Barbara Ehrenreich, Deirdre English – Hexen, Hebammen und Krankenschwestern

Einleitung

Frauen sind seit jeher heilkundig gewesen. Sie waren die unbestallten Ärzte und Anatomen der abendländischen Vergangenheit. Sie waren Abtreiberinnen, Pflegerinnen und Ratgeberinnen. Sie waren Pharmazeutinnen, entwickelten die Kräuterheilkunde und weihten einander in die Geheimnisse ihrer Wirkungsweise ein. Sie waren Hebammen, zogen von Haus zu Haus und von Ort zu Ort. Jahrhundertelang waren diese Frauen Ärzte ohne Titel, denen der Zugang zu Büchern und Vorlesungen versperrt war. Sie lernten voneinander, und gaben ihr praktisches Wissen von Nachbarin zu Nachbarin und von Mutter zu Tochter weiter. „Weise Frauen“ hießen sie im Volksmund, Hexen oder Kurpfuscherinnen für die Obrigkeit. Die Heilkunde ist Teil unseres Frauenerbes, unserer Geschichte, unseres Geburtsrechts.

Heute jedoch liegt die Gesundheitsfürsorge ganz in Händen männlicher, professioneller Ärzte. 93% aller Ärzte in den USA sind Männer; und nahezu alle leitenden und administrativen Spitzenpositionen in den Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes sind von Männern besetzt. Frauen bilden dabei immer noch insgesamt die Mehrheit – 70% aller im Gesundheitswesen Beschäftigten sind Frauen – aber wir sind einem Unternehmen einverleibt worden, dessen Bosse Männer sind. Wir sind keine unabhängigen Heilpraktikerinnen mehr, die unter ihrem eigenen Namen arbeiten und für die eigene Arbeit anerkannt werden. Wir sind meistenteils festes Inventar der medizinischen Institutionen und füllen die gesichtslosen Arbeitsplätze: Büroangestellte, Diätassistentin, Technische Assistentin, Putzfrau. Am eigentlichen Heilungsprozeß dürfen wir nur als Krankenschwestern teilnehmen. Und Schwestern jeden Dienstgrades, vom Hilfspersonal an aufwärts, stehen in einem Dienstbotenverhältnis zu den Ärzten. Es fängt bei der Hilfsschwester an, deren niedrige Arbeiten Punkt für Punkt bis ins kleinste Detail genau vorgeschrieben werden, und geht bis hinaus zur qualifizierten Schwester, die die Anordnungen des Arztes an die Hilfsschwester weiterleitet; so bilden alle Schwestern eine uniformierte, weibliche Dienerschaft, die den herrschenden männlichen Berufsvertretern zur Verfügung steht.

Unsere Unterwürfigkeit wird durch unsere Unwissenheit verstärkt, und in diese Unwissenheit wiederum werden wir hineingezwungen. Krankenschwestern werden dazu erzogen, niemals zu hinterfragen, nie zu widersprechen. „Der Arzt hat immer recht.“ Er ist der Schamane, der in Verbindung mit der verbotenen, komplizierten Welt der Wissenschaft steht, die – wie man uns glauben machen will – unser Fassungsvermögen übersteigt. Im Gesundheitswesen tätige Frauen werden vom wissenschaftlichen Inhalt ihrer Arbeit ferngehalten, indem man ihren Aufgabenbereich auf die „weibliche“ Tätigkeit von Pflege und Haushaltung beschränkt – sie bilden eine passive, schweigende Mehrheit.

Man redet uns ein, unsere Unterlegenheit sei biologisch bedingt. Frauen seien von Natur für den Schwesternberuf und nicht für den Arztberuf geschaffen. Manchmal suchen wir sogar Trost bei der Theorie, wir seien von unserer eigenen Anatomie besiegt worden, noch ehe uns die Männer bezwangen; die Frau sei schon immer derart im Kreislauf von Menstruation und Reproduktion gefangen gewesen, daß sie niemals frei und schöpferisch außerhalb ihres Heimes wirksam sein konnte. Ein weiterer Mythos, Lieblingskind der traditionellen Medizingeschichte, besagt, daß die männlichen Berufsvertreter aufgrund ihrer größeren technologischen Fähigkeiten überlegen seien. Dieser Darstellung zufolge hat die (männliche) Wissenschaft mehr oder weniger von selbst den (weiblichen) Aberglauben abgelöst, der seither als „Altweibergeschwätz“ bezeichnet wird.

Doch die Geschichte straft diese Theorie Lügen. Frauen waren autonome Heilpraktikerinnen, oft die einzigen Ärzte für die Frauen und Armen. Und wir konnten für die von uns untersuchten Zeitabschnitte feststellen, daß, wann immer in der Geschichte an unbewiesenen Lehren und ritualistischen Methoden festgehalten wurde, dies auf Seiten der männlichen Berufsärzte geschah – und daß gerade die Heilpraktikerinnen eine humanere und weit mehr empirische Einstellung zur Heilpraxis vertraten.

Unsere gegenwärtige Stellung im Gesundheitswesen ist nicht „naturgegeben“. Es handelt sich vielmehr um einen Umstand, der noch erklärt werden muß. Wir stellen in dieser Broschüre folgende Frage: Wie gelangten wir aus unserer einst führenden Position in die untergeordnete Stellung der Gegenwart?

Wir entdeckten, daß die Unterdrückung der Frau im Gesundheitsbereich und der Machtaufstieg der männlichen Ärzte kein „natürlicher“ Vorgang war, der sich zwangsläufig aufgrund von Veränderungen in der medizinischen Wissenschaft vollzog, noch auf ein Unvermögen der Frauen zurückzuführen ist. Es fand vielmehr eine aktive Machtübernahme der männlichen Ärzte statt. Und es war nicht wissenschaftliche Überlegenheit, die die Männer erfolgreich machte: die entscheidende Schlacht wurde lange vor der Entwicklung der modernen Wissenschaftstechnologie geschlagen.

Wichtige Interessen standen auf dem Spiel: Die politische und wirtschaftliche Monopolisierung der Medizin bedeutet Kontrolle über ihre Institutionen, ihre Theorie und Praxis, ihren Profit und ihr Prestige. Und heute geht es sogar um noch viel mehr, da die totale Herrschaft auf dem Gebiet der Medizin potentiell die Macht bedeutet, darüber zu bestimmen, wer leben und wer sterben darf, wer fruchtbar und wer unfruchtbar, wer „verrückt“ und wer normal ist.

Die Unterdrückung der Heilpraktikerinnen durch das ärztliche Establishment war Ausdruck eines politischen Machtkampfes – erstens – insofern sie einen Aspekt der Geschichte des Geschlechterkampfes im allgemeinen bildet. Das Ansehen der Heilpraktikerinnen stieg und fiel mit dem Ansehen der Frau. Wurden die Heilpraktikerinnen angegriffen, so wurden sie als Frauen angegriffen; wehrten sie sich, so wehrten sie sich für alle Frauen.

Zweitens handelt es sich dabei um einen politischen Kampf, Teil eines Klassenkampfs. Die Heilpraktikerinnen waren Volksärzte, und ihre Wissenschaft gehörte zur Subkultur des Volkes. Bis auf den heutigen Tag blüht die Heilkunst der Frauen dort, wo rebellische Bewegungen der unteren Klassen für ihre Befreiung von der etablierten Obrigkeit kämpfen. Die männlichen Ärzte dagegen dienten der herrschenden Klasse auf medizinischem wie politischem Gebiet. Ihren Interessen ist von Universitäten, philantropischen Stiftungen und durch Gesetzgebung Geltung verschafft worden. Sie verdanken ihren Sieg weniger ihren eigenen Bemühungen – als vielmehr dem Eingriff der herrschenden Klasse, der sie dienten.

Diese Abhandlung stellt nur einen Anfang der Forschungsarbeit dar, die nötig ist, um unsere wahre Vergangenheit als Gesundheitsfürsorgerinnen zu erhellen. Sie ist unvollständig und wurde von Frauen, die keineswegs „professionelle“ Historikerinnen sind, aus meist bruchstückhaften und oft tendenziösen Quellen zusammengestellt. Wir beschränken uns auf die abendländische Geschichte, da die Institutionen, denen wir heute gegenüberstehen, Produkte abendländischer Kultur sind. Wir können hier bei weitem keine vollständige chronologische Geschichte vorweisen. Stattdessen behandeln wir zwei voneinander unabhängige, wichtige Phasen aus der Geschichte des Kampfes der Männer um die Herrschaft über das Gesundheitswesen: Die Unterdrückung der Hexen im mittelalterlichen Europa und den Aufstieg des medizinischen Berufsstandes im Amerika des 19. Jahrhunderts.

Unsere Geschichte zu kennen, heißt erkennen, wie wir den Kampf wieder aufnehmen müssen.

Hexenkunst und Medizin im Mittelalter

Hexen lebten und wurden verbrannt, lange bevor die moderne medizinische Technologie entstand. Sie waren in der Mehrzahl Heilpraktikerinnen, die dem Bauernvolk halfen; ihre Unterdrückung war einer der ersten Kämpfe in der langen Geschichte männlicher Unterdrückung heilkundiger Frauen.

