich bin nicht hier, um mir etwas zu verdienen – das mir bereits gehört. Ich bin hier, um so viel positive Veränderung in der Welt zu bewirken wie ich kann, um meine Arbeit zu tun, um zu lieben und geliebt zu werden, um zu heilen und zu transformieren, um zu wachsen, um zu helfen die Welt zu bauen, die wir versuchen zu bauen.

Ich war Gegenstand von Belästigungskampagnen, die sich als rechtschaffener Ruf nach Gerechtigkeit ausgaben. Ich bin belogen worden und habe aggressive Nachrichten von Fremden erhalten, die kein Interesse daran haben was wirklich passiert ist. Ich habe miterlebt, wie Freund:innen und Angehörige wegen Meinungsverschiedenheiten und Konflikten schikaniert und verbannt wurden. Ich habe beobachtet, wie sich die Verbannung und die Schikanen auf diejenigen ausbreiteten die öffentlich Stellung bezogen und die Angegriffenen verteidigt haben. Ich bin immer wieder gefragt worden: «Was ist mit Serienmissbraucher:innen? Was ist mit Serienvergewaltiger:innen?», wann immer ich es gewagt habe die Art und Weise, wie wir mit Konflikten und Leid in unseren Gemeinschaften umgehen, in Frage zu stellen, als ob man wirklich auch nur eine Sekunde lang denken könnte, dass ich vorschlage, wir sollten bei Missbrauch und Vergewaltigung nicht eingreifen.

Ich habe meinen Körper zwischen Männer, die doppelt so groß sind wie ich und die Partnerinnen, die sie angreifen wollten, gestellt. Ich habe meine Kleidung mit dem Blut einer Fremden beschmiert, als ich ihre Mutter auf ihrem blutigen Telefon anrief und sie bat ihre Tochter im Krankenhaus abzuholen. Ich bin in den Krankenwagen gestiegen und habe den Polizisten zurechtgewiesen. Ich bin mit ins Krankenhaus gegangen. Ich habe geholfen Sicherheitsstrategien zu planen. Ich war der “Safety Call”. Ich habe an die Tür geklopft, als ich Schreie hörte. Ich habe Fragen beantwortet, wie man Freund:innen in einer missbräuchlichen Beziehung unterstützen kann. Ich habe zwischen Menschen, die nicht miteinander sprechen, Grenzen kommuniziert. Ich war ein “Safety Buddy”. Ich habe über Alternativen zum Anruf bei der Polizei nachgedacht. Ich habe die Gemeinschaft vor Menschen gewarnt, die aktiv Schaden anrichten und ich habe Unterstützung für Menschen gesucht, die aktiv Schaden anrichten. Ich habe das schwierige Gespräch geführt: «Ich weiß, dass du mit meinem Täter befreundet bist und ich möchte, dass du zu meiner eigenen Sicherheit keine Informationen über mich weitergibst, aber ich hoffe du bleibst sein Freund:in und hilfst ihm,sich zu ändern.» Ich habe eng mit Menschen zusammengearbeitet, die Leid verursacht haben, mit Überlebenden von Leid und mit Menschen, die beides sind und ich habe ihre Erfahrungen mit Mitgefühl aufgenommen und sie auf dem Weg zu dem integren Leben unterstützt, das sie führen wollen.

Ich greife bei Gewalt ein, wann immer ich sie sehe. Ich helfe bei der Kommunikation und Umsetzung von Grenzen, wann immer ich gebraucht werde. Ich leiste die harte Arbeit der Transformation in meinem eigenen Leben und helfe bei der harten Arbeit der Transformation im Leben anderer Menschen. Diese chaotische, komplizierte, harte Arbeit ist die Arbeit der Gerechtigkeit, es ist die Arbeit, an die ich glaube, weil ich mich zutiefst dafür engagiere Überlebende zu unterstützen und zwischenmenschliche Gewalt zu beenden. Diese harte Arbeit ist nicht einfach, sie basiert nicht auf der Binarität von Gut und Böse und sie ist weitaus effektiver, wenn es darum geht Leid zu stoppen und zu verwandeln, als jeder Internetaufruf,den ich je gesehen oder an dem ich teilgenommen habe.

Ich glaube nicht, dass die Kultur der Angst, der Scham, der Belästigung, der Bestrafung und der Verbannung, mit der wir derzeit alles angehen (von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten bis hin zu schwerem Missbrauch) wirksam ist, wenn es darum geht zu intervenieren, Schaden abzuwenden oder Konflikte zu lösen. Ich glaube, dass wir die Gemeinschaften aufbauen können die wir verdienen. In denen wir darin unterstützt werden verantwortungsbewusst und mitfühlend zu sein. In denen wir das massive kollektive Trauma mit dem wir zu kämpfen haben heilen. In denen wir Konflikte lösen und Schaden wirklich verwandeln. Und um meinen Teil dazu beizutragen, dass diese Gemeinschaften entstehen – nach denen ich mich so sehr sehne – muss ich in meiner Integrität leben, muss ich die Wahrheit sagen über das, was ich fühle und glaube und ich muss die Schikanen riskieren, die oft gegen Menschen gerichtet sind, die diese Dinge sagen. Ich kann das mit Liebe und Mitgefühl für mich selbst und für die Menschen tun, die nicht mit mir übereinstimmen oder sich von dem, was ich sage, angegriffen fühlen. Ich kann in meiner Integrität leben, auch wenn es beängstigend ist, weil ich mutig bin und weil mein Wunsch nach der Welt, die ich mir wünsche, dass wir sie aufbauen, stärker ist als meine Angst.

Die Leute sagen, dass “Cancel”-Kultur nicht real ist, weil niemand wirklich “gecancelt” wird.

Das wirft die Frage auf, was die Leute denken was es bedeutet, wenn jemand wirklich “gecancelt” wird.

Wenn Menschen weiterhin eine Karriere und eine Gemeinschaft haben, sagen wir, dass sie nicht wirklich “gecancelt” worden sind.

Das bedeutet, dass wir eine erfolgreiche “Cancelung” als das Ende des beruflichen und gesellschaftlichen Lebens einer Person verstehen.

Das ist unglaublich beunruhigend und zeigt, wie missbräuchlich die Logik der “Cancel”-Kultur ist.

Wenn es einer Person gelingt ihre Karriere oder etwas Community zu retten, bedeutet das nicht, dass sie nicht “gecancelt” worden ist.

Das “canceln” ist ein Prozess, bei dem man einer Schikanenkampagne ausgesetzt ist, die sich auch auf Freund:innen und Unterstützer:innen erstreckt.

Es handelt sich um eine missbräuchliche Praxis, die darauf abzielt jemanden zu isolieren und ihn seiner materiellen Ressourcen zu berauben, bis sie:er sich dem Willen des Mobs beugt.

Ununterbrochene Schikanen zu ertragen und gleichzeitig seine Freund:innen, seine Gemeinschaft und möglicherweise auch seinen Arbeitsplatz zu verlieren, gehört zu den schlimmsten Dingen, die ein Mensch durchmachen kann.

Die zwölf Schritte

Ich wende die Zwölf Schritte gegen Alkoholismus an und habe oft darüber nachgedacht, dass die Zwölf Schritte ein Modell bieten, dass die queeren und “Social-Justice”-Gemeinschaften, denen ich angehöre, wirklich brauchen.

Bei den Zwölf Schritten funktioniert es so, dass man egal was man getan hat in der Gemeinschaft bedingungslos willkommen geheißen und unterstützt wird. Du beginnst damit, indem du die nötigen Ressourcen bekommst um eine Spiritualität zu entwickeln, die für dich funktioniert und eine Gemeinschaft von Freunden aufbaust die für dich da sind. Du musst dir das nicht verdienen.

Dann durchläufst du einen Prozess der Selbsterforschung, um einen ehrlichen Blick auf deine Handlungen zu werfen und darauf wo du dir und anderen Leid zugefügt hast. Wenn dies gut gemacht wird ist es ein Prozess ohne Scham, weil er auf einer Situation der bedingungslosen Liebe und Akzeptanz beruht. Die Menschen können sich selbst ehrlich betrachten, weil sie keine Angst haben, dass sie dadurch alles verlieren.

Danach folgt ein Prozess in dem man mit einer vertrauten Person ehrlich über alles spricht. Das ist kein Beichten oder ein Bekenntnis in den sozialen Medien – um seine Sünden zu bereuen. Es ist eine Erfahrung der Verletzlichkeit und Ehrlichkeit mit jemandem, der diese Informationen in heiligem Vertrauen hält. Wir antworten einander auf eine Weise die das verursachte Leid nicht verharmlost, sondern ihn in einen Kontext stellt und versucht zu verstehen wie es dazu kam. In diesem liebevollen Kontext können Menschen Reue empfinden ohne in Scham zu verfallen.

Und dann nehmen wir all diese Informationen und beginnen ein Brainstorming darüber, wie wir richtig handeln und in unseren Gemeinschaften und gegenüber den Menschen, denen wir geschadet haben, Verantwortung übernehmen können. Dabei geht es nicht um eine öffentliche Selbstbezichtigung, sondern um den Versuch das, was wir genommen haben möglichst zurückzugeben, die Dinge richtig zu stellen, echte Reue zu zeigen und nach unseren Möglichkeiten zu handeln, um es wiedergutzumachen. Es ist ein Prozess der Grenzen hat, voller Selbstachtung ist und echt ist. Es geht auch um die gelebte Wiedergutmachung, indem wir unser Verhalten kontinuierlich ändern und uns für Heilung und Wachstum einsetzen.

Das ist ein Prozess der keine Vergebung erfordert. Wir können uns selbst vergeben und lieben, auch wenn uns nicht vergeben wurde und wir verstehen, dass wir immer noch das Recht auf unser Leben, auf Glück, Liebe und alle menschlichen Dinge haben. Aber oft kommt die Vergebung, weil die Menschen wirklich nur wollen, dass ihr Schmerz wirklich anerkannt wird und dass sie sehen, dass wirklich an der Wiedergutmachung gearbeitet wird.

Ich habe auf diese Weise Wiedergutmachung geleistet und erhalten und das ist in der Regel eine wunderschöne, kraftvolle Erfahrung echter Wiedergutmachung.

Die “Social-Justice”-Szenen sind oft genau das Gegenteil. Den Menschen wird ihre Gemeinschaft und Unterstützung entzogen, «bis sie Accountability übernommen haben». Es ist ein auf Scham und Angst basierender Prozess der den Menschen die Bedingungen, die Gemeinschaft und die Werkzeuge raubt, die sie brauchen um die wirklich tiefe und harte Arbeit zu leisten, die die Übernahme tatsächlicher “Accountablity” erfordert. Man erwartet ein öffentliches Spektakel der Selbstbeschämung das erschreckend und eigentlich unehrlich ist, weil die Motivation eher darin besteht einem weiteren Exil zu entgehen als sich wirklich zu bessern. Das hilft den Menschen nicht sich in Richtung Integrität und Selbstachtung zu bewegen, die die “Accountablity” erfordert.

Scham

Scham und Reue sind nicht dasselbe.