Die andere Seite bei der Unterdrückung der Hexen als Heilpraktikerinnen war die Schaffung eines neuen männlichen Ärztestands unter der Schutz- und Schirmherrschaft der herrschenden Klasse. Diese neue europäische Ärzteschaft spielte eine wichtige Rolle bei den Hexenjagden und stand den Hexenjägern mit medizinischen Fachurteilen zur Seite.

(…) „Dadurch, daß die mittelalterliche Kirche, unterstützt von den Königen, Fürsten und weltlichen Obrigkeiten, die medizinische Ausbildung und Praxis unter ihrer Kontrolle hatte, bildete die Inquisition unter anderem ein frühes Beispiel des ‚professionellen‘ Ärztestandes, insofern, als sie dem ‚Nichtprofessionellen‘ seine Fähigkeiten absprach und sein Recht, den Armen zu helfen, begrenzte.“ (Thomas Szasz, The Manufacture of Madness).

Die Hexenjagden hinterließen einen nachhaltigen Eindruck: Ein Aspekt des Weiblichen wird seither immer mit Hexerei in Verbindung gebracht, eine Aura des Unreinen ist geblieben – besonders um Hebammen und andere heilkundige Frauen. Diese frühe und vernichtende Vertreibung der Frauen aus unabhängigen Heilberufen stellte einen radikalen Präzedenzfall und ein Warnsignal dar: Es sollte ein Leitthema unserer Geschichte werden. Die Frauengesundheitsbewegung reicht in ihren Anfängen bis in die mittelalterlichen Hexenzirkel zurück; ihre heutigen Widersacher können die Männer als Vorläufer betrachten, die skrupellos die Ausrottung der Hexen erzwangen.

Der Hexenwahn

Die Hexenverfolgungen dauerten mehr als vier Jahrhunderte und erstreckten sich von Deutschland bis über England hinweg. Sie nahmen ihren Ausgang im Feudalismus und dauerten – unter ständiger Verschärfung – bis weit in die Zeit der „Aufklärung“ hinein. Der Hexenwahn nahm je nach Gegend und geschichtlichem Zeitpunkt unterschiedliche Formen an, verlor jedoch nie sein wesentlichstes Merkmal: das einer gegen die weibliche Landbevölkerung gerichtete Terrorkampagne der herrschenden Klasse. Die Hexen stellten für die protestantische und die katholische Kirche sowie für den Staat eine politische, religiöse und sexuelle Bedrohung dar.

Der Hexenwahn erreichte erschreckende Ausmaße: Im späten 15. Jahrhundert und im frühen 16. Jahrhundert wurden in Deutschland, Italien und anderen Ländern Abertausende hingerichtet – gewöhnlich bei lebendigem Leib auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Mitte des 16. Jahrhunderts dehnte sich der Schreckensfeldzug auf Frankreich und schließlich England aus. Ein Chronist schätzt die Zahl der Hinrichtungen in bestimmten deutschen Städten auf 600 im Jahr oder zwei pro Tag, „mit Ausnahme der Sonntage“. 900 Hexen wurden innerhalb eines einzigen Jahres im Raum Wertzberg umgebracht, und 100 in Como und Umgebung. In Toulouse wurden 400 an einem Tag hingerichtet. In zwei Dörfern des Bistums Trier blieb im Jahr 1585 nur je eine weibliche Einwohnerin am Leben. Die Gesamtzahl der Hinrichtungen ging nach Schätzungen vieler Chronisten in die Millionen. Etwa 85% aller Hingerichteten waren Frauen – alte Frauen, junge Frauen und Kinder [1].

Schon allein das Ausmaß, das die Hexenjagden erreichten, läßt uns ein tiefreichendes soziales Phänomen dahinter vermuten, das weit über die Geschichte der Heilkunde hinausgreift. Zeitlich und örtlich fallen die erbittertsten Hexenverfolgungen mit Zeiten großen sozialen Umbruchs zusammen, die den Feudalismus in seinen Grundfesten erschütterten, – Massenaufstände und Verschwörungen der Bauern, die Anfänge des Kapitalismus und das Aufkommen des Protestantismus. Es gibt bruchstückhafte Hinweise darauf – und Feministinnen sollten diesen Spuren nachgehen – daß in einigen Regionen die Hexerei als eine von Frauen angeführte Bauernrevolte zu verstehen ist. Wir können an dieser Stelle nicht tiefer auf die historischen Zusammenhänge der Hexenjagden eingehen. Doch müssen wir einige gängige Mythen über den Hexenwahn untersuchen, Mythen, die die Hexe jeglicher Würde berauben und ihr und den Bauern, denen sie zur Seite stand, die Schuld zuschieben.

Unglücklicherweise überlieferten die Hexen – weil arm und ungebildet – ihre Geschichte nicht selbst. Sie wurde vielmehr, wie die ganze Geschichtsschreibung, von der gebildeten Elite verfaßt, sodaß uns heute nur das von ihren Verfolgern gezeichnete Bild der Hexe bleibt.

Zwei der verbreitetsten Theorien über die Hexenjagd sind im wesentlichen medizinisch begründet und schreiben den Hexenwahn einem unerklärlichen Ausbruch von Massenhysterie zu. Eine Version besagt, das Bauernvolk sei verrückt geworden. Demnach war der Hexenwahn eine Epidemie von Massenhaß und Massenpanik, die sich in Gestalt eines blutgierigen Bauernmobs mit brennenden Fackeln in den Händen ausdrückte. In einer anderen psychiatrischen Deutung wird behauptet, die Hexen selbst seien geistesgestört gewesen. Ein maßgeblicher Psychiatriehistoriker, Gregory Zilboorg schrieb:

(…) Millionen von Hexen, Zauberern, Besessenen und Verrückten bildeten eine ungeheure Masse schwerer Neurotiker (und) Psychopathen (…) viele Jahre lang glich die Welt einem wahren Irrenhaus (…).

Tatsächlich aber handelte es sich beim Hexenwahn weder um einen lynchenden Mob noch um einen Massenselbstmord hysterisch gewordener Frauen. Vielmehr bewegte sich alles innerhalb ordentlicher, streng gesetzlicher Bahnen. Die Hexenverfolgungen waren gut organisierte Feldzüge, initiiert, finanziert und durchgeführt von Kirche und Staat. Für die katholischen wie für die protestantischen Hexenjäger galt als unbestrittene, maßgebliche Sachverständigenquelle zur Leitung einer Hexenjagd der Malleus Maleficarum oder Hexenhammer, im Jahr 1484 von den Hochwürden Kramer und Sprenger verfaßt (den „geliebten Söhnen“ von Papst Innozens VIII.). Drei Jahrhunderte lang lag dieses sadistische Buch in jedem Gerichtsverfahren vor jedem Richter, jedem Hexenjäger. Aus den ausführlichen Anleitungen zur gerichtlichen Verfahrensweise geht klar hervor, wie die „Hysterie“ angefacht wurde: Einen Hexenprozess zu initiieren war Angelegenheit des Pfarrers (Priesters) oder Richters der Grafschaft, der zu diesem Zweck eine Bekanntmachung erlassen mußte

daß man es Uns innerhalb der Frist von zwölf Tagen offenbaren soll, wenn jemand weiß oder gehört hat, daß eine Person ein Ketzer oder eine Hexe sei, oder wenn jemand solcher Praktiken besonders verdächtigt wird die Menschen, Vieh oder die Früchte des Feldes zum Nachteil des Staates verderben.

Jeder, der es unterließ, eine Hexe anzuzeigen, mußte mit seiner Exkommunikation und einer langen Liste irdischer Strafen rechnen. Wenn diese bedrohliche Ankündigung auch nur einen Fall von Hexerei ans Licht brachte, so konnte dieser Prozeß dazu benutzt werden, weitere Hexen aufzuspüren. Kramer und Sprenger gaben detaillierte Anleitungen für die Anwendung der Folter zum Erzwingen von Geständnissen und weiterer Anschuldigungen. Gewöhnlich wurde die Angeklagte entkleidet und ihr Körperhaar entfernt, wonach sie der Folter durch Daumenschrauben und Streckbank, Dornen und die knochenbrechenden Spanischen Stiefel, Hunger und Schläge überantwortet wurde. Die Sache ist offensichtlich: Der Hexenwahn entstand nicht spontan unter dem Bauernvolk. Er war eine gezielte Terrorkampagne der herrschenden Klasse.

Die Verbrechen der Hexen

Wer waren denn nun die Hexen und welcher „Verbrechen“ hatten sie sich schuldig gemacht, daß die Oberschicht zu solch entsetzlichen Unterdrückungsmaßnahmen griff? Zweifellos fielen im Laufe der Jahrhunderte eine Unzahl Sünden unter die Anklage der Hexerei, von politischer Subversion und religiöser Ketzerei bis hin zu Unzucht und Blasphemie. Aber drei Hauptanklagepunkte tauchen in der Hexengeschichte ganz Nordeuropas immer wieder auf: Erstens werden Hexen aller erdenklichen, gegen Männer begangenen Sexualverbrechen bezichtigt. Ihnen wird schlicht und einfach die weibliche Sexualität „vorgeworfen“. Zum zweiten werden sie beschuldigt, sie hätten sich organisiert. Zum dritten wird ihnen vorgeworfen, sie verfügten über magische Kräfte und wirkten damit auf die Gesundheit schädigend oder auch heilend ein. Oft wurden sie ausdrücklich ihrer medizinischen und geburtshilflichen Fähigkeiten wegen angeklagt.

Zuerst einmal zu der Beschuldigung sexueller Vergehen. Die mittelalterliche katholische Kirche erhob den Sexismus zum Prinzip: Der Malleus verkündet: „Wenn eine Frau alleine denkt, denkt sie Böses.“ Wenn der Hexenwahn nicht schon Beweis genug für die Frauenfeindlichkeit der Kirche wäre, so kommt sie doch deutlich in der Lehre zum Ausdruck, daß der Mann beim Geschlechtsakt in der Frau einen Homunculus oder „kleinen Menschen“ zurückläßt, der vollständig angelegt und beseelt lediglich neun Monate in ihrem Schoß untergebracht wird, ohne dabei irgendwelche Eigenschaften der Mutter anzunehmen. Der Homunculus befindet sich jedoch solange nicht wirklich in Sicherheit, bis er wieder in männliche Hände gelangt, wenn also ein Priester ihn tauft und somit die Rettung seiner unsterblichen Seele sichert. Ein anderes bedrückendes Hirngespinst einiger mittelalterlicher religiöser Denker war, daß bei der Auferstehung alle Menschen als Männer wiedergeboren würden.

Die Kirche setzte die Frau mit der Sexualität gleich und jegliches Vergnügen am Sex wurde verdammt, denn es konnte nur vom Teufel kommen. Man vermutete, daß Hexen beim Beischlaf mit dem Teufel Lust empfanden (trotz des eiskalten Penis, den er angeblich besaß), und damit ihrerseits die Männer ansteckten. Lustgefühle beim Mann oder der Frau wurden also der Frau zur Last gelegt. Andererseits wurden Hexen auch beschuldigt, sie machten Männer impotent und zauberten ihre Penisse weg. Was die weibliche Sexualität betrifft, so klagte man die Hexe an, sie verabreiche empfängnisverhütende Mittel und treibe ab:

Nun gibt es aber, wie es in der Päpstlichen Bulle heißt, sieben Methoden, mit denen sie mittels Hexerei den Geschlechtsakt und die Empfänglichkeit des Schoßes verderblich beeinflussen: Erstens, indem sie die Sinne der Männer zu zügelloser Leidenschaft verführen; zweitens, indem sie ihre Zeugungskraft lähmen; drittens, indem sie die zu diesem Akt bestimmten Glieder entfernen; viertens, indem sie durch ihre Magie Männer in Tiere verwandeln; fünftens, indem sie die Fruchtbarkeit der Frauen zerstören; sechstens, indem sie Abtreibungen vornehmen; siebtens, indem sie den Teufeln Kinder darbringen, neben anderen Tieren und Früchten der Erde, womit sie viel Böses wirken (…). (Malleus Maleficarum)

In der Vorstellung der Kirche entsprang die Macht der Hexe letztlich ihrer Sexualität. Ihre Laufbahn begann mit dem geschlechtlichen Verkehr mit dem Teufel. Jede Hexe wurde bei einer Generalversammlung (dem Hexensabbath) gefirmt; diese Versammlung wurde vom Teufel, oft in Gestalt eines Ziegenbockes, geleitet, der dort mit den Novizinnen verkehrte. Als Gegenleistung für den Erhalt ihrer magischen Kräfte versprach die Hexe, ihm treu zu dienen. (In der Vorstellungswelt der Kirche konnte selbst dem Bösen letzten Endes nur ein Mann vorstehen.) Wie der Malleus glauben macht, handelt der Teufel, so wie schon im Paradies, fast immer durch das Weib:

Aller Hexenzauber kommt von der fleischlichen Lust, die bei den Frauen unersättlich ist (…). Weshalb sie, um der Befriedigung ihrer Gelüste willen mit den Teufeln paktieren (…) und es überhaupt nicht Wunders nimmt, warum man mehr Frauen als Männer unter den von der Sünde der Ketzerei Befallenen findet (…). Und dem Höchsten sei Dank, der das männliche Geschlecht bis heute vor solch großen Vergehen bewahrt hat (…).

Nicht genug damit, daß die Hexen Frauen waren – es waren Frauen, die anscheinend zu einer riesigen Geheimorganisation zusammengeschlossen waren. Eine Hexe, die nachweislich Mitglied der „Teufelspartei“ war, galt als bedrohlicher als eine, die allein agiert hatte, und die Hexenverfolgungsliteratur läßt die Frage nicht ruhen, was an jenen „Hexensabbathen“ eigentlich vor sich ging. (Wurden ungetaufte Kinder gefressen? Bestialismus und Massenorgien? In diese Richtung gingen ihre wilden Spekulationen …).

Tatsächlich gibt es Beweise dafür, daß als Hexen angeklagte Frauen sich lokal in kleinen Gruppen versammelten, und daß diese Gruppen an Festtagen zu Versammlungen von hunderten oder tausenden zusammenkamen. Einige Chronisten vermuten, daß diese Treffen zur Ausübung heidnisch-religiöser Riten stattfanden. Zweifellos dienten sie auch dazu, Wissen in der Kräuterkunde auszutauschen und Nachrichten weiterzugeben. Wir wissen nicht viel über die politische Bedeutung der Hexenorganisationen, aber es ist kaum vorstellbar, daß sie nicht mit den damaligen Bauernrevolten zusammenhingen. Jede Organisation der Bauern mußte, schon allein weil es eine Organisation war, Ketzer anziehen, die Kommunikation zwischen den Dörfern fördern und den Geist von Gemeinschaft und Autonomie wecken.

Hexen als Heilkundige

Hiermit kommen wir zu der fanatischsten aller Beschuldigungen: Die Hexe wird nicht nur wegen Mordes, Giftmischerei, sexueller Vergehen und Verschwörung angeklagt, sondern auch weil sie hilft und heilt. Wie ein führender englischer Hexenjäger es ausdrückte:

Denn dies müssen wir immer im Gedächtnis halten, daß wir unter Hexen nicht nur jene verstehen, die töten und quälen, sondern alle Wahrsager, Zauberer, Gaukler, alle Magier, die gemeinhin weise Männer und weise Frauen genannt werden (…) und dazu rechnen wir alle guten Hexen, die nicht Schaden, sondern Gutes tun, die nicht verderben und vernichten, sondern retten und bewahren (…) Es wäre tausendmal besser um dieses Land bestellt, wenn alle Hexen, aber besonders die wohltätigen Hexen, den Tod erlitten.

Die heilkundigen Hexen waren oft die einzigen praktischen Ärzte für das Volk, das von bitterer Armut und Krankheit schwer heimgesucht war. Insbesondere wurde eine enge Verbindung zwischen Hexe und Hebamme hersgestellt: „Niemand schadet der katholischen Kirche mehr als die Hebammen“, schrieben die Hexenjäger Kramer und Sprenger.

Die Kirche selbst hatte dem leidgeprüften Bauernvolk wenig zu bieten:

An den Sonntagen nach der Messe kamen die Kranken zuhauf und flehten um Hilfe, – Worte waren alles, was man ihnen schenkte: ‚Ihr habt gesündigt, und Gott züchtigt euch. Danket ihm; umso weniger werdet ihr im nächsten Leben leiden müssen. Duldet, leidet, sterbt. Denn hat die Kirche nicht ihre Gebete für die Toten?‘ (Jules Michelet, Satanismus und Hexenkunst)

Wenn dir Kirche mit dem Elend der Armen konfrontiert wurde, nahm sie ihre Zuflucht zu dem Dogma, daß jegliche Erfahrung auf dieser Welt vergänglich und bedeutungslos sei. Doch hier wurde mit zweierlei Maß gemessen, denn die Kirche stellte sich nicht gegen ärztliche Hilfe für die Oberschicht. Die Könige und der Adel hatten ihre Hofärzte, meist Männer, manchmal sogar Priester. In Wahrheit ging es nur darum, Kontrolle auszuüben: Heilte ein Mann der Oberschicht unter dem wachsamen Auge der Kirche, dann war das akzeptabel, heilten jedoch Frauen als Mitglieder einer bäuerlichen Subkultur, so war es das nicht.