Scham ist die tiefe Überzeugung, dass etwas von Natur aus falsch mit mir ist. Scham entspringt der überwältigenden Angst vor dem Verlust von Verbindung. Es ist die Annahme, dass ich «schlecht» bin und die Hoffnung, dass ich «gut» und damit liebenswert werden kann. Scham führt zu Abwehr und Verleugnung oder zu Anpassung und Unterwerfung. Sie hilft den Menschen nicht, in Einklang mit ihrer Integrität zu kommen.

Reue ist ein gesundes Gefühl des Bedauerns, wenn meine Handlungen nicht mit meiner Integrität übereinstimmen. Reue bedeutet, eine bedauerliche Handlung zu begehen. Es geht nicht darum, meinen grundlegenden Wert als Mensch in Frage zu stellen. Reue kann mir helfen zu Handlungen zurückzukehren, die mit meinen Werten und Prinzipien übereinstimmen.

Scham hält uns in traumabasiertem Denken gefangen. Sie hindert uns am Selbstmitgefühl. Sie kann dazu führen, dass wir die Verantwortung für Dinge übernehmen, für die wir nicht verantwortlich sind oder dass wir die Verantwortung für Dinge leugnen, für die wir verantwortlich sind. Reue in Verbindung mit Mitgefühl bringt uns wieder mit unserer Integrität in Verbindung. Sie hilft uns auf dem Weg der Wiedergutmachung und eines mit unseren Werten übereinstimmenden Handelns.

Viele Überlebende von Traumata leben mit intensiver Scham. Unsere Gemeinschaften verlassen sich oft stark auf Scham als Methode zur Bewältigung von Konflikten oder Leid. Diese Kombination aus schammotivierten Menschen und Gemeinschaften, die sich auf Scham als Taktik verlassen, ist nicht effektiv, wenn es darum geht, Menschen zu helfen, zu heilen, sich zu verändern und mit Integrität zu handeln.

Lange Zeit hat mich die Scham sehr motiviert. Lange Zeit sah das wie Abwehr und Verleugnung aus, aber als ich meinen Weg zur Genesung begann verwandelte es sich in Unterwerfung und Anpassung. Ich war mir so sicher, dass ich insgeheim zutiefst schlecht war, dass ich bereit war alles zu tun, was mir gesagt wurde, um gut zu sein, selbst wenn es widersprüchlich war, keinen Sinn ergab oder nicht mit meiner eigenen Integrität übereinstimmte.

Jetzt, nach viel mehr Heilungsarbeit, bin ich eher durch Integrität als durch Scham motiviert. Das bedeutet, dass ich auf eine Art und Weise handele, die auf meinem Sinn für Ethik und auf der mir innewohnenden Würde und meinem Wert beruht. Es bedeutet, dass ich anderer Meinung sein darf, dass ich nicht genau das tue was mir gesagt wird, dass mein Gefühl für das was richtig ist durch meine eigene innere Arbeit und meine Beziehung zu einer liebevollen und vertrauensvollen Gemeinschaft entsteht, die meine Autonomie und meine Würde respektiert.

Vier mögliche Antworten auf leidvolle Situationen

Verantwortung, Grenzen, Intervention und Bestrafung sind vier mögliche Reaktionen auf Situationen in denen Schaden entsteht. Anstatt diese Reaktionen explizit zu definieren und zu differenzieren, werfen wir sie oft unter dem Begriff “Accountablity” in einen Topf. Ich denke, dass es wichtig ist unsere Sprache und unsere Definitionen zu präzisieren, damit wir nützliche, effektive und situationsspezifische Strategien für den Umgang mit Schaden und die Bewältigung von Konflikten in unseren Gemeinschaften wählen können.

Verantwortung: Die Übernahme von Verantwortung ist ein Prozess, bei dem wir tief in uns gehen, um zu verstehen, welchen Schaden wir jemandem zugefügt haben, konkrete Maßnahmen zur Wiedergutmachung ergreifen und unser Verhalten kontinuierlich ändern. Um Verantwortung zu übernehmen und die erforderliche Arbeit zu leisten brauchen wir Gemeinschaft, Unterstützung und Zeit. Es ist nicht möglich jemanden zur Übernahme von Verantwortung zu zwingen. Verantwortung zu übernehmen ist ein Prozess auf den man sich bereitwillig einlassen muss, sonst wird die Arbeit nicht aufrichtig sein.

Grenzen: Grenzen sind die Grenzen, die wir für die Art von Beziehungen und Handlungen setzen, die wir mit anderen Menschen haben wollen. Wir können zwar niemanden zwingen Verantwortung zu übernehmen, aber wir können Grenzen für die Art von Interaktionen setzen, die wir bereit sind mit dieser Person zu führen. Wenn das Verhalten einer Person für uns schädlich ist können wir entscheiden, dass wir die Beziehung zu dieser Person nicht fortsetzen wollen. Wenn nötig kann die Gemeinschaft helfen die Grenzen zu wahren.

Intervention: Es ist nicht möglich jemanden dazu zu bringen Verantwortung zu übernehmen, aber es ist möglich in Situationen aktueller oder anhaltender Gewalt einzugreifen. Intervention ist ein von der Verantwortung getrennter Prozess. Die Übernahme von Verantwortung muss etwas sein auf das wir uns freiwillig einlassen, aber eine Intervention kann und sollte trotzdem stattfinden. Das Eingreifen kann je nach Situation viele verschiedene Formen annehmen. Es kann vom physischen Eingreifen bei einem aktiven Angriff bis zur Warnung vor einer Person reichen, die weiterhin Gewalt ausübt. Es ist keine Form der Bestrafung.

Bestrafung: Bestrafung ist ein Prozess, bei dem jemandem Schaden zugefügt wird der Schaden verursacht hat oder der beschuldigt wurde Schaden verursacht zu haben. Die Logik der Bestrafung ist, dass wir nicht «ungestraft davonkommen» sollten, wenn wir einen Schaden verursacht haben und dass wir «die Konsequenzen tragen» sollten. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Schädigung der Person, die das Leid verursacht hat, die Dinge irgendwie in Ordnung bringen oder «die Waage ausgleichen» wird. Die Logik der Bestrafung und die emotionale Beteiligung an der Bestrafung ist in den meisten von uns tief verankert, weil sie uns von einer strafenden Gefängniskultur immer wieder beigebracht wurde.

Wenn wir Bestrafung als Strategie ablehnen und stattdessen Verantwortung, Grenzen und Intervention fördern sind wir viel effektiver bei der Transformation von Schaden. Wir schaffen die Voraussetzungen für die Sicherheit, die notwendig ist um die Verantwortung für den Schaden, den wir verursacht haben, zu übernehmen. Wir befähigen uns selbst und einander Grenzen zu setzen und bei Schaden einzugreifen, unabhängig davon ob die Person die Schaden verursacht hat, bereit ist Verantwortung zu übernehmen.

Bestrafung fördert nicht die Verantwortung. Bestrafung erleichtert nicht die Aufrechterhaltung von Grenzen. Bestrafung leistet nicht die Arbeit der Intervention. Bestrafung hält den Schaden aufrecht.

Gedanken zur Übernahme von “Accountablity”, wenn wir wissen, dass wir jemandem Leid zugefügt haben

Es gibt großen und kleinen Schmerz und diese erfordern unterschiedlich viel Arbeit.

Die Grundformel lautet: Wenn es angebracht ist, lass sie wissen, dass du daran arbeiten musst und dass du es tust. Nimm die Hilfe von Menschen in Anspruch, denen du vertraust, z. B. Therapeut:innen, Sponsor:innen, Mentor:innen, enge Freund:innen. Sprich mit deren Hilfe über das was passiert ist. Überlege dir was bei dir los war. Oft gibt es Auslöser: Ängste, mangelndes Wissen, wie man kommuniziert usw. Überlege dir, was bei dir los ist und finde heraus wie du es angehen kannst. Welche Schritte kannst du unternehmen um für dich zu sorgen?

Widerstehe dem Impuls in Scham zu verfallen. Bleibe stattdessen mit deinen inneren Werten verbunden und behandle dich mit Mitgefühl. Versuche nicht in Angst zu verfallen. Alle machen Fehler und du bist dabei daran zu arbeiten.

Wenn du weißt was bei dir los war, nimm dir die Zeit darüber nachzudenken wie sich dein Verhalten auf die andere Person ausgewirkt hat. Versetze dich in ihre Lage und versuche zu verstehen, wie sich das für sie angefühlt hat und wie es auf sie gewirkt hat. Du kannst sowohl das, was für dich los war, als auch die Auswirkungen deines Handelns auf die andere Person mit Mitgefühl betrachten.

Wiedergutmachung ist normalerweise eine Kombination: Zeigen, dass die innere Arbeit geleistet wird; Ausdrücken von aufrichtigen Bedauern; Verständnis über die verursachten Schmerzen zeigen; der Nachfrage, ob bei dem Verständnis etwas übersehen wurde; erklären welche Wiedergutmachungsmaßnahmen ergriffen werden und – ganz wichtig – der Erklärung des zukünftigen geänderten Verhaltens. Danach solltest du dich für die Bereitschaft der Person bedanken dieses Gespräch zu führen.

Das ist sehr wirkungsvoll, denn die Person fühlt sich gehört und du zeigst, dass du etwas verändern willst.

Strategien für das Intervenieren in gewalttätigen Situationen

Unter Intervention versteht man das Einschreiten in Gewaltsituationen. Das Ziel der Intervention ist es die Eskalation oder Fortsetzung der Gewalt zu verhindern. Das Ziel der Intervention ist es der betroffenen Person zu ermöglichen die Situation sicher zu verlassen, wenn sie das möchte. Das Ziel der Intervention besteht nicht darin zu bestrafen, zu performen oder zu eskalieren.

Ich habe gelernt, wie man in gewalttätigen Situationen eingreift, als betrunkener, junger, obdachloser Mensch. Ich hatte keinerlei Training (und habe es immer noch nicht) und habe auf dem Weg dorthin definitiv Fehler gemacht. Dennoch habe ich im Laufe der Jahre viele Male in Gewaltsituationen eingegriffen und sie beendet.

Wenn ich sehe, wie sich eine gewalttätige Situation entwickelt, schreite ich ein. Das ist ein Ausdruck des Verantwortungsgefühls, das ich gegenüber den Menschen um mich herum empfinde. Ich schaue nicht einfach weg, wenn ich Zeug:in einer Belästigung oder eines Angriffs werde.

Diese Arbeit kann beängstigend sein und ich glaube viele Menschen fühlen sich dazu nicht in der Lage. Das liegt zum Teil daran, dass wir durch eine Kultur entmächtigt wurden, die uns keine Interventions- und Deeskalationsfähigkeiten beibringt. Wir werden ermutigt es zu ignorieren oder die Polizei zu rufen, die die Gewalt noch verstärken kann.

Ich habe gelernt, dass Intervention tatsächlich eine praktische Fähigkeit ist, die wir in unseren Gemeinschaften kultivieren können um die Sicherheit der Gemeinschaft zu erhöhen. Die Art und Weise wie wir intervenieren, hängt von unseren eigenen Fähigkeiten, Kapazitäten und Schwachstellen ab. Es gibt keine Schablone für alle Situationen. Ich glaube auch, dass es viel mehr Personen möglich ist, als viele Leute glauben.