Die Kirche verstand ihren Angriff auf die Bauernärzte als einen Angriff auf die Magie, und nicht auf die Medizin. Man glaubte, daß der Teufel wirklich Macht auf Erden hätte; diese Macht aber in den Händen von Bauersfrauen zu wissen – ob nun zum Guten oder zum Bösen – versetzte Kirche und Staat in Angst und Schrecken. Je größer ihre dämonische Kraft, sich selbst zu helfen war, umso weniger bedurften sie Gottes und der Kirche, umso mehr waren sie potentiell imstande, ihre Kräfte gegen die göttliche Ordnung zu richten. Zaubermittel hielt man für mindestens ebenso wirksam wie Gebete zur Heilung Kranker, aber Gebete waren von der Kirche sanktioniert und kontrolliert, Beschwörungen und Zaubermittel dagegen nicht. Daher bedeutete die Behandlung mittels Magie, selbst wenn sie erfolgreich war, einen verdammenswerten Eingriff in Gottes Willen, vollbracht mit Hilfe des Teufels, und die Heilung an sich war von Übel. Eine Heilung durch Gottes Hilfe von der des Teufels zu unterscheiden war nicht weiter schwierig, denn man durfte doch wohl annehmen, daß der Herr eher durch Priester und Ärzte wirken würde als durch Bauersfrauen.

Die weise Frau oder Hexe hatte einen Schatz an Heilmitteln, die in jahrelangem Gebrauch erprobt waren. Viele von den Hexen entwickelten Kräuterheilmittel haben heute noch ihren festen Platz in der Pharmakologie. Sie kannten schmerzstillende, verdauungsfördernde und entzündungshemmende Mittel. Sie verwandten Ergot (Mutterkorn) gegen die Geburtsschmerzen zu einer Zeit, als die Kirche lehrte, daß die Schmerzen bei der Geburt Gottes gerechte Strafe für Evas Ursünde seien. Ergotderivate sind heute die gebräuchlichsten Präparate zur Beschleunigung der Wehen und des Genesungsprozesses nach der Geburt. Belladonna – heute noch als krampflösendes Mittel im Gebrauch – wurde von den heilkundigen Hexen angewandt, um Kontraktionen der Gebärmutter zu verhindern, wenn eine Fehlgeburt drohte. Digitalis (Fingerhut), auch heute noch eine wichtige Droge zur Behandlung von Herzleiden, soll von einer englischen Hexe entdeckt worden sein. Zweifellos waren viele Mittel der Hexe bloßer Zauber und wirkten – wenn überhaupt – nur dank dem Glauben an ihre Heilkraft.

Methoden und Ergebnisse der heilkundigen Hexe stellten eine große Bedrohung (zumindest für die katholische, wenn nicht auch für die protestantische Kirche dar, denn die Hexe war Empirikerin: Sie verließ sich mehr auf ihre Sinne als auf die Gebote des Glaubens oder die Lehren der Kirche, sie glaubte an die Gesetze von Versuch und Irrtum, Ursache und Wirkung. Ihre Haltung war es, nicht religiös-passiv zu sein, sondern aktiv zu forschen. Sie vertraute auf ihre Fähigkeit, die richtigen Mittel zur Behandlung von Krankheit, Schwangerschaft und Geburt zu finden. Kurz, ihre Magie war die Wissenschaft der damaligen Zeit.

Die Kirche dagegen war ganz und gar antiempirisch eingestellt. Sie bestritt den Wert der irdischen Welt und mißtraute den Sinnen aufs gründlichste. Für sie war es zwecklos, nach Gesetzmäßigkeiten hinter den physikalischen Erscheinungen in der Natur zu forschen, da die Welt in jedem Augenblick von Gott neu geschaffen werde. Im Malleuse zitieren Kramer und Sprenger St. Augustin über die Sinnestäuschungen:

Nun aber ist der Wille etwas, das über die Sinne oder den Verstand wahrgenommen wird, die beide der Macht des Teufels unterworfen sind. Denn St. Augustin sagt in Buch 83: ‚Dieses Übel, welches des Teufels ist, schleicht sich auf allen Sinneswegen ein; es läßt sich in Formen nieder, es nimmt Farben an und macht sich an Tönen fest, es lauert in zorniger und ungerechter Rede, es wartet in Gerüchen versteckt, es durchdringt alle Kanäle des Verständnisses mit Düften und füllt sie mit bestimmten Dämpfen.

Die Sinne sind des Teufels Tummelplatz, die Arena, in die er die Menschen vom Glauben weg in die eitlen Vorstellungen des Verstandes und den leeren Wahn der Sinneslust zu locken sucht.

In der Hexenverfolgung trafen die antiempirischen, frauenfeindlichen, antisexuellen Zwangsvorstellungen der Kirche zusammen: Empirie und Sexualität stellen beide die Hingabe des Menschen an die Sinne, also einen Glaubensverrat dar. Die Hexe war eine Frau, und schämte sich dessen nicht. Sie schien einem organisierten Untergrund von Bauersfrauen anzugehören. Und sie war eine Heilkundige, deren Praxis auf empirischer Forschung basierte. Sie setzte dem repressiven Fatalismus der christlichen Kirche ihren unverrückbaren Glauben an die Veränderbarkeit dieser Welt entgegen.

Der Aufstieg des europäischen Ärztestandes

Während die Hexen unter dem einfachen Volk praktizierten, zogen sich die herrschenden Klassen ihre eigenen Vertreter weltlicher Heilkunde heran: die Ärzte mit Universitätsausbildung. Ein Jahrhundert vor dem Beginn des Hexenwahns – im 13. Jahrhundert – setzte sich die europäische Heilkunde als Säkulärwissenschaft und als Beruf durch. Die Mediziner waren aktiv an der Ausschaltung der weiblichen Heilkundigen beteiligt – an ihrer Aussperrung von den Universitäten, zum Beispiel – und zwar lange vor der Zeit der Hexenverfolgung.

Über acht Jahrhunderte hinweg hatte die auf das Jenseits gerichtete Kirchenlehre mit ihrer medizinfeindlichen Gesinnung die Entwicklung der Heilkunde zu einem anerkannten Beruf verhindert. Dann, im 13. Jahrhundert führte der Kontakt mit der Arabischen Welt zu einer Wiederbelebung der Wissenschaften. An den Universitäten entstanden medizinische Fakultäten und immer mehr vermögende junge Herren strebten eine medizinische Ausbildung an.

Die Kirche legte dem Beruf strenge Beschränkungen auf und duldete keine Entwicklung, die sich nicht im Rahmen der katholischen Doktrin bewegte. Studierte Ärzte durften ohne den Rat und die Hilfe eines Priesters keine Behandlung vornehmen, noch einen Patienten behandeln, der die Beichte verweigerte. Um 1400 wurden ihre Dienste von den Reichen bereits stark in Anspruch genommen, immer vorausgesetzt, sie machten stets deutlich, daß sie, wenn sie den Körper behandelten, dabei nicht die Seele gefährdeten. Berichte über ihre medizinische Ausbildung gaben allerdings eher zu der Vermutung Anlaß, daß sie stattdessen den Körper in Gefahr brachten.

Die spätmittelalterliche Medizinausbildung stand in keinem Punkt mit der Kirchendoktrin in Widerspruch; sie beinhaltete wenig, was wir als „Wissenschaft“ bezeichnen würden. Medizinstudenten verbrachten, wie andere angehende junge Gelehrte auch, Jahre mit dem Studium Platos, Aristoteles und der christlichen Theologie. Der medizinisch-theoretische Teil ihrer Ausbildung war weitgehend auf die Werke des altrömischen Arztes Galenus beschränkt, der vor allem die Theorie von den „Charakteren“ und „Temperamenten“ der Menschen propagierte, „wonach die Choleriker jähzornig, die Sanguiniker heiter, die Melancholiker boshaft sind“, usw. Während seiner ganzen Studienzeit bekam der Arzt wohl kaum jemals einen Kranken zu Gesicht und experimenteller Unterricht wurde überhaupt nicht durchgeführt. Man unterschied streng zwischen Medizin und Chirurgie, die fast überall als entwürdigendes, gemeines Handwerk betrachtet wurde, und das Sezieren von Toten galt als etwas Unerhörtes.

Erstmals mit einem Kranken konfrontiert, konnte der studierte Arzt auf wenig, es sei denn auf abergläubische Bräuche zurückgreifen. Der Aderlaß war eine gängige Behandlungsmethode, besonders zur Wundenheilung. Blutegel wurden unter Berücksichtigung von Jahreszeit, Uhrzeit, Luftverhältnissen und dergleichen Erwägungen mehr angesetzt. Die medizinische Theorie gründete sich mehr auf „logische Annahme“ als auf Beobachtung: „Einige Nahrungsmittel förderten gute und andere üble Laune. Kapuzinerkresse, Senf und Knoblauch erzeugten zum Beispiel rötlichen Gallensaft; Linsen Kohl und das Fleisch alter Ziegen oder Rinder erzeugten schwarzen Gallensaft.“ Man glaubte an die Wirksamkeit von Beschwörungen und quasi-religiösen Ritualen: Der Arzt Edwars II., der den Titel eines Bakkalaureus der Theologie und eines Doktors der Medizin der Universität Oxford innehatte, ließ bei Zahnweh auf die Kinnbacken des Patienten schreiben: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen“, oder eine Nadel zuerst an eine Raupe und dann an den Zahn legen. Lepra wurde sehr häufig mit einem Gebräu behandelt, das aus dem Fleisch einer schwarzen Schlange gekocht sein mußte, die auf trockenem Gelände zwischen Steinen gefangen worden war.

Das war der Stand der medizinischen „Wissenschaft“ zu jener Zeit, als die heilkundigen Hexen wegen „Zauberpraktiken“ verfolgt wurden. Hexen waren gerade diejenigen, die ein umfassendes Verständnis für Körperbau, Kräuter und Drogen entwickelten, während die Ärzte ihre Prognosen immer noch mit Hilfe der Astrologie erstellten und die Alchemisten Blei in Gold zu verwandeln suchten. Solch ausgezeichnetes Wissen besaßen die Hexen, daß Paracelsus, der als Vater der modernen Medizin gilt, im Jahr 1527 seine Schrift über die Pharmazeutika mit dem Geständnis verbrannte, er habe „von der Zauberin alles gelernt, was er wisse.“

Die Unterdrückung der heilkundigen Frauen

Nachdem die Heilkunde als Beruf, der ein Universitätsstudium voraussetzte, eingeführt war, konnte man diesen Beruf ohne große Schwierigkeiten für Frauen gesetzlich sperren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Universitäten Frauen verschlossen, sogar den Frauen aus den höheren Schichten, die sich ein Studium finanziell hätten leisten können; es wurden Lizenzgesetze geschaffen, um einzig und allein den studierten Ärzten die Praxis zu gestatten. Es war allerdings unmöglich, diese Gesetze konsequent durchzusetzen, da eine Handvoll studierter Ärzte einer großen Masse von Heilpraktikern gegenüberstand. Aber es konnte auf die Gesetze gezielt zurückgegriffen werden. Ihre erste Zielscheibe waren nicht die bäuerlichen Heilkundigen, sondern die besser gestellten, gebildeten heilkundigen Frauen, die sich um denselben städtischen Patientenkreis wie die studierten Ärzte bemühten.

Man betrachte zum Beispiel den Fall von Jacoba Felicie, die 1322 von der medizinischen Fakultät der Pariser Universität wegen illegaler Berufsausübung vor Gericht gestellt wurde. Jacoba war eine gebildete Frau und hatte eine nicht näher angegebene besondere Ausbildung in Medizin genossen. Ihre Patienten müssen sehr vermögend gewesen sein, denn sie hatten (nach ihren eigenen Zeugenaussagen) namhafte studierte Ärzte konsultiert, ehe sie sich an sie wandten. Die Punkte, auf die sich die Anklage in der Hauptsache stützte, waren

(…) daß sie ihre Patienten von inneren Krankheiten und Entzündungen, sowie von äußeren Abszessen heilte. Sie war stets unermüdlich in ihren Krankenbesuchen, und pflegte nach Art der Ärzte den Urin zu untersuchen, den Puls zu fühlen und Körper und Glieder abzutasten.

Sechs Zeugen bestätigten, daß es Jacoba gelungen wäre, sie zu heilen, obschon zahlreiche Ärzte ihren Fall aufgegeben hatten; ein Patient erklärte, Jacoba sei bewanderter in der Kunst der Chirurgie und der Medizin, als die besten Meisterchirurgen oder Ärzte von ganz Paris. Aber diese Beweise der Anerkennung wurden gegen sie verwandt, denn ihr wurde nicht Inkompetenz vorgeworfen, sondern daß sie – eine Frau – es überhaupt wage, zu heilen.

Mit derselben Argumentation reichten englische Ärzte beim Parlament auch ein Gesuch ein, in dem sie über die „nichtsnutzigen und vermessenen Frauen klagten, die sich den Beruf auszuüben anmaßten“ und hohe Geldbußen und „lange Gefängnishaft“ für jede Frau forderten, die es wagte, „den Beruf des Physikus“ auszuüben. Um 1400 war der Feldzug der Ärzteschaft gegen die städtisch gebildeten Heilpraktikerinnen parktisch in ganz Europa erfolgreich abgeschlossen. Dieser Sieg brachte den männlichen Ärzten die unumstrittene Alleinherrschaft über die medizinische Praxis bei der Oberschicht ein, (mit Ausnahme der Geburtshilfe, die noch drei weitere Jahrhunderte selbst bei den höheren Klassen Domäne der Hebamme blieb). Jetzt waren sie so weit, um eine Schlüsselposition bei der Ausschaltung der breiten Masse der Heilpraktikerinnen – „den Hexen“ – einnehmen zu können.

Das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Kirche, Staat und Ärzteschaft erreichte mit den Hexenprozessen seinen Höhepunkt. Der Arzt wurde hierzu als medizinischer Gutachter eingesetzt und verlieh somit dem ganzen Verfahren einen Anstrich von „Wissenschaftlichkeit“. Man ersuchte ihn um sein fachliches Urteil darüber, ob bestimmte Frauen Hexen und ob gewisse Leiden angehext worden seien. Im Malleus heißt es dazu: „Und auf die Frage, wie es möglich sei, zwischen einer Krankheit, die auf Hexerei und einer, die auf einem physischen Gebrechen beruht, zu unterscheiden, entgegnen wir, daß dafür zuallererst das Urteil des Arztes ausschlaggebend ist“ (Hervorhebung durch die Autorinnen). Während der Hexenjagden erklärte die Kirche die professionelle Medizin der Ärzte ausdrücklich für legitim, während sie die nichtprofessionelle Heilkunst auf die Stufe der Ketzerei abqualifizierte: „Wenn sich eine Frau anmaßt zu heilen, ohne studiert zu haben, ist sie eine Hexe und muß sterben.“ (Natürlich stand Frauen der Weg zum Studium nicht offen). Schließlich lieferte der Hexenwahn dem Arzt auch noch eine willkommene Ausrede für sein Versagen in der täglichen Praxis: Alles, was er nicht zu heilen vermochte, war offensichtlich die Folge von Hexerei.

Die Unterscheidung in „weiblichen“ Aberglauben und „männliche“ Medizin fand ihren endgültigen Niederschlag in der Rollenverteilung von Arzt und Hexe vor Gericht. Der Prozeß stellt den männlichen Arzt auf die Ebene moralischer und intellektueller Erhabenheit, weit über die weibliche Heilkundige, zu deren Verurteilung er berufen war. Dies stellte ihn auf die Seite Gottes und des Gesetzes, ein den Rechtsgelehrten und Theologen gleichgestellter Experte, während sie auf die Seite der Finsternis, des Bösen und der Magie verwiesen wurde. Er verdankte seinen neuen Status nicht eigenen medizinischen oder wissenschaftlichen Leistungen, sondern Kirche und Staat, denen er so gefällig diente.

Das Nachspiel

Zwar führten die Hexenjagden nicht zur totalen Ausmerzung der Heilkundigen der unteren Schichten, doch sie brandmarkten sie auf immer als abergläubisch und möglicherweise bößwillig. So tief standen sie in ihrem Ansehen bei der aufkommenden Mittelschicht, daß den männlichen Ärzten im 17. und 18. Jahrhundert ersthafte Übergriffe auf die letzte Domäne der Heilpraktikerinnen – die Geburtshilfe – gelingen konnten. Nicht studierte männliche Heilpraktiker – die Bader – führten den Angriff in England und beriefen sich dabei auf die technische Überlegenheit, die im Gebrauch der Geburtszange zum Ausdruck kam. (Die Geburtszange glat als chirurgisches Instrument und Frauen war jede chirurgische Tätigkeit gesetzlich verboten). Unter den Händen der Bader gedieh die Geburtshilfe, die bis dahin ein freundschaftlicher Dienst unter Nachbarn war, zu einem lukrativen Geschäft innerhalb des Mittelstandes, auf das sich die ausgebildeten Ärzte dann im 18. Jahrhundert stürzten. Die weiblichen Hebammen in England taten sich zusammen und warfen den männlichen Eindringlingen Geschäftemacherei und gefährlichen Missbrauch der Geburtszange vor. Aber es war bereits zu spät – die Frauen wurden leichthin als ignorante „alte Weiber“ abgetan, die überholten und abergläubischen Vorstellungen aus der Vergangenheit nachhingen.

Die Frauen und der Aufstieg des amerikanischen Ärztestandes

In den USA setzte die männliche Übernahme der medizinischen Praxis später ein als in England oder Frankreich, ging aber letzten Endes viel weiter. Wohl kein anderes Industrieland hat einen so niedrigen Prozentsatz an weiblichen Ärzten wie die USA heute: in England sind es 24%, in Rußland 75%, in den USA nur 7%. Und während die Geburtshilfe als Beruf für Frauen in den skandinavischen Ländern, England, den Niederlanden, etc. bis heute floriert, ist sie hier seit dem frühen 20. Jahrhundert faktisch verboten worden. Ab der Jahrhundertwende war die medizinische Wissenschaft hier allen Frauen verschlossen, abgesehen von einer winzigen Minderheit notgedrungen harter und wohlhabender Frauen. Offen stand nur noch der Beruf der Krankenschwester, bei weitem keine gleichwertige Alternative zu der Unabhängigkeit, die Frauen als Hebammen und Heilpraktikerinnen genossen hatten.