Diese Strategien beruhen auf meinen Erfahrungen, die ich bei der Intervention und Deeskalation vieler gewalttätiger Situationen gemacht habe. Die Situationen, in denen ich eingegriffen habe, waren zwischen Menschen die ich nicht kannte und die ich in der Öffentlichkeit sah. Oft handelte es sich um Gewalt in der Partnerschaft und Belästigung durch Fremde.

Folgendes sind die Strategien die für mich funktioniert haben. Allerdings hat jede:r Mensch andere Fähigkeiten, Kapazitäten und Verletzlichkeiten und jede Situation ist anders. Ein Eingreifen erfordert viel spontanes Denken und die Anpassung an eine sich entwickelnde Situation.

Es ist nicht möglich alles auf dieser Liste gleichzeitig zu tun und ich habe mich in der Regel dafür entschieden – je nach Situation – entweder direkter mit der bedrohenden Person oder mit der Person zu kommunizieren, die das Ziel ist. Oft ist es eine Mischung aus beidem, mit einem Schwerpunkt auf einer Person. Meistens habe ich diese Erfahrungen allein gemacht, aber wenn du Leute dabei hast kannst du dich anpassen, indem du verschiedene Rollen übernimmst.

Ich bin bei dieser Arbeit noch nie angegriffen worden, aber ich habe Angst gehabt. Ich war gezwungen mit der Polizei zu sprechen, weil sie gerufen wurde.

Ich möchte dies nicht als eine Liste mit festen Regeln anbieten, sondern als einige Ideen die dich zum Nachdenken anregen sollen. Wenn du daran interessiert bist diese Arbeit zu erlernen, schlage ich vor, dass du dich an Menschen in deinem Leben wendest, die Erfahrung haben und fragst, ob sie bereit sind darüber zu sprechen. Menschen, die an vorderster Front arbeiten und ganz normale Menschen, die schon viele Gewaltsituationen erlebt haben, verfügen über eine Menge Wissen und Fähigkeiten.

Ich möchte damit beginnen dieses Wissen weiterzugeben, damit wir uns selbst und gegenseitig befähigen können sicherere Gemeinschaften aufzubauen. Die Bullen sorgen nicht für unsere Sicherheit. Wir tun es.

Die Tipps:

Bewahre so viel Ruhe wie möglich. Sei selbstbewusst und direkt. Vermeide es zu schreien, zu beleidigen oder zu beschuldigen.

Diskutiere nicht und stürze dich nicht in belehrende Reden. Das Ziel ist im Moment nur zu deeskalieren.

Wenn möglich benutze deinen Körper, um zwischen die beiden zu kommen, ohne der bedrohenden Person zu nahe zu kommen.

Wenn die bedrohliche Person auf dich zustürmt, vergrößere den Abstand zwischen euch.

Rufe nicht die Polizei.

Frage die betroffene Person Dinge wie «Geht es dir gut?» «Brauchst du Hilfe?» «Willst du einen Spaziergang mit mir machen?»

Sage der bedrohenden Person Dinge wie «Das wird jetzt nicht passieren.» «Diese Person geht jetzt.» «Du musst dich abregen. Mach einen Spaziergang.»

Im Falle von Gewalt in der Partner:innenschaft möchte die bedrohte Person vielleicht bei der bedrohenden Person bleiben. Das ist ihre Entscheidung. Dein Ziel ist es die Gewalt zu beenden und der Person die Möglichkeit zu geben, zu gehen wenn sie das möchte.

Es ist möglich, dass andere Umstehende die Polizei rufen. Sei darauf vorbereitet, dass die Polizei eingeschaltet werden könnte.

(Hinweis: Diese Tipps beruhen auf meinen eigenen Erfahrungen.)

Es gibt Meinungsverschiedenheiten in der Linken

Diejenigen von uns, die sich für die Beendigung von Herrschafts- und Ausbeutungssystemen einsetzen, sind sich nicht immer einig darüber, wie diese Systeme funktionieren oder wie man sich ihnen am besten widersetzen sollte.

Die “Social-Justice”-Kultur kann unglaublich dogmatisch sein und so tun, als ob die Antworten auf diese Fragen feststünden, obwohl das nicht der Fall ist.

Strategische Vielfalt, Dissens, Meinungsverschiedenheiten und ganze Strömungen linken Denkens werden zugunsten vereinfachender Binaritäten ausgelöscht.

Das Streben nach Gerechtigkeit und Befreiung für alle ist eine komplexe, nuancierte politische Arbeit und niemand kann behaupten alle Antworten zu kennen.

Wir erweisen unseren Bewegungen keinen guten Dienst, wenn wir eine dogmatische, starre Ideologie fördern und Linke mit anderen Ideen zum Schweigen bringen.

Es gibt nicht den einen richtigen Weg für die Befreiung zu kämpfen. Es gibt einen großen Fundus an linken Ideen, sowohl historisch als auch aktuell. Diese Ideen werden durch den Dialog mit anderen bereichert.

Niemand kann für sich in Anspruch nehmen alle Antworten zu haben. Niemand kann die absolute Autorität beanspruchen. Niemand sollte die Generation und die Ideen im Dienste der Befreiung zum Schweigen bringen.

Dem Mob kann nicht entkommen werden

Die Verteidiger:innen der “Cancel”-Kultur erklären, dass es die “Cancel”-Kultur nicht wirklich gibt. Das, was wir als “Cancel”-Kultur bezeichnen, sei nur “Accountability”. Es ginge nur um Menschen, die die rechtmäßigen Konsequenzen ihres Handelns erfahren. Diese Leute werden oft darauf hinweisen, dass niemand jemals wirklich «gecancelt» wird, weil die “Gecancelten” immer noch da sind und oft weiter in ihrem Bereich arbeiten.

Das wirft die Frage auf, was diese Leute sich unter einer erfolgreichen “canceln” vorstellen. Indem sie das “canceln” als «rechtmäßige Konsequenz falschen Handelns» bezeichnen, scheinen sie zu sagen, dass Menschen, die in einer Art und Weise gehandelt haben, die sie für falsch oder schädlich halten, nicht mehr «da sein» sollten und definitiv nicht mehr in ihrem Bereich arbeiten sollten.

Bizarrerweise bezeichnen sich die Befürworter:innen dieser extremen Bestrafungstaktiken (die vorschlagen, dass Menschen, die ihrer Meinung nach Leid angerichtet haben, nicht mehr «da sein» sollten) manchmal auch als Abolitionist:innen. Das ist ein Widerspruch, den ich nicht begreifen kann.

Aber da die Realität der “Cancel”-Kultur so extrem geleugnet wird, möchte ich mir eine Sekunde Zeit nehmen, um zu definieren was “Cancel”-Kultur ist.

Die “Cancel”-Kultur umfasst die folgenden Taktiken:

– Schikanierung der Beschuldigten durch den Mob: Tweets, Instagram-Stories und verschiedene andere Online-Posts werden verbreitet, in denen nicht nur die Beschuldigten angeprangert werden, sondern auch gefordert wird, dass: Andere Personen die Anschuldigungen verbreiten. Andere Personen den Beschuldigten die Unterstützung entziehen (indem sie ihnen nicht mehr folgen und sich nicht mehr mit ihrer Arbeit befassen). Andere (wildfremde) Personen im Internet Nachrichten, Kommentare, Tweets an die Beschuldigten senden und «Accountability fordern».

– Schikanierung von Personen, die mit den Beschuldigten in Verbindung stehen, durch den Mob: Diese Schikanierung wird auf alle Personen ausgedehnt, die die Beschuldigten weiterhin unterstützen, indem sie entweder aktiv für sie eintreten, ihnen passiv folgen oder ihre Arbeit schätzen oder sich einfach nicht aktiv an dem öffentlichen Spektakel der Anprangerung und “Cancelung” beteiligen.

– Vage und wechselnde Anschuldigungen: Die Anschuldigungen sind oft von vornherein unklar und unbestätigt und durchlaufen Wandlungen durch «stille Post», bei denen die Anschuldigungen immer komplexer und detaillierter werden, je weiter sie weitergegeben werden. Da die Person “gecancelt” ist, kann man so ziemlich alles über sie sagen und diese Behauptungen werden durch die Kraft der kumulativen Mobbing-Belästigung bestätigt.

– Essentialismus: Irgendwann werden die konkreten Anschuldigungen weniger wichtig als die Beschreibung des Wesens der Beschuldigten (als schlecht, missbräuchlich, schädlich usw.). Es ist nicht mehr eine bestimmte Handlung oder Überzeugung der Beschuldigten die verwerflich ist, sondern die Beschuldigten selbst.

– Aufhebung aller Unterscheidungen: Mit dem Essentialismus geht die Aufhebung der Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von leid bringenden oder geächtetem Verhalten einher. Nach der “Cancel”-Kultur verdienen ein Serienvergewaltiger, ein organisierter weißer Rassist und ein Linker der einen Tweet gepostet hat, mit dem man nicht einverstanden ist, alle die gleiche Behandlung.

– Alles was du sagst oder tust, kann und wird gegen dich verwendet werden: keine Verteidigung oder Widerspruch ist erlaubt. Wenn Beschuldigte sich in irgendeiner Weise verteidigen, kommt Vorwurf der «Weigerung, “Accountablity” einzugestehen» und dies wird oft zu einem Hauptvorwurf an und für sich. Jeder Versuch eines Dialogs von Seiten der Beschuldigten geht nach hinten los, vervielfacht die Anschuldigungen und stärkt den gegen sie vorliegenden Fall.

– Hör auf der Verhaftung Widerstand zu leisten: Die einzig akzeptable Reaktion der Beschuldigten ist die vollständige Akzeptanz der Anschuldigungen als wahr und die Bereitschaft alles zu tun, was der Mob als «Accountability» verlangt.

– Wenn man die Beschuldigten verteidigt, ist man genauso schlecht wie die Beschuldigten: Alle, die die Stichhaltigkeit der Anschuldigungen in Frage stellen oder mit der Darstellung der Ankläger:innen nicht einverstanden sind, werden als Kompliz:innen behandelt.

– Identität bedeutet alles, bis sie nichts mehr bedeutet: Identitätskategorien werden verwendet, um die Gültigkeit der Behauptungen der Ankläger:innen zu untermauern (d. h. die anklagende Person ist ein Mitglied der marginalisierten Identitätsgruppe X, so dass die Darstellung der Situation nicht in Frage gestellt werden kann/ darf), aber wenn andere Menschen dieser Identität der Anklage widersprechen wird die Gültigkeit der Identität des Widersprechenden in Frage gestellt und nicht die Gültigkeit der Behauptung der Anklage (d.h.: Jemand, der ebenfalls der marginalisierten Identität X angehört, widerspricht dem “Framing” und wird daraufhin darauf hingewiesen, dass sie:er aus verschiedenen kreativen Gründen nicht die Autorität der eigenen Identität beanspruchen kann). Die Realität ist, dass keine Identitätsgruppe ein Monolith ist, so dass Argumente, die auf einer Identitätsposition basieren, die Opposition innerhalb der Gruppe ausschalten müssen, um die Gültigkeit der identitätsbasierten Behauptung aufrechtzuerhalten.

– Alles wegnehmen: Es wird versucht, den Beschuldigten alle Quellen der Unterstützung und Sicherheit zu nehmen. Zu den “Cancel”-Kampagnen gehören oft Versuche die Beschuldigten aus deren Job feuern zu lassen, Versuche die kreative Arbeit der Beschuldigten aus Veröffentlichungen zu entfernen, Versuche die Verbindung mit den Beschuldigten in irgendeiner Form zu einem extrem hohen persönlichen Preis zu machen, usw. Letztendlich besteht das Ziel darin, den Beschuldigten den Arbeitsplatz, Chancen, Errungenschaften, Gemeinschaft und Beziehungen zu nehmen, während sie gleichzeitig einer unaufhörlichen Kampagne der Schikanen ausgesetzt sind.

– “Calling in” (der sanfte Ansatz): Manchmal wird ein Teil der Belästigung, die die Beschuldigten erfahren, als “Calling in” bezeichnet und während alle oben beschriebenen Misshandlungen gleich bleiben, werden die Beschuldigten anstelle des traditionellen feindseligen Ansatzes durch Angebote zur «radikalen Koregulierung» von Fremden im Internet erniedrigt. Dieser Ansatz ist besonders beunruhigend, weil er eine Kampagne der ungerechtfertigten Belästigung in die Sprache der Fürsorge und Sanftheit kleidet.

– “Gaslighting”: Während der Begriff “Gaslighting” in aktivistischen Gemeinschaften wie verrückt umher geworfen wird (Meinungsverschiedenheiten werden zum Beispiel oft als “Gaslighting” bezeichnet), ist das Beharren darauf, dass «Cancel-Kultur nicht real ist» oder dass «Cancel-Kultur nur Menschen trifft, die bekommen, was sie verdienen», obwohl “Cancel”-Kultur in Wirklichkeit Missbrauch ist, ein perfektes Beispiel für “Gaslighting”.

Schockierend, ich weiß, aber als Abolitionist:in glaube ich grundsätzlich und kategorisch nicht an Bestrafung (selbst wenn man so tut als sei es keine Bestrafung, indem man es «Konsequenzen» nennt). Deshalb glaube ich, dass auch Menschen, die wirklich Leid angerichtet haben, Sicherheit, Gemeinschaft, Arbeit und ja, sogar Erfolg verdienen. Ich glaube, dass sie dieselben Dinge verdienen, die alle verdienen, weil ich nicht an Strafe glaube (Strafe bedeutet, dass man als Konsequenz für ein schädliches oder einfach nicht erlaubtes Verhalten einige oder alle Dinge wegnimmt, die jede:r verdient).

Das bedeutet nicht, dass wir in Situationen von Gewalt nicht eingreifen sollten. Das können und sollten wir auf jeden Fall und wir können und sollten dies auch tun, ohne auf Strafen zurückzugreifen. Die “Cancel”-Kultur ist kein wirksames Mittel um bei Leid einzugreifen. Ich habe viel darüber geschrieben wie man in Gewaltsituationen eingreifen kann (und ich habe diese Arbeit tatsächlich in der realen Welt getan), aber ich werde das hier nicht ansprechen, weil die “Cancel”-Kultur nicht einmal so tun kann, als würde sie diese Arbeit tun.

Ich bin Überlebende von Gewalt in der Partnerschaft, von sexuellem Kindesmissbrauch, Stalking, mehrfachen Vergewaltigungen und sowohl sexuellen, als auch körperlichen Übergriffen durch Mitglieder der Community und Fremde. Ich nehme Gewalt sehr ernst. Die Sicherheit der Überlebenden ist mir sehr wichtig. Das Einschreiten bei Gewalt und die Unterstützung von Überlebenden bei ihrer Heilung gehören zu meinen wichtigsten Lebensaufgaben. Glaubt mir also, wenn ich sage, dass die “Cancel”-Kultur nicht das Richtige ist.

Aber da ich mich der Logik der “Cancel”-Kultur widersetze, die alle Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Personen, die wir “canceln”, aufhebt, muss ich darauf hinweisen, dass die Mehrheit der Personen, die von einer “Cancelung” betroffen sind, nicht übergriffig waren, Vergewaltiger:innen oder Menschen sind, die irgendeine Art von Gewalt ausgeübt haben. Während wir die Sprache der “Accountablity” und Sicherheit verwenden, um diese Kampagnen der Belästigung zu rechtfertigen, richten sie sich oft gegen Menschen, die eine Meinung geäußert haben mit der wir nicht einverstanden sind, die performativen Online-Aktivismus nicht auf die genau «richtige» Art und Weise betrieben haben oder die sich einfach geweigert haben am “canceln” einer anderen Person teilzunehmen.

Wir haben in der Linken eine Kultur geschaffen, in der es im wahrsten Sinne des Wortes gefährlich ist Widerspruch oder eine abweichende Meinung zu äußern. Dies ist keine Kultur, die der Gerechtigkeit förderlich ist. Es ist eine Kultur des Autoritarismus, des Dogmas und von Menschen, die tun was ihnen gesagt wird – anstatt selbst zu denken. Die Machthaber:innen könnten sich keine bessere Situation wünschen, um die Kraft derjenigen von uns zu untergraben, die die Welt wirklich verändern wollen.

Bewegungen der Veränderung brauchen die Freiheit zu widersprechen, nicht zuzustimmen, teilweise zuzustimmen und teilweise nicht zuzustimmen, um verschiedene Blickwinkel anzubieten, um zu verstehen, wie wir hierher gekommen sind und wie wir wieder herauskommen werden. Das starre Dogma der gegenwärtigen Linken mit der “Cancel”-Kultur als deren Vollstreckerin stellt sicher, dass wir nicht in der Lage sein werden die Veränderung zu schaffen, die wir uns wünschen. Wir können nicht durch Hierarchie und Autoritarismus zur Freiheit gelangen. Wir können keine Gerechtigkeit schaffen, wenn wir unsere Freund:innen wie Kriminelle behandeln und uns wie Polizist:innen verhalten.

Was tun wir also, wenn jemand eine «schlechte Sichtweise» hat (d. h. eine Sichtweise, mit der wir nicht einverstanden sind) oder wenn jemand den eigenen Aktivismus nicht auf die richtige Weise betreibt? Wir lassen die Person verdammt noch mal in Ruhe. Wenn es sich um eine nahe Person handelt (etwa Freund:innen oder Mitglieder der Community) führen wir vielleicht ein Gespräch mit ihr, um zu verstehen, welchen Hintergrund sie hat und teilen ihr mit welchen Hintergrund wir haben. Oder wir beschließen uns umso mehr dafür einzusetzen unsere Überzeugungen zu äußern und die Arbeit zu tun, die wir für wichtig halten. Wir müssen Menschen, mit denen wir nicht einverstanden sind, nicht zensieren und bestrafen. Und eigentlich sollten wir das auch nicht.

“Cancel”-Kultur ist schlecht für die Linke. Sie macht die Linke extrem unattraktiv für «normale» Menschen, die nicht belästigt oder aus ihrem Job gefeuert werden wollen weil sie anderer Meinung sind. Und es bedeutet, dass unglaubliche Denker:innen, die die Theoretiker:innen unserer Generation sein könnten, die neue Rahmenwerke und Strategien entwickeln, um uns aus diesem dystopischen Alptraum herauszuholen, sich stattdessen darin üben das aktuelle Dogma nicht in Frage zu stellen, damit ihnen nicht alles genommen wird was ihnen wichtig ist.

Und wenn das für dich keine Rolle spielt, dann sollte es für dich zumindest eine Rolle spielen, dass so viele von uns in der Angst leben, dass sich der Mob jeden Moment gegen uns wenden könnte. Es sollte dir wichtig sein, dass Menschen wegen dieser Scheiße in den Selbstmord getrieben werden. Es sollte dir nicht egal sein, dass Arbeiter:innen jetzt noch weniger Arbeitsplatzsicherheit haben, weil sie ihren Job wegen eines beliebigen Tweets verlieren können, den sie vor fünf Jahren abgesetzt haben. Wenn du denkst, dass dies Gerechtigkeit ist, wenn du denkst, dass dies rechtschaffen ist, wenn du irgendwie die Intuition unterdrückt hast, dass dies alles sehr beunruhigend und falsch ist, dann warte nur bis es sich gegen dich wendet.

Wie Amber A’Lee Frost sagte: «Es gibt Leute, die – ich weiß nicht ob sie naiv oder einfach nur ehrgeizig sind – immer denken: ‘Ich werde die Person sein, gegen die sich der Mob nicht aus irgendeinem dummen Grund wendet. Ich werde keinen Fehler machen. Diese Person wurde nur bestraft, weil sie etwas getan hat, weswegen sie es verdient hat. Ich, ja ich bin gut. Ich werde alle Regeln befolgen.’ Es ist so: Schatz, es gibt kein Entrinnen vor dem Mob.»

Du hast nicht unbedingt etwas falsch gemacht, wenn Menschen auf dich wütend sind

Menschen zu gefallen, auch bekannt als die «Fawn-Response»2, ist ein kodependentes Verhalten, bei dem wir die Verantwortung für die Gefühle anderer Menschen übernehmen.

Jede:r von uns braucht letztlich den eigenen ethischen Rahmen. Wir müssen unsere eigene Integrität haben und in der Lage sein zu erkennen, wann wir in Übereinstimmung mit ihr handeln und wann nicht.

Die Verantwortung für die Gefühle anderer Menschen zu übernehmen und zu versuchen, das Verhalten anderer Menschen zu steuern, indem wir tun was sie wollen, auch wenn es nicht mit unseren Grenzen und unserer Integrität übereinstimmt, ist ihnen und uns selbst gegenüber respektlos.

Gesund werden bedeutet sich damit abzufinden nicht gemocht zu werden.

Jahrelang dachte ich, dass Genesung ein Ende der Konflikte bedeuten würde, ein Ende der Leute die auf mich sauer sind. Ich wusste nicht, dass Genesung normalerweise das Gegenteil bedeutet. Wenn wir gesund und in uns selbst verwurzelt sind, wenn wir wissen wer wir sind, was wir glauben und wo unsere Grenzen liegen, werden viele Menschen wütend sein.

Wenn wir aufhören anderen zu gefallen, bedeutet das mehr Konflikte – nicht weniger. Es kann stressig und überwältigend sein, besonders wenn wir ein Trauma haben. Aber eigentlich ist es ein großes Zeichen von Wachstum. Es bedeutet, dass wir wissen was zu uns gehört und was nicht. Es bedeutet, dass wir selbstbewusst in der Realität und in unserer Integrität leben, auch wenn die Leute sauer sind.