Die Frage, weshalb Frauen aus der Heilkunde verdrängt wurden und auf den Pflegeberufen sitzenblieben, bietet in diesem Zusammenhang weniger Aufschluß als die Frage, wie diese beiden Kategorien überhaupt zustande kamen. Um es anders auszudrücken: Wie konnte es einer bestimmten Gruppe Heilkundiger, männlichen Angehörigen der weißen Mittelschicht gelingen, die gesamte Konkurrenz von Volksärzten, Hebammen und anderen Heilpraktikern auszubooten, die die medizinische Praxis Amerikas im frühen 19. Jahrhundert beherrscht hatte?

Die herkömmliche Erklärung der Medizinhistoriker hierfür lautet natürlich, es habe schon immer einen wahren amerikanischen Ärztestand gegeben, eine kleine Schar von Männern, die das wissenschaftliche Erbe von Hippocrates, Galenus, und den großen europäischen Arztgelehrten direkt verkörperten. In den Grenzgebieten Amerikas, so heißt es, mußten die Ärzte nicht nur den täglichen Kampf gegen Krankheit und Tod durchfechten, sondern außerdem gegen das betrügerische Treiben einer Horde von Heilpraktikern ins Feld ziehen, die gewöhnlich als Frauen, ehemalige Sklaven, Indianer und betrunkene, ambulante Medizinverkäufer beschrieben werden. Zum Vorteil der Medizin entwickelte die amerikanische Öffentlichkeit im späten 19. Jahrhundert urplötzlich einen gesunden Respekt für die wissenschaftliche Gelehrtheit, entwuchs ihrem früheren blinden Glauben an die Quacksalber und verlieh der wahren Ärzteschaft ein Dauermonopol auf die Heilkünste.

Doch den tatsächlichen Sachverhalt erfahren wir aus diesem frei erfundenen Drama von Wissenschaft contra Dummheit und Aberglaube nicht. Die wahre Antwort liegt in der langen Geschichte des Klassen- und Geschlechterkampfes um die Macht in allen Lebensbereichen des 19. Jahrhunderts. Als die Frauen eine feste Position in der Medizin innehatten, handelte es sich noch um eine Volksmedizin. Als diese Wissenschaft des Volkes zerstört war, gab es auch keinen Platz mehr für die Frauen – es sei denn in der dienstbaren Rolle der Pflegerin. Die Heilkundigen, die dann den Ärztestand bildeten, zeichneten sich nicht so sehr durch ihre enge Verbindung zur modernen Wissenschaft, sondern durch ihre Vertrautheit mit der sich gerade etablierenden Geschäftswelt aus. Denn trotz aller Hochachtung vor Pasteur Koch und den anderen großen medizinischen Forschern Europas, muß doch gesagt werden, daß es nicht sie, sondern die Carnegies und Rockefellers waren, die mit ihrem Einschreiten dem amerikanischen Ärztestand zum entscheidenden Durchbruch verhalfen.

Die USA um 1800 boten die denkbar ungünstigsten Voraussetzungen für die Entfaltung eines ‚Ärztestandes‘ oder überhaupt irgendeines Berufsstandes. Nur wenige akademisch ausgebildete Ärzte waren aus Europa eingewandert. Es gab sehr wenige medizinische Hochschulen, überhaupt sehr wenige Anstalten für höhere Bildung. Die Öffentlichkeit, gerade aus einem nationalen Befreiungskrieg gestärkt hervorgegangen, war jeglichem Akademikertum und „ausländischem“ Elitismus feindlich gesonnen.

In Westeuropa besaßen die akademischen Ärzte bereits ein jahrhundertealtes Monopol auf das Recht zu heilen. In Amerika hingegen stand die medizinische Praxis herkömmlicherweise jedem offen, der Fähigkeiten dazu zeigte, ohne lange nach formeller Ausbildung, Rasse oder Geschlecht zu fragen. Ann Hutchinson, eine dissidentische (protestantische Nonkonformistin, Anm. d. Übers.) Religionsführerin des 17. Jahrhunderts, übte den Beruf der „Allgemeinmedizin“ aus, so wie viele andere Geistliche und deren Frauen auch. Der Medizinhistoriker Joseph Kett berichtet: „Einer der angesehensten Mediziner in Windsor, Conneticut, im späten 18. Jahrhundert war zum Beispiel ein freigelassener Neger, der „Dr. Primus“ genannt wurde. In New Jersey lag die Heilpraxis, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, noch bis zum Jahr 1818 hauptsächlich in den Händen von Frauen (…).“

Die Frauen gründeten häufig eine gemeinsame Praxis mit ihren Ehemännern. Dem Mann unterstand die Chirurgie, der Frau die Geburtshilfe und Gynökologie, die übrigen Arbeitsbereiche teilten sie sich. Eine Frau ging vielleicht auch in die Praxis, nachdem sie bei der Pflege eines Familienmitglieds oder in einer Lehre bei einem Verwandten oder einem anderen niedergelassenen Arzt ihre Fähigkeiten geschult hatte. Harriet Hunt zum Beispiel, eine der ersten voll ausgebildeten Ärztinnen Amerikas, begann sich in der Zeit, als ihre Schwester krank war, für Medizin zu interessieren; sie arbeitete daraufhin eine Zeitlang mit einem Ärzteehepaar zusammen, und hängte dann einfach ihr eigenes Schild aus. (Erst später nahm sie dann ihre akademische Ausbildung auf).

Der Arzt tritt auf den Plan

Im frühen 19. Jahrhundert wuchs auch die Zahl der akademisch geschulten Ärzte, die krampfhaft versuchten, sich von der breiten Masse der Heilpraktiker abzuheben. Indessen unterscheiden sich die akademisch geschulten, oder „approbierten“ Ärzte, wie sie sich selbst nannten, nur darin ernstlich, daß sie Männer, gewöhnlich der Mittelschicht zugehörig und fast immer teurer als die Konkurrenz der Heilpraktiker waren. Der Patientenkreis der „Approbierten“ war weitgehend auf Mitglieder der Mittel- und Oberschicht beschränkt, die sich das Prestige leisten konnten, von einem „Herrn“ aus ihrer eigenen Klasse behandelt zu werden. Um 1800 gehörte es für Frauen der Mittel- und Oberschicht sogar zum guten Ton, einen männlichen „approbierten“ Arzt zur Geburtenbetreuung zu wählen – eine Sitte, die vom einfachen Volk als grobe Schamlosigkeit empfunden wurde.

In Bezug auf das ärztliche Geschick oder auf das medizinisch-theoretische Wissen hatten die „Approbierten“ den Heilpraktikern nichts voraus. Selbst nach den damals herrschenden, europäischen Maßstäben galt ihre akademische Ausbildung nur wenig. Die durchschnittliche Länge des Medizinstudiums lag zwischen ein paar Monaten und zwei Jahren; viele medizinische Hochschulen boten keine Möglichkeit zum klinischen Unterricht; ein Schulabschluß war für den Eintritt in die medizinische Fakultät nicht erforderlich. Allerdings wäre mit einer regulären akademischen Ausbildung auch nicht weiter gedient gewesen – es existierte nämlich kein wissenschaftlicher Grundstoff, den man hätte lehren können. Dafür lernten die „Approbierten“, die meisten Krankheiten mit „heroischen“ Methoden zu bekämpfen: massives Bluten, riesige Dosen Laxative, Kalomel (ein Laxativ, das Quecksilber enthält) und später Opium. (Die europäischen Mediziner hatten zu der Zeit auch nichts wesentlich Besseres zu bieten). Fraglos hatten diese „Kuren“ oft den Tod des Patienten zur Folge, oder schadeten seiner Gesundheit mehr als die ursprüngliche Krankheit. Nach Ansicht von Oliver Wendell Holmes, selbst ein namhafter Arzt, wäre es ein ausgesprochenes Glück für die gesamte Menschheit und ein ausgesprochenes Pech für die Fische, wenn alle Medikamente, die die „approbierten“ Ärzte verwenden, ins Meer geworfen würden.

Die Methoden der Heilpraktiker waren zweifellos ungefährlicher und zuverlässiger als die der „Approbierten“. Sie zogen milde Kräuterpräparate, Diätwechsel und „Händchenhalten“ drastischen Eingriffen vor. Obgleich sie vielleicht auch nicht mehr wussten, als die „Approbierten“, waren ihre Methoden zumindest weniger dazu angetan, die Gesundheit ihrer Patienten zu ruinieren. Hätte man sie walten lassen, wären sie wahrscheinlich mit der Zeit sogar beim Mittelstandspatienten an die Stelle des „approbierten“ Arztes getreten. Doch sie kannten nicht die richtigen Leute. Die „Approbierten“ hatten durch ihre engen Verbindungen zur Oberschicht die Legislative in der Hand. Um 1830 hatten 13 Staaten bereits Zulassungsgesetze für Ärzte erlassen, womit die „unakademische“ Praxis verboten und die „Approbierten“ als die einzig rechtmäßigen Mediziner anerkannt wurden.