“Cancel”-Kultur ist missbräuchlich

“Cancel”-Kultur erinnert mich so sehr an die Erfahrungen, die ich in einer missbräuchlichen Beziehung gemacht habe. Es gibt eine Reihe von (sich ständig ändernden, manchmal willkürlichen) Regeln, die ich befolgen muss. Wenn mir gesagt wird, dass ich etwas falsch mache oder gegen eine Regel verstoßen habe, muss ich mich entschuldigen und tun was mir gesagt wird, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Ich habe das Gefühl, dass ich auf Eierschalen herumlaufen muss, immer in der Sorge, dass es zu einer weiteren Explosion kommt. Wenn ich unweigerlich angegriffen werde, glaube ich, dass es meine Schuld sein muss und wenn ich nur gut sein könnte dies nicht passieren würde.

Ich bin seit vielen Jahren tief in der “woken”, queeren “Social-Justice”-Welt verwurzelt. Ich bin eine öffentliche Person, die ihren Lebensunterhalt durch ihre kreative Arbeit verdient. Ich habe überlebt und lebe mit einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung. Ich setzte mich für Gerechtigkeit ein und will eine bessere Welt für uns alle. Lange Zeit habe ich Dinge hingenommen, die mir nicht passten. Ich habe zugesehen, wie Menschen angegriffen und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden und ich habe versucht mir das rational zu erklären. Es wurde immer als gerecht und fair dargestellt. Ich versuchte mir einzureden, dass es so ist. Ich versuchte mir einzureden, dass die Menschen nur das bekamen, was sie verdienten, dass dies nur die Konsequenzen ihres Handelns waren. Insgeheim machte ich mir Sorgen, was passieren würde, wenn sich der Mob gegen mich wandte.

Ich erinnere mich, dass ich, als ich zum ersten Mal trocken wurde, nachdem ich jahrelang als Alkoholiker:in auf der Straße gelebt hatte, schreckliche Angst hatte. Wie könnte ich mich jemals selbst reinwaschen? Ich hatte jahrelang gegen meine Prinzipien verstoßen, ich war Bösewicht, Giftige:r, Missbrauchende:r. Wie konnte ich mir jemals ein Leben aufbauen, wenn ich wusste, dass mir das alles jederzeit genommen werden konnte, wenn jemand beschloss in meiner Vergangenheit zu wühlen? Ich habe ernsthaft über Selbstmord nachgedacht. Aber schließlich beschloss ich, dass ich durch die Handlungen – die ich im Jetzt tue – definiert werde und durch die Zwölf Schritte fand ich zu meiner Integrität zurück und lernte im Einklang mit meinen Prinzipien zu leben.

Und heute lebe ich im Einklang mit meinen Prinzipien. Meine Handlungen sind in meinen tief verwurzelten politischen, ethischen und spirituellen Überzeugungen verwurzelt. Ich handle nicht auf schädliche Art und Weise und wenn ich gegen meine Integrität verstoße, weiß ich wie ich die Verantwortung übernehme und die Dinge richtig stelle. Ich sollte also keine Angst mehr haben, oder? Ich sollte mir keine Sorgen machen, dass mir brutal gekündigt wird, weil ich weiß, dass ich aus einer ethischen, prinzipientreuen Haltung heraus handle.

Aber die “Cancel”-Kultur funktioniert nicht auf diese Weise. Nach der Logik der “Cancel”-Kultur hast du, wenn dich jemand «out-called», nur eine Möglichkeit: Du musst «Verantwortlichlichkeit übernehmen», was bedeutet, dass du den Rahmen akzeptierst den die Person, die dich out-called, vorgibt und dass du die Konsequenzen akzeptierst, die du laut dieser Person verdienst. Wenn du das nicht tust und selbst wenn du es tust, wirst du mit Schikanen des Mobs konfrontiert, um diese Konsequenzen durchzusetzen. Es gibt keine Möglichkeit zu antworten, indem man sagt: Ich habe gehört was du sagst, ich habe gründlich darüber nachgedacht, ich habe es mit meinen vertrauenswürdigen Berater:innen (Therapeut:in, Sponsor:in, enge Freund:innen, usw.) besprochen und ich bin nicht einverstanden mit deiner Darstellung und ich glaube nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe. Ich fühle mich sicher, dass meine Handlungen im Einklang mit meiner Integrität stehen.

Wirkliche Verantwortung zu übernehmen, wenn wir Leid verursacht haben, setzt voraus, dass wir nicht die Verantwortung für etwas übernehmen das wir nicht getan haben. Einem Call-out zuzustimmen um den Übergriffen zu entgehen (nicht weil wir denken, dass wir etwas falsch gemacht haben, sondern weil wir Angst haben) ist genau die gleiche Mentalität wie ein Opfer in einer missbräuchlichen Beziehung, das dem:der Täter:in zustimmt, um zu vermeiden, «in Schwierigkeiten zu geraten». Das ist eine wahnsinnig missbräuchliche Mentalität, die ich immer wieder in unseren Gemeinschaften beobachten kann und das macht mir Angst.

Ich habe in meiner Genesung und in meinem geistigen und emotionalen Wachstum einen Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr so tun kann, als ob diese Dynamik akzeptabel wäre. Ich kann nicht länger so tun, als würde ich nicht in Angst vor meiner Gemeinschaft leben. Ich kann nicht länger zusehen, wie der Mob jemand anderen niedermacht. Ehrlich gesagt ist es mir egal was der:diejenige getan hat. Ich glaube nicht an vage Gerüchte, die viel andeuten, aber wenig aussagen, ich glaube nicht, dass Meinungsverschiedenheiten strafbar sind und selbst in Fällen, in denen jemandem Schaden zugefügt wurde, glaube ich nicht, dass der Versuch jemanden zur «Accountablity» zu zwingen jemals akzeptabel oder auch nur effektiv ist.

Auch die verschiedenen Identitäten der beteiligten Personen sind mir egal. Wir zählen die marginalisierten Identitäten der Ankläger:innen und die Machtpositionen der Angeklagten auf, als ob dies die Schikanen durch den Mob rechtfertigen würde. Das tut es aber nicht. Der Mob selbst schafft eine enorme Menge an Macht, die wir bei unserer Bewertung der Machtdynamik der Situation nicht berücksichtigen. Und das Leben der Menschen und ihre Situationen sind komplexer als eine Liste von Identitäten. Ich glaube, wir können und sollten uns auf einen universellen Standard für das Verhalten gegenüber anderen einigen.

Wir können voneinander erwarten, dass wir mit grundlegendem menschlichem Anstand handeln. Wir können bei Missbrauch eingreifen, ohne selbst missbräuchlich zu sein. Die Identität einer Person macht missbräuchliches Verhalten niemals okay und wenn wir die Macht des Mobs einsetzen, um eine Person zu schikanieren und sie gefügig zu machen, wenn wir ihr soziales Leben zerstören, versuchen sie feuern zu lassen, sie dem Ansturm der Belästigung nicht entkommen lassen, wenn wir alle ihre Freund:innen anschreiben und verlangen, dass alle sie «zur Accountablity» verpflichtet, dann sind wir übergriffig. Es ist buchstäblich so einfach.

Ich lehne das gesamte System ab. Und ich erkenne, dass es mein Trauma, meine posttraumatische Belastungsstörung und meine Erfahrungen mit Kindesmissbrauch und häuslicher Gewalt waren, die mich dazu brachten dieses Verhalten in meinen Gemeinschaften stillschweigend hinzunehmen. Ich hatte Angst.

Ich habe immer noch Angst. Aber mein Mut ist stärker als meine Angst.

Wir dürfen Leuten widersprechen, die ihren Anspruch auf Wahrheit und Autorität auf ihre Identität Gründen

Keine Identitätsgruppe hat eine einheitliche Perspektive oder Ideologie. Auch die Linken innerhalb einer bestimmten Identitätsgruppe haben viele ideologische und strategische Meinungsverschiedenheiten.

Niemand kann für sich in Anspruch nehmen im Namen der großen Zahl von Menschen zu sprechen, die einer bestimmten Identitätsgruppe angehören. Der Anspruch für und im Namen einer ganzen Identitätsgruppe zu sprechen verwischt die Meinungsvielfalt innerhalb dieser Gruppe.

In der “Social-Justice”-Kultur wird die Identität auf autoritäre Weise mobilisiert, um Meinungsverschiedenheiten zum Schweigen zu bringen, Diskussionen zu beenden und Strafen zu rechtfertigen.

Es ist unredlich so zu tun, als würde man mit jemanden übereinstimmen, weil diese Person ihren Wahrheitsanspruch auf die eigene Identität gründet. Es ist auch eine Beleidigung für die vielen Menschen innerhalb dieser Identitätsgruppe, die ebenfalls nicht dieselben Ansichten teilen.

Linke Bewegungen brauchen Raum für ideologische Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen. Die Instrumentalisierung der Identität als Waffe, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, ist kontraproduktiv für das Ziel Herrschaft und Ausbeutung zu beenden.

Ich habe meinem Ex als missbräuchlich bezeichnet, obwohl er es nicht war: Über vergangene Traumata, gegenwärtiges Handeln und die Notwendigkeit der Unterscheidung

Das Überleben sexueller Gewalt war die prägendste Erfahrung in meinem Leben. Ich wuchs in einem emotional missbrauchenden und vernachlässigenden Elternhaus auf, in dem ich von meinem Großvater sexuell missbraucht und von meinen Eltern nicht geschützt wurde. Ich entwickelte eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, die den Verlauf meines Lebens völlig veränderte. Mein Leben liest sich wie das vieler Inzest-Überlebender: Ich habe die Schule abgebrochen und bin früh ausgezogen; ich habe mich selbst verletzt und mehrmals versucht mich umzubringen; ich wurde Alkoholiker:in; ich hatte viel Sex mit Fremden, bei dem ich viel zu betrunken war, um wirklich zuzustimmen und ich landete in einer missbräuchlichen Beziehung. In meiner missbräuchlichen Beziehung wurde ich vergewaltigt, körperlich misshandelt und fürchtete um mein Leben. Diese Beziehung endete vor Gericht und ich wurde acht Jahre lang immer wieder von ihm belästigt. Ich erzähle dies, weil ich möchte, dass du verstehst, dass ich sexuelle Gewalt und zwischenmenschlichen Missbrauch sehr ernst nehme. Ich weiß was das anrichtet. Ich weiß wie unaussprechlich diese Art von Übergriffen ist. Und nachdem ich trocken und gesund geworden bin, habe ich mein Leben der Hilfe andere Überlebende gewidmet. Meine Solidarität mit Überlebenden ist ein Band, das tiefer ist als alles andere. Ich liebe die Überlebenden von ganzem Herzen. Das ist einer der Gründe, warum ich so viel über Trauma geschrieben habe und warum ich ständig an meiner eigenen Entwicklung und Heilung arbeite. Diese Reise teile ich mit euch allen.

Als ich zwei Jahre trocken und in Therapie war, ging ich eine neue Beziehung ein. Sie dauerte drei Jahre. Die Beziehung begann mit einem Wunder, als ich mich in meine:n beste:n Freund:in (Übs.: ab jetzt X) verliebte und endete verheerend, da ich eine Beziehung verließ, die mich über Jahre hinweg unglaublich unglücklich gemacht hatte. Ich war ein Wrack, als ich diese Beziehung beendete und ich war in den Jahren, in denen ich in ihr war, merklich unglücklich. Man sagt mir, dass man die Traurigkeit in meinen Augen sehen kann, wenn man sich Bilder von mir aus dieser Zeit ansieht. Warum blieb ich in einer Beziehung, in der ich so unglücklich war? Weil ich an komplexer posttraumatischer Belastungsstörung leide, weil ich so viel Schlimmeres erlebt habe und weil ich nicht glaubte, dass es möglich sei, etwas Besseres zu finden. Weil meine Bindungsverletzungen danach schrien, dass ich bleiben und die Beziehung weiterführen sollte und weil ich das Gefühl hatte, dass ich sterben würde, wenn ich X verlieren würde. Aber im Gegensatz zu meinem vorherigen Partner machte es X nicht körperlich gefährlich für mich, X zu verlassen. X hat mich nicht bedroht oder mir körperlich wehgetan. X hat mich auch nicht sexuell missbraucht, mich angeschrien, mich erniedrigt oder beschimpft. X hat mich emotional vernachlässigt und war kein:e emotional verfügbare:r Partner:in. X war manchmal unehrlich und hat meine Bedenken oft abgetan. X tat nicht den eigenen Teil der Arbeit, die für eine funktionierende Beziehung nötig ist. Aber ich war in dieser Beziehung erwachsen und im Gegensatz zu meiner Erfahrung der Vernachlässigung in der Kindheit, in der ich gezwungen war sie zu ertragen, hätte ich mich entscheiden können sie zu verlassen und Beziehungen mit Menschen zu führen, die mir auf halbem Weg entgegenkamen. Der Grund dafür, dass ich das nicht getan habe liegt in meinem Trauma und meiner Unfähigkeit, meine Handlungsfähigkeit als Erwachsene zu erkennen, die die Freiheit hatte die Beziehung zu verlassen.

Als ich diese Beziehung verließ, begann ich eine enge Freundschaft aufzubauen und ich und diese neue Freundin sprachen viel über die Beziehung, die ich verließ. Sie war eine unterstützende Freundin, die mir zuhörte und mich über meinen Schmerz, meine Wut und meine Verzweiflung reden ließ. Sie sagte mir, dass diese Beziehung emotional missbräuchlich gewesen sei, was an meinem Schmerz deutlich zu erkennen war. Ich dachte darüber nach, was sie sagte. Diese Beziehung unterschied sich auffallend von meiner früheren missbräuchlichen Beziehung. Ich war nicht körperlich missbraucht, vergewaltigt, beschimpft oder in irgendeiner Weise erniedrigt worden. Aber meine Bedürfnisse wurden nicht befriedigt. Galt das als emotionale Misshandlung? Was war mit der Unehrlichkeit von X oder dem Ignorieren meiner Bedenken? War das missbräuchlich? Ich wusste es nicht, aber ich merkte, dass ich mehr Wut und weniger Verzweiflung empfand, wenn ich daran dachte, dass es missbräuchlich war. Ich war in der Lage es in eine Erzählung von wiederholter Viktimisierung einzupassen, die die Geschichte meines Lebens gewesen war. Ich war in der Lage die auf einem Trauma basierende Erzählung loszulassen, dass ich von Natur aus nicht liebenswert sei und sie durch die (ebenfalls auf einem Trauma basierende) Erzählung zu ersetzen, dass ich ein Opfer gewesen sei, das sich der emotionalen Vernachlässigung, die ich in diesen drei Jahren erfahren hatte, nicht widersetzen konnte.

Meine Reaktion, wann immer ich X in der Stadt sah, trug zur Legitimität der Behauptung bei, dass ich missbraucht worden war. Ich hatte die bekannte Traumareaktion. Mein Körper wurde mit Adrenalin und Panik überflutet, ich dissoziierte und fiel später in eine tiefe Depression. Ich schrieb meiner Freundin eine SMS, nachdem ich X getroffen hatte und sie antwortete mir: «Deine Gefühle sind berechtigt und ein Beweis für Missbrauch.» Das war sehr beruhigend. Es war eine normale Reaktion darauf, dass ich meinen Missbraucher auf der Straße sah. Mein Körper würde nicht lügen. Wenn es sich nur um eine unglückliche Beziehung gehandelt hätte, warum hätte ich dann so heftig reagiert? (Die Antwort auf diese Frage lautet: Ich habe bereits eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung.)

Also nahm ich den Glauben an, dass ich eine andere missbräuchliche Beziehung überlebt hatte, eine die sich von der anderen missbräuchlichen Beziehung, in der ich gewesen war, deutlich unterschied, aber es war eine andere Art von Missbrauch. Ich befand mich in einer Gemeinschaft, in der «Überlebende glauben» beschworen wurde und ich hatte gesehen, wie sich Missbrauchsvorwürfe in den sozialen Medien abspielten, mit enormen Konsequenzen für die Beschuldigten. Jedoch erinnerte keine der beschriebenen Verhaltensweisen (wenn überhaupt) auch nur im Entferntesten an den Missbrauch, den ich in meiner «ersten» missbräuchlichen Beziehung erlebt hatte. Ich sah, dass Begriffe wie «Gaslighting» und «emotionaler Missbrauch» weithin verwendet wurden, ohne dass diese Begriffe klar definiert waren. Ich erkannte plötzlich, dass ich die Macht hatte X zu verletzen und Konsequenzen für X zu schaffen. Und ich wollte, dass X die Konsequenzen zu spüren bekam. Nach der Trennung fingen X an zu daten, Partys zu feiern und ein erfülltes soziales Leben zu führen (zumindest sagten mir das die sozialen Medien), während ich zweimal pro Woche zur Therapie ging und die ganze Zeit weinte. Ich hatte so große Schmerzen und wollte nicht, dass X «ungeschoren davonkam».

Zum Glück hatte ich genug Kritik an der “Cancel”-Kultur, um zu zögern diesen Weg zu gehen. Ich hatte Lust dazu. Aber ich hatte Prinzipien und ethische Bedenken, wenn es darum ging den Ruf von Menschen zu beschmutzen. Vor allem weil ich selbst davon betroffen war. Ich weiß, dass es bei diesen öffentlichen Aufrufen vordergründig darum ging «die Leute zu warnen» und ein Teil von mir wollte die Leute warnen. Aber vor was warnen? Davor, dass die Person, mit der man sich verabredet, vielleicht emotional nicht zugänglich ist und die eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt? Dass sie während der Verabredung mit dir auf ihrem Handy herumscrollen könnte? Dass sie das Gespräch immer wieder verschieben könnte, wenn du versuchst zu erzählen wie unglücklich du bist? Oder – ich könnte den vagen, aber wirkungsvolleren Begriff «emotionaler Missbrauch» verwenden. Ich könnte Online posten: «Diese Person ist ein Missbraucher.» Ich bin dankbar, dass ich das nicht getan habe. Ich habe jedoch in meinem Heft darüber geschrieben und dabei die Sprache des emotionalen Missbrauchs verwendet und obwohl ich die Person nicht namentlich genannt habe, wussten alle die mich kannten, über wen ich schrieb. Ich bin sicher, dass dies Auswirkungen auf X hatte.

Ich möchte klarstellen, dass ich nicht absichtlich strafend oder rachsüchtig war. Ich hatte große Schmerzen. Der Schmerz war zutiefst überwältigend. Die Schilderung des emotionalen Missbrauchs, die mir gegeben wurde, linderte diesen Schmerz und machte die Intensität dieses Schmerzes verständlich. Ich verstand wirklich nicht, wie ich so viel Schmerz empfinden konnte, wenn es nur eine nicht so gute Beziehung gewesen war, die meine Bedürfnisse nicht erfüllte. Der Gedanke, dass meine Gefühle ein Beweis für Missbrauch waren, machte so viel Sinn, dass nichts anderes einen Sinn ergab – also hielt ich daran fest. In Wirklichkeit waren meine Gefühle ein Beweis für Missbrauch: Sie waren der Beweis dafür, dass ich Kindesmissbrauch und häuslicher Gewalt in einer früheren Beziehung überlebte. Sie waren der Beweis dafür, dass ich eine komplexe posttraumatische Störung und ein extremes Bindungstrauma habe. Eine nicht traumatisierte Person hätte diese Beziehung schon viel früher verlassen. Eine nicht traumatisierte Person hätte bemerkt, dass diese Person emotional nicht erreichbar und nicht bereit war daran zu arbeiten. Eine nicht traumatisierte Person hätte sich entschieden sie zu verlassen und etwas anderes zu suchen. Für eine nicht traumatisierte Person wäre diese Entscheidung wahrscheinlich schmerzhaft und emotional gewesen, aber sie hätte sich nicht unmöglich angefühlt.

Einige Jahre nach dem Ende dieser Beziehung, als ich eine Weile mit einer neuen Traumatherapeutin arbeitete, benutzte ich die Sprache des Missbrauchs, als ich diese Beziehung beschrieb. Diese Therapeutin kannte meine Geschichte, wusste, dass ich an komplexer posttraumatischer Störung leide und kannte den allgemeinen Inhalt dieser unglücklichen Beziehung. Sie wusste nicht, dass ich es als Missbrauch verstand. Als ich ihr das sagte, stellte sie mich direkt zur Rede. Sie sagte: «Das war eine unglückliche Beziehung, in der deine Bedürfnisse nicht erfüllt wurden, aber es war kein Missbrauch. Es ist wirklich wichtig, dass du den Unterschied erkennen kannst.»

Ich war defensiv, verletzt und beleidigt. Was sie sagte, stand im Gegensatz zu dem akzeptierten «Pro-Überlebenden»-Diskurs. Glaubt den Überlebenden! Wenn ich sage, dass ich missbraucht wurde, wurde ich missbraucht. Es war ziemlich beschissen von ihr das in Frage zu stellen. Wenn jemand in der sozialen Szene, in der ich mich bewegte, so etwas öffentlich sagen würde, würde diese Person vernichtet werden. Man würde als «Missbrauchsverteidiger:in» bezeichnet werden. Aber die Sache ist die, dass ich dieser Therapeutin vertraute. Ich hatte lange genug mit ihr gearbeitet, um zu wissen, dass sie Missbrauch und Trauma sehr ernst nahm. Ich wusste, dass sie fest daran glaubte, dass meine Eltern mich missbraucht hatten, obwohl meine Eltern bis heute leugnen, dass das was sie getan hatten Missbrauch war, obwohl sie mich nie geschlagen hatten, obwohl ich mich jahrelang selbst entkräftet hatte, weil ich dachte, dass es «nicht so schlimm war». Was meine Eltern mir angetan haben war «so schlimm», es war Missbrauch und ich war ein Kind, das nicht in der Lage war sich von ihnen zu lösen oder der eigenen Misshandlung zu entkommen. Ihre emotionale Vernachlässigung stellte für sich genommen einen Missbrauch dar, weil Kinder die emotionale Zuwendung ihrer Bezugspersonen brauchen und weil Kinder sich nicht entscheiden können wegzugehen und diese Liebe woanders zu bekommen. Aber emotionale Vernachlässigung in einer Erwachsenenbeziehung ist für sich genommen kein Missbrauch. Denn ein Erwachsener, der nicht bedroht wird oder Gewalt oder anderen Formen der Zwangskontrolle ausgesetzt ist, kann frei gehen und die Liebe, die er braucht, woanders suchen. Erwachsene sind nicht machtlos.