Das war ein voreiliger Schritt. Der Gedanke an die Begründung eines medizinischen Akademikertums fand bei der breiten Öffentlichkeit keinen Anklang und die Ärzte, die darauf pochten, noch viel weniger. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, die neuen Gesetze durchzuführen: Die Vertrauensärzte des einfachen Volkes konnten auch durch gesetzliche Maßnahmen nicht so ohne weiteres ihres Amtes enthoben werden. Es kam sogar noch schlimmer für die „Approbierten“: dieser verfrühte Griff nach der medizinischen Monopolherrschaft führte zu organisierter Massenauflehnung, zur Bildung der radikalen Volksgesundheitsbewegung, der es fast gelang, das Elitetum in der amerikanischen Medizin ein für allemal auszurotten.

Die Volksgesundheitsbewegung

Die Volksgesundheitsbewegung der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts wird in der herkömmlichen Medizingeschichte gewöhnlich als der Gipfel des Quacksalberunwesens und des medizinischen Kultismus abgetan. In Wahrheit bildete sie die medizinische Front einer allgemeinen sozialen Auflehnung, die von der feministischen und den Arbeiterbewegungen ausgelöst worden war. Das Rückgrat der Volksgesundheitsbewegung waren die Frauen. Unseren „Self-help-Gruppen“ entsprechende „Physiologische Frauenvereinigungen“ schossen überall aus dem Boden. Sie brachten die einfachen Grundbegriffe der Anatomie und Körperpflege an die Öffentlichkeit und fanden begeisterten Anklang. Im Vordergrund stand bei ihnen als Alternative zu den mörderischen „Kuren“, die die „approbierten“ Ärzte betrieben, die vorbeugende Pflege. Die Bewegung propagierte häufiges Baden (was von vielen „approbierten“ Ärzten der damaligen Zeit als Unsitte betrachtet wurde), lose Kleidung für Frauen, ganzkörniges Getreide, Mäßigkeit beim Essen und Trinken und eine Menge anderer Dinge, auf die sich Frauen beziehen konnten. Und ungefähr zu der Zeit, als Margaret Sangers Mutter ein kleines Mädchen war, verfochten einige Elemente der Bewegung bereits die Geburtenkontrolle.

Die Bewegung stellte einen radikalen Angriff auf das medizinische Establishment dar, und eine Bestätigung der traditionellen Volksmedizin. „Jedermann sein eigener Doktor“ hieß das Motto eines Flügels der Bewegung, und man ließ keinen Zweifel daran, daß man auch jede Frau meinte. Die „approbierten“, zugelassenen Ärzte wurden als Mitglieder der „parasitären unproduktiven Klassen“ angegriffen, die nur überleben konnte, weil die Oberschicht eine „wilde Vorliebe“ für Kalomel und Aderlaß hatten. Die Universitäten (wo die Elite der approbierten Ärzte ausgebildet wurde) wurden öffentlich als Stätten kritisiert, wo den Studenten „beigebracht wird, körperliche Arbeit als dumm und erniedrigend zu verachten“, und wo sie lernten, sich mit der Oberschicht zu identifizieren. Radikale Arbeiter schlossen sich der Bewegung an und bezeichneten das „Königs-, Priester-, Juristen- und Arztgewerbe“ als die vier größten Übel der Zeit. Im Staat New York wurde die Bewegung durch ein Mitglied der „Arbeiterpartei“ bei der Legislative vertreten, der keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, um die „privilegierten Ärzte“ anzugreifen.

Die approbierten Ärzte sahen sich bald in der Minderheit und in die Enge getrieben. Aus dem linken Flügel der Volksgesundheitsbewegung kam die Auffassung, daß das „Kurieren“, als bezahlte Tätigkeit, zumal aber als überbezahlter „Beruf“, grundsätzlich abzulehnen sei. Aus dem gemäßigten Flügel gingen eine Menge neuer medizinisch-philosophischer Richtungen hervor, die gegen die „Akademiker“ mit ihren eigenen Termini in Konkurrenz traten: Der Elektizismus, der Grahamismus, die Homöopathie und viele andere weniger bedeutende Richtungen. Die neuen Sekten gründeten ihre eigenen medizinischen Schulen (bei denen vor allem die vorbeugende Pflege und die milden Kräuterheilmittel im Mittelpunkt standen), und begannen ihre eigenen Ärzte auszubilden. Innerhalb dieses gärenden Aufruhrs in der Medizin wirkten die alten „Approbierten“ allmählich wie jede x-beliebige Sekte, eine Sekte, deren spezielle Philosophie eben zufällig eine Tendenz zu Kalomel, Aderlaß und den anderen Hilfsmitteln der „heroischen“ Medizin kennzeichnete. Man konnte unmöglich sagen, wer nun die „richtigen“ Ärzte waren, und um 1840 waren die Zulassungsgesetze für Ärzte in nahezu allen Staaten wieder aufgehoben. Der Höhepunkt der Volksgesundheitsbewegung fiel zeitlich mit den Anfängen der organisierten Frauenbewegung zusammen, und beide waren so eng miteinander verbunden, daß sich schwerlich sagen läßt, wo die eine begann und die andere aufhörte. „Dieser Kreuzzug für das Gesundheitswohl der Frauen (so die Volksgesundheitsbewegung) hing in beidem – Ursache und Wirkung – mit der Forderung nach mehr Rechten für die Frau insgesamt zusammen, und die Gesundheitsbewegung und die Frauenbewegung sind an diesem Punkt nicht mehr voneinander zu trennen“ schreibt der berühmte Medizinhistoriker Richard Shyrock. Die Gesundheitsbewegung befaßte sich allgemein mit den Rechten der Frau, und die Frauenbewegung setzte sich wiederum insbesondere für die Gesundheitspflege und die Öffnung des Medizinstudiums für Frauen ein.

Tatsächlich nutzten die Führer beider Gruppen die herrschenden Geschlechter-Klischees als Argumente dafür, daß Frauen sogar bessere Voraussetzungen zum Arztberuf mitbrächten als Männer. „Wir müssen zugeben, daß die Frauen die größere Kapazität für die Wissenschaft der Medizin besitzen“, schrieb Samuel Thompsom, ein Führer der Gesundheitsbewegung im Jahr 1834. (Er fand jedoch, daß die Chirurgie und die Betreuung männlicher Patienten den männlichen Ärzten vorbehalten sein sollte). Feministinnen, wie Sarah Hale gingen weiter: im Jahr 1852 eiferte sie: „Sagt bloß, daß diese (die Medizin) ein dem Mann genau entsprechendes Gebiet, und nur seines sei! Dann können wir mit zehnmal mehr Recht und Billigkeit behaupten, daß sie ein genau der Frau angemessenes Gebiet, und ihres allein sei.“

Tatsächlich öffneten die neuen medizinischen Hochschulen den Frauen ihre Tore, zu einer Zeit, als ihnen die Zulassung zum akademischen Medizinstudium absolut verwehrt wurde. Hurriet Hunt wurde zum Beispiel beim Harvard College abgelehnt, und begann ihre ordentliche Ausbildung stattdessen an einer Sektenhochschule. (Eigentlich hatte der Lehrkörper von Harvard mehrstimmig beschlossen sie und eingie schwarze männliche Studenten aufzunehmen, doch die Studenten drohten mit einem Krawall, falls sie kämen.) Die „approbierten“ Ärzte konnten sich rühmen, Elisabeth Blackwell, die erste weibliche „Approbierte“ in Amerika ausgebildet zu haben. Aber ihre Alma Mater (eine kleine Hochschule im New Yorker Hinterland) erließ ganz schnell einen Beschluß, der den Zutritt weiterer Studentinnen untersagte. Die erste gemischte Medizinhochschule war das „irreguläre“ eklektische Central Medical College in New York, Syracuse. Die ersten beiden reinen Frauenhochschulen für Medizin schließlich, von denen sich eine in Boston, die andere in Philadelphia befand, waren ebenfalls „irregulär“.

Feministische Forscherinnen sollten unbedingt weiter Tatsachen über die Volksgesundheitsbewegung herausfinden. Dem Stand unserer jetzigen Bewegung entspricht sie wahrscheinlich mehr als die Frauenstimmrechtsbewegung. Uns reizen an der Bewegung besonders folgende Aspekte: 1. daß sie zugleich Klassenkampf und feministischer Kampf war. Heute gehört es in einigen Kreisen zum guten Ton, reine Frauenfragen als Mittelschichtsinteressen abzuschreiben. Doch in der Volksgesundheitsbewegung sehen wir eine Vereinigung feministischer und proletarischer Energien. Lag das daran, daß die Volksgesundheitsbewegung automatisch Systemkritiker aller Art anzog oder gab es eine andere Übereinstimmung in den Zielen? 2. Die Volksgesundheitsbewegung war nicht bloß eine Vereinigung für eine intensivere und bessere, sondern für eine gänzlich neue Art der Gesundheitsfürsorge: Sie bildete einen radikalen Angriff auf die herrschende medizinische Lehre in Praxis und Theorie. Heute neigen wir dazu, unsere Kritik rein auf die Organisation der Gesundheitsfürsorge zu beschränken und setzen damit voraus, daß die Medizin in ihrer wissenschaftlichen Substanz unangreifbar sei. Auch wir wollen die medizinische „Wissenschaft“ kritisch betrachten lernen – zumindest insoweit sie Frauen betrifft.