Es fiel mir schwer diese Rückmeldung meiner Therapeutin zu akzeptieren, aber ich dachte darüber nach. Wenn ich in dieser Beziehung nicht missbraucht wurde, wie konnte ich mir dann erklären wie unglücklich ich gewesen war, wie sehr ich gelitten hatte und welche extreme Stressreaktion ich erlebte, wenn ich an X erinnert wurde? Wie konnte ich die Jahre, in denen ich geblieben war, verstehen und wie hilflos und machtlos ich mich fühlte, um zu gehen? Ich hatte es für unmöglich gehalten zu gehen, nicht weil ich Angst hatte körperlich verletzt oder gestalkt zu werden, sondern weil ich Angst vor dem Schmerz hatte, den ich erleiden würde und weil ich glaubte, dass ich nie wieder jemanden finden würde, der:die mich liebt.

Dies ist eine häufige Erfahrung für Menschen mit Entwicklungstrauma. Da die Kindheit eine Zeit extremer Hilflosigkeit und Machtlosigkeit ist und ein Trauma im Wesentlichen ein “Flashback” in die Zeit des ursprünglichen Missbrauchs bedeutet, fühlen sich viele Überlebende von Entwicklungstraumata im Erwachsenenalter hilflos und machtlos und zwar auf eine Art und Weise, die das Maß an Wahlmöglichkeiten und Macht, die sie haben, nicht richtig wiedergibt. Insbesondere Bindungstraumata können dazu führen, dass die Gefährdung unserer Fähigkeit Liebe zu empfinden extrem erschreckend und überwältigend ist. Wir können uns in eine Zeit zurückversetzt fühlen, in der der fehlende Zugang zu elterlicher Liebe und elterlichem Schutz die biologische Stressreaktion auslöste, die uns anzeigt, dass wir in Lebensgefahr sind. Kinder brauchen elterliche Liebe und Schutz um zu überleben, daher ist eine Stressreaktion auf der Ebene der Todesgefahr in diesem Zusammenhang angemessen. Erwachsene sind nicht auf die Liebe und den Schutz eines bestimmten Erwachsenen angewiesen um zu überleben, denn wir haben viel mehr Macht und Einfluss. Wir haben die Macht unsere Beziehungen selbst zu wählen und wir sind auch in der Lage für uns selbst zu sorgen und unsere eigenen Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, die Kinder nicht haben.

Wenn ich in dieser Beziehung nicht missbraucht wurde, wenn ich nicht hilflos und machtlos war, wenn ich stattdessen ein:e traumatisierte:r Erwachsene:r war, wenn ich einen “Flashback” hatte auf frühere Missbrauchserfahrungen, in denen ich machtlos und hilflos gewesen war, dann bedeutete das, dass ich die Verantwortung für meine Entscheidung übernehmen musste in einer Beziehung zu bleiben, die mich unglücklich machte. Ich musste meine Handlungsfähigkeit als Erwachsene:r einfordern und anerkennen. Und auch wenn dies schmerzhaft ist (und von vielen wahrscheinlich als «Opferbeschuldigung» bezeichnet würde), ist es letztlich die ermächtigendste Handlung, die ich als Überlebende:r vornehmen konnte. Mein Therapeutin hat mir ein großes Geschenk gemacht, indem sie mir half zwischen Missbrauchserfahrungen und Erfahrungen zu unterscheiden, bei denen ich mich hilflos und machtlos fühlte, nicht weil ich missbraucht wurde, sondern weil ich extrem traumatisiert bin. Durch diese Arbeit, durch das Erlernen dieser Unterscheidung, kann ich mich aus dem ausgelösten kindlichen Zustand in dem sich der Missbrauch meiner Kindheit anfühlt, als würde er andauern, in mein fähiges, handlungsfähiges erwachsenes Selbst begeben, das die Fähigkeit hat meine Bedürfnisse zu erfüllen und mir nicht dienliche Situationen zu verlassen. Ich bin nicht hilflos oder machtlos. Ein gebrochenes Herz wird mich nicht umbringen.

Viele Menschen werden auf diese Behauptung äußerst defensiv reagieren und behaupten, dass es besser ist Erfahrungen als missbräuchlich zu bewerten, die nicht missbräuchlich sind, als zu riskieren, dass eine tatsächliche Erfahrung von Missbrauch entkräftet wird. Mit dieser Behauptung wird so getan, als ob die Validierung der Missbrauchserzählung in nicht missbräuchlichen Situationen ein angemessener Preis für eine Kultur ist, die Missbrauch im Allgemeinen validiert. Aber die Folgen der Bestätigung von Missbrauchserzählungen in nicht missbräuchlichen Situationen sind unglaublich hoch – sowohl für die Beschuldigten, deren Leben zerstört werden kann, als auch für die traumatisierte Person, die eine Geschichte der Viktimisierung durchspielt, die sie entmachtet und ihr nicht erlaubt die Handlungsfähigkeit und Macht zu entdecken, die sie als Erwachsene hat. Zu glauben, dass meine unglückliche Beziehung missbräuchlich war, fühlte sich ermächtigend an, war aber in Wirklichkeit sehr entmündigend. Es hat mich daran gehindert die Macht zu erkennen, die ich hatte, um sie zu verlassen und zu lernen, dass ich in Zukunft die Macht habe Beziehungen zu verlassen, die mir nicht nützen. Es hat mich auch daran gehindert herauszufinden, dass ich eine Traumareaktion hatte und dass es eine ganze Reihe von Fähigkeiten gibt, die ich lernen kann, um mit diesen Traumareaktionen umzugehen (und sie schließlich zu heilen).

Überlebende zu lieben und zu unterstützen bedeutet nicht, kritiklos alles zu glauben was sie sagen, ohne zu hinterfragen oder zu diskutieren. Es bedeutet vielmehr sich auf die Arbeit einer vertrauensvollen Beziehung einzulassen und den Überlebenden zu helfen zu differenzieren. Ich will damit nicht sagen, dass wir sofort mit der Aussage reagieren sollten: «Du wurdest als Kind missbraucht, also bist du offensichtlich nur getriggert.» Ganz und gar nicht. Es ist sehr gut möglich, dass ein Mensch mit einem früheren Trauma als Erwachsene:r erneut missbraucht wird und es ist sogar ziemlich häufig. Aber wenn unsere Freund:innen vage Begriffe wie Missbrauch und “Gaslighting” verwenden, ohne zu sagen was sie meinen, sollten wir mit ihnen darüber sprechen. Wir können die Intensität der emotionalen und nervlichen Reaktionen anerkennen und wenn nötig die Bedeutung die Menschen diesen Reaktionen geben in Frage stellen. Wir können unsere Freund:innen bitten darüber zu sprechen, was in der Beziehung passiert ist und ihnen helfen es zu verstehen.

Dass meine Therapeutin die Darstellung dieser Beziehung als Missbrauch in Frage stellte, war eines der stärksten und heilsamsten Dinge, die je jemand für mich getan hat. Ich liebe Überlebende und möchte, dass sie heilen und ein erfülltes Leben führen können, in dem sie ihre Macht und Handlungsfähigkeit spüren, in dem sie wissen, dass sie in der Lage sind Beziehungen zu verlassen, die sie nicht glücklich machen. Meiner Meinung nach ist der derzeitige «Pro-Überlebende»-Diskurs in Wirklichkeit extrem überlebendenfeindlich. Er basiert auf einer völligen Verleugnung dessen was ein Trauma ist und wie es funktioniert. Es ist äußerst wichtig zu definieren was wir meinen, wenn wir das Wort «Missbrauch» verwenden. Dieses Wort bedeutet etwas Bestimmtes: Es bedeutet ein Verhalten, das gewalttätig, kontrollierend, bedrohend, erniedrigend und/oder demütigend ist. Es bedeutet nicht irgendetwas, das eine extrem intensive emotionale/ nervliche Systemreaktion hervorruft.

Überlebende verdienen Gemeinschaften die uns befähigen und uns helfen unsere Erfahrungen ehrlich zu verarbeiten. Es ist absolut möglich und notwendig Gemeinschaften aufzubauen, in denen wir Missbrauch sehr ernst nehmen und in denen wir das Wort Missbrauch auch richtig verwenden. Es ist absolut möglich und notwendig Überlebende zu befähigen zwischen gegenwärtigem Missbrauch und Traumareaktionen, die auf vergangenem Missbrauch beruhen, zu unterscheiden. Um diese Arbeit zu leisten brauchen wir eine Kultur in der diese Gespräche nicht sofort als «Missbrauchsentschuldigung» abgetan werden. Die Überlebenden verdienen etwas Besseres als das. Wir verdienen traumabewusste Gemeinschaften, die die Auswirkungen von Entwicklungstraumata verstehen und uns dabei helfen die Macht und Handlungsfähigkeit, die wir als Erwachsene haben, einzufordern.

Den Unterschied zwischen “Accountability” und dem auf Traumata beruhenden Verhalten es anderen Recht machen zu wollen

Zwölf-Schritte-Programme zur Heilung beinhalten die Praxis der Wiedergutmachung. Dies ist wahrscheinlich der bekannteste Aspekt der Zwölf Schritte und er wird in den Medien oft falsch dargestellt. Da wir in einer Kultur leben, die uns nicht viel darüber lehrt wie man Verantwortung übernimmt, wenn man Leid angerichtet hat, kann man sich die Praxis der Wiedergutmachung leicht als das Äquivalent einer Entschuldigung vorstellen. Eine Wiedergutmachung beinhaltet in der Regel eine Entschuldigung, aber sie ist viel mehr als das. Wiedergutmachung erfordert ein gründliches Verständnis dessen, was wir getan haben, ein verändertes Verhalten, Maßnahmen zur Wiedergutmachung und – was wichtig ist – die richtigen Motive. Wir leisten Wiedergutmachung aus einer Position der Integrität heraus, als Versuch es denjenigen gegenüber richtig zu machen, denen wir geschadet haben und als Prozess der Änderung unseres Verhaltens, so dass es mit unseren Werten übereinstimmt. Wir leisten keine Wiedergutmachung um einen Konflikt zu vermeiden oder zu verhindern, dass andere Menschen wütend auf uns sind. Die unehrliche Übernahme von Verantwortung für etwas, das wir nicht zu verantworten haben, untergräbt unsere Fähigkeit für das, was wir zu verantworten haben, verantwortlich zu sein.

Der Prozess der Wiedergutmachung hat seine Grundlage in den vorherigen Schritten, lange bevor der Fokus auf Wiedergutmachung liegt. Bevor wir uns der Wiedergutmachung nähern können, müssen wir stabil, sicher, von der Gemeinschaft unterstützt und mit einem sinnstiftenden System verbunden sein. Wir lernen wer wir sind und was unsere Werte und Prinzipien sind. Dann machen wir eine Bestandsaufnahme unseres Verhaltens in den vergangenen Jahren. Wir schauen uns alle Situationen an in denen wir möglicherweise Leid verursacht oder gegen unsere Prinzipien verstoßen haben. Dann gehen wir diese Liste mit einer vertrauenswürdigen Person, in der Regel unserer:m Sponsor:in, durch und besprechen sie. Unser:e Sponsor:in gibt uns Feedback und hilft uns unser Verhalten zu verstehen. Unser:e Sponsor:in wird uns ermutigen gegebenenfalls Verantwortung zu übernehmen, auch wenn wir uns dazu nicht bereit fühlen. Er:sie wird uns auch auffordern keine Verantwortung für Dinge zu übernehmen, für die wir nicht verantwortlich sind.

Das ist wirklich wichtig, denn Wiedergutmachung bedeutet nicht einfach sich zu entschuldigen, damit andere nicht mehr wütend auf uns ist. Wiedergutmachung ist ein viel tieferer Prozess, bei dem es darum geht unser Verhalten wirklich zu verstehen. Es geht darum zu verstehen, warum wir getan haben was wir getan haben und vor allem auch wie es der anderen Person Leid verursacht hat. Es gibt viele Situationen im Leben in denen Menschen verletzt werden, ohne dass ihnen Leid verursacht worden ist. Als Beispiel kann die Beendigung einer Beziehung dienen: Unser:e Ex ist vielleicht sehr verletzt und wütend auf uns. Aber wir schulden dieser Person keine Wiedergutmachung, denn wir haben aufrichtig gehandelt, aus Ehrlichkeit und aus Fürsorge für alle Beteiligten. Andererseits könnten wir in einer unglücklichen Beziehung bleiben, um keine Gefühle zu verletzen, wir könnten mitspielen und uns emotional abkapseln, vielleicht jahrelang. In diesem Fall sind unsere Handlungen durch den Wunsch motiviert die andere Person nicht zu verletzen und wahrscheinlich auch um Konflikte zu vermeiden, aber genau hier wären wir eine Wiedergutmachung schuldig. Hier haben wir unehrlich gehandelt und diese Person der Chance beraubt jemanden zu finden, der:die eine aufrichtigere Beziehung führen möchte.

Das ist nur ein willkürliches Beispiel, aber ich benutze es um zu verdeutlichen, dass es bei der Wiedergutmachung nicht darum geht Menschen zu beschwichtigen, die wütend auf uns sind. Menschen können verletzt oder wütend sein und wir können integer sein, weil wir nicht auf schädliche Weise gehandelt haben. Das ist eine wirklich wichtige Unterscheidung, vor allem für traumatisierte Menschen, die zu einer kleinmütigen Reaktion neigen. Wenn wir es den Menschen recht machen wollen, wenn wir durch das Trauma gelernt haben, dass wir sicher sind wenn wir andere bei Laune halten, sind wir vielleicht bereit die Verantwortung für das Leid und den Ärger anderer zu übernehmen, selbst wenn wir nichts falsch gemacht haben. Das ist nicht nur schädlich für uns und unsere Genesung, sondern auch für die andere Person. Es hindert sie daran Verantwortung für ihre eigenen Gefühle und Handlungen zu übernehmen. Es hindert sie daran Dinge wie Trauer und Wut von Schuldzuweisungen zu trennen. Und es ist im Grunde genommen eine Lüge. Es bedeutet zu sagen: «Ich werde dir sagen was du hören willst, weil ich Angst vor deiner emotionalen Reaktion habe.» Es bedeutet, dass wir uns selbst oder die andere Person nicht wie Erwachsene behandeln.

Als ich zum ersten Mal mit Sponsor:in eine Bestandsaufnahme machte, schrieb ich jede Situation auf in der Menschen wütend oder verärgert über mich waren, als ein Beispiel dafür, dass ich Schaden verursacht hatte. Es gab viele Situationen, in denen ich ernsthaftes Leid verursacht hatte, in denen ich definitiv nicht im Einklang mit meiner Integrität gehandelt hatte. Aber ich schrieb sie neben Situationen auf, in denen ich nichts Falsches getan hatte, aber die Leute wütend auf mich waren. Der:die Sponsor:in ging jede Situation mit mir durch und half mir sorgfältig zu unterscheiden, was von mir zu verantworten war und was nicht. In den Fällen, in denen ich Leid verursacht hatte, fuhr ich mit dem Prozess der Wiedergutmachung fort. In den Situationen, in denen die Leute wütend auf mich waren, ich aber nichts falsch gemacht hatte, musste ich an meiner “Co-Dependency” arbeiten, an meiner traumabedingten Gefälligkeit gegenüber Menschen. Ich musste lernen, dass es nicht in meiner Verantwortung liegt, wenn andere Menschen wütend oder traurig sind. Ich musste lernen, dass Menschen die mich nicht mögen kein Grund für mich sind meine Prinzipien aufzugeben.

In den Fällen, in denen ich Leid verursacht hatte, arbeitete ich mehr mit meiner:m Sponsor:in daran wirklich zu verstehen, warum mein Verhalten schädlich war und was dieses schädliche Verhalten angetrieben hatte. Ich tat die Arbeit, die ich in meinem Leben tun musste, um die zugrundeliegenden Probleme anzugehen (z. B. Therapie und Genesungsarbeit). Ich änderte mein Verhalten auf sinnvolle und nachhaltige Weise, nicht aus einem Gefühl der Schuld und Scham heraus, sondern aus einem Gefühl der Würde, Integrität und Selbstliebe. Ich habe gelernt, dass ich es verdiene so zu leben, dass ich mich gut fühle. Ich lernte, dass ich Prinzipien habe die mir sehr wichtig sind und dass ich es verdiene ein Leben zu führen in dem ich in Übereinstimmung mit diesen Prinzipien handle. Ich habe gemerkt, wie gut es sich anfühlt nach meinen Prinzipien zu leben und dass ein Leben im Einklang mit meinen Prinzipien keine Garantie dafür ist, dass die Leute nicht böse auf mich sind oder mich nicht mögen. Es ist nicht meine Verwantwortung gemocht zu werden. Meine Verantwortung ist es integer zu sein.

Dann begann ich den Prozess der direkten Wiedergutmachung, wo immer dies möglich war. Dies bestand darin auf die Person zuzugehen, die ich verletzt hatte und sie um ihre Zustimmung zur Wiedergutmachung zu bitten. Ich sagte ihnen, dass ich die Art und Weise, wie ich sie behandelt hatte, bedauerte und dass es mir viel bedeuten würde, wenn sie bereit wären mit mir einen Kaffee zu trinken und darüber zu sprechen. Die meisten sagten dazu ja. Ich habe mich dann mit ihnen auf einen Kaffee getroffen und ihnen in meinen eigenen Worten erklärt, wie ich das Leid, das ich verursacht habe, verstehe. Dies ist kein Geständnis. Es ist eine Praxis der Einstimmung. Es bedeutet einer Person in die Augen zu sehen und ihr zu zeigen, dass ich den Schmerz, den ich ihr zugefügt habe, verstehe und bedauere. Es geht darum einer Person in die Augen zu sehen und ihr zu zeigen, dass ihr Schmerz wichtig ist, dass er benannt, bezeugt und verstanden wird. Dies geht einher mit einer aufrichtigen Entschuldigung, einer kontinuierlichen Verhaltensänderung und in manchen Fällen mit materiellen Wiedergutmachungsmaßnahmen, wie etwa der Rückzahlung von Schulden oder der Wiederherstellung der Beziehung durch beständiges Erscheinen, wenn dies gewünscht wird. Dieser Prozess kann nicht funktionieren, wenn ich unehrlich bin. Die grundlegende Arbeit der Wiedergutmachung ist Ehrlichkeit.

Ich habe dies viele Male getan und war auch Empfänger:in von Wiedergutmachungen. Ich kann unmöglich ausdrücken wie transformierend das ist. Ich habe gesehen wie die Besserung in Echtzeit geschieht. Ich habe gesehen wie sich das Gesicht von jemandem, den ich verletzt habe, verändert hat, als meine Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen zur Kenntnis genommen wurde. Es ist ein beängstigender, verletzlicher Prozess und er ist zutiefst heilsam. Ich wünschte die Gemeinschaften, in denen ich mich außerhalb der Welt der Genesung befinde, würden diese Arbeit leisten. Sie ist so dringend notwendig. Leider haben wir weder die starken Gemeinschaften noch die notwendigen Instrumente, um Menschen zu helfen aus ihrer Integrität heraus zu handeln. Stattdessen verlassen wir uns auf Zwang und öffentliche Beschämung, um die Menschen zu zwingen Verantwortung für Dinge zu übernehmen, für die sie nach Meinung des Mobs selbst verantwortlich sind. Das ist auf so vielen Ebenen ungesund und dysfunktional und es schmerzt mich so sehr zu sehen, wie der heilige und kraftvolle Prozess der Wiedergutmachung auf diese Weise entwertet wird.

Die Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen erfordert im Wesentlichen die Bereitschaft sich zu weigern auf unehrliche Weise die Verantwortung für Dinge zu übernehmen, für die wir nicht verantwortlich sind. Sie erfordert, dass wir ein Gefühl für unsere Prinzipien und Werte haben, dass wir wissen was es bedeutet integer zu handeln. Es erfordert, dass wir in der Lage sind den Ärger oder die Abneigung anderer Menschen gegen uns zu ertragen, dass wir nicht bereit sind die Verantwortung für die Emotionen anderer Menschen und ihr daraus resultierendes Verhalten zu übernehmen. Es erfordert, dass wir uns wie Erwachsene verhalten, die zwischen den emotionalen Reaktionen anderer auf unser Verhalten und unserem Verhalten selbst unterscheiden können.

Einige werden hierauf mit der Behauptung reagieren, dass nur die betroffene Person entscheiden kann, ob sie betroffen ist oder nicht, aber das ist offensichtlich ein logischer Zirkelschluss. Und wie ich bereits an anderer Stelle geschrieben habe, ist es üblich, dass traumatisierte Menschen intensive emotionale Reaktionen auf nicht leidvolle Situationen zeigen, die eher auf früheren Missbrauch als auf aktuelle Umstände zurückzuführen sind. Es kommt auch sehr häufig vor, dass Menschen, die unter Qualen leiden, auf Schuldzuweisungen und Kontrollversuche zurückgreifen, anstatt sich mit ihren eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Ein verantwortungsbewusster Erwachsener zu sein bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen mit Hilfe von vertrauenswürdigen Personen wie Pat:innen, Therapeut:innen und engen Freund:innen selbst zu erkennen, ob wir Leid verursacht haben oder nicht.

Bei der Wiedergutmachung geht es nicht darum den Menschen zu gefallen oder Konflikte zu vermeiden; das ist ein traumabasiertes Verhalten, das in der Angstreaktion wurzelt. Wiedergutmachung ist ein Prozess, der auf unserer eigenen Würde und unserem Wert sowie auf der Würde und dem Wert anderer Menschen beruht. Es ist ein Prozess, bei dem wir in der Realität bleiben und unsere Prinzipien in der Welt leben.

1 Anm. Übs.: von den Anonymen Alkoholiker:innen entwickeltes Konzept, das mittlerweile auch von anderen Selbsthilfegruppen verwendet wird

2 A.d.Ü.: Fawn Response auf Deutsch etwa Bambi-Reflex; man versucht so harmlos, freundlich und nett zu sein, dass niemand “böse” wird.