Die Ärzte in der Offensive

In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Volksgesundheitsbewegung auf ihrem Höhepunkt stand, hielt sie die „approbierten“ Ärzte, die Vorfahren unserer heutigen Ärzte, in Schrecken. Im späteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, als ihr volkstümlicher Charakter allmählich dahinsank und die Bewegung zu einer Gruppe miteinander konkurrierender Sekten degenerierte, gingen die „Approbierten“ wieder zum Angriff über. Im Jahr 1848 gründeten sie ihre erste nationale Organisation und nannten sie großspurig „Amerikanischen Ärzteverband“ (AMA). Regionale und staatliche Verbände, son denen sich viele während des Höhepunktes der medizinischen Anarchie in den dreißiger und vierziger Jahren praktisch aufgelöst hatten, begannen sich wieder zu formieren.

Über die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinweg attackierten die „Approbierten“ schonungslos Heilpraktiker, Sektenärzte und die Heilpraktikerinnen insgesamt. Die Angriffe waren gekoppelt: die weiblichen Ärzte konnten wegen ihrer sektiererischen Tendenzen angegriffen werden; die Sekten wegen ihrer Aufgeschlossenheit Frauen gegenüber. Die gegen die Ärztinnen angeführten Argumente reichten vom väterlich-fürsorglichen (eine achtbare Frau kann sich doch nicht nachts zu einem ärztlichen Notfall wagen) bis zu knallharten, sexistischen Einwänden. In seiner Präsidentschaftsrede an die AMA 1871 sagte Dr. Alfred Stille:

Gewisse Frauen trachten danach, den Männern in männlichen Sportarten den Rang streitig zu machen (…) und die Verbohrtesten unter ihnen äffen sie in allen Dingen nach, sogar in der Kleidung. Damit mögen sie zwar so etwas wie Staunen erwecken, wie sie jedes absurde Produkt hervorruft, besonders wenn es einen ihm überlegenen Typus zum Vorbild hat.

Die Schärfe sexistischen Widerstands gegen Frauen in Amerika hat in Europa keine Parallele gefunden. Dies wahrscheinlich, weil erstens weniger europäische Frauen zu dieser Zeit den Arztberuf anstrebten. Zweitens, die Frauenbewegung nirgends so stark war wie in den USA, und die Ärzte hier das Eindringen von Frauen in das Gebiet der Medizin zu Recht mit organisiertem Feminismus in Verbindung brachten. Und drittens, die europäische Ärzteschaft bereits fester im Sattel saß und deswegen auch eine Konkurrenz weniger fürchtete.

In den seltenen Fällen, wo einer Frau die Zulassung an eine „akademische“ Fakultät gelungen war, schob sich ihr dort ein sexistisches Vorurteil übers andere in den Weg. Erstens einmal wurde sie ständig – oft auf obszöne Weise – von ihren Mitstudenten belästigt. Dann gab es Professoren, die es ablehnten, Anatomie in Gegenwart einer Dame zu erörtern, und Lehrbücher, wie eine bekannte Ausgabe von 1848 zur Geburtshilfe, in denen behauptet wird: „Sie (die Frau) hat einen Verstand, der praktisch zu klein zum Denken, aber gerade groß genug für die Liebe ist.“ Es gab angesehene gynäkologische Theorien über die schädlichen Auswirkungen geistiger Tätigkeit auf die weiblichen Fortpflanzungsorgane.

Hatte sie ihr Studium endlich hinter sich gebracht, fand die angehende Ärztin in der Regel ihren weiteren Berufsweg versperrt. Krankenhäuser ließen Ärztinnen gewöhnlich nicht zu, falls doch, so stand ihr als Frau zumindest keine Assistentenstelle zu. Wenn sie es schließlich doch noch zu einer Praxis brachte, mußte sie feststellen, daß ihre „approbierten“ Kollegen nicht gewillt waren, Patienten an sie zu verweisen und sich rigoros ihrem Beitritt in die Ärzteverbände widersetzten.

Um so verwunderlicher und um so trauriger mutet es uns an, daß die Bewegung, die wir als „Frauengesundheitsbewegung“ bezeichnen könnten, im späten 19. Jahrhundert von ihrer Vergangenheit in der Volksgesundheitsbewegung abzurücken und an ihrem öffentlichen Ansehen zu arbeiten begann.

Die Mitglieder der „irregulären“ Sekten wurden von den Fakultäten der Frauenhochschulen für Medizin verwiesen. Führende Ärztinnen, wie Elisabeth Blackwell, schlossen sich den „approbierten“ Ärzten in der Forderung nach einem Ende der Laiengeburtshilfe, und einer „abgeschlossenen medizinischen Ausbildung“ für alle Geburtshelfer an. Dies alles zu einer Zeit, als die „Approbierten“ den Sektenärzten oder Heilpraktikern nur wenig oder gar nichts voraus hatten.

Das lag vermutlich daran, daß die meisten Frauen, für die damals eine formelle medizinische Ausbildung in Frage kam, aus der Mittelschicht stammten. Ihnen mochte es leichter fallen, sich mit den mittelständischen „approbierten“ Ärzten zu identifizieren, als mit den Heilpraktikerinnen aus den Unterschichten oder mit den Ärztegruppen der Sekten (die ja vormals den radikalen Bewegungen zugeordnet worden waren). Dieser Gesinnungswechsel fiel um so leichter, als Heilpraktikerinnen in den Städten mit wachsender Häufigkeit Einwanderinnen waren. (Zur selben Zeit schwanden auch die Aussichten, daß jemals eine von Frauen aus allen sozialen Schichten getragene Frauenbewegung über auch nur irgendein Thema zustande kommen könnte, da die Frauen aus der Arbeiterklasse in die Fabriken gingen und die Mittelstandsfrauen sich auf das Dasein als Viktorianische Lady zurückzogen). Aus welchen Gründen auch immer, es ergab sich jedenfalls, daß die Frauen der Mittelschicht den Frontalangriff auf die männliche Medizin aufgegeben hatten, und die Bedingungen akzeptierten, die die aufsteigende männliche Ärzteschaft setzte.

Der Triumph des „professionellen“ Arztes

Die „Approbierten“ waren noch keineswegs in der Lage, einen erneuten Griff nach dem medizinischen Monopol zu wagen. Zum einen konnten sie immer noch nicht von sich behaupten, über irgendwelche allein wirksamen Methoden oder über nennenswertes Grundwissen zu verfügen. Zum anderen gelangt keine Berufsgruppe allein auf Grund technischer Überlegenheit zu einer Monopolstellung. Ein anerkannter Berufsstand ist nicht bloß eine Gruppe selbsternannter Experten; er stellt eine Gruppe dar, die die gesetzlich verankerte Machtbefugnis besitzt, ihre Mitglieder selbst auszuwählen und über ihre Praxis zu bestimmen, das heißt, einen abgegrenzten Raum ohne Einmischung von außen zu beherrschen. Wie kommt eine spezielle Berufsgruppe in den Status eines Berufsstandes? Der Soziologe Elliot Freidson schreibt:

Ein Berufsstand erreicht und erhält seinen Status dank der Schutz- und Schirmherrschaft einer Eliteschicht der Gesellschaft, die davon überzeugt worden ist, daß in seiner Arbeit ein besonderer Wert steckt.

Mit anderen Worten, die Berufsstände sind die Erfindung einer herrschenden Klasse. Um der Ärztestand zu werden, bedurften die „approbierten“ Ärzte vor allem der Schirmherrschaft der herrschenden Klasse.

Ein glücklicher Zufall für die „Approbierten“ fügte es, daß ihnen Wissenschaft und Protektion – beide nahezu gleichzeitig – um die Jahrhundertwende zufielen. Die Entdeckung der Bakterien als Krankheitserreger durch französische und besonders deutsche Forscher bot zum ersten mal in der Geschichte der Menschheit eine vernünftige Basis zur Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten. Während die am laufenden Band produzierte Dutzendware von amerikanischen Ärzten immer noch etwas über „Temperamente“ daherfaselten und den Leuten Kalomel verabreichten, reiste eine winzige Ärzteelite an die deutschen Universitäten, um die neue Wissenschaft zu erlernen. Von Reformeifer beseelt, kehrten sie in die USA zurück. Im Jahr 1893 gründeten in Deutschland ausgebildete Ärzte, die von lokalen Philantropen finanzierte erste amerikanische Medizinhochschule nach deutschem Muster, die John Hopkins Universität. Das wesentlich Neue am Lehrplan der Hopkinsschule war die Einbeziehung von Laborarbeit in die grundlegenden Wissenschaften mit einer dazugehörigen, erweiterten klinischen Ausbildung. Zu den weiteren Reformen zählten u.a. die Einstellung eines festen Lehrkörpers, die Förderung von Forschungsarbeit, und der enge Anschluß der medizinischen Fakultät an eine echte Universität. John Hopkins führte auch das moderne Modell des medizinischen Bildungswegs ein – vier Jahre Medizinstudium nach vier Jahren Collegebildung – was natürlich den meisten Arbeitern und armen Leuten ein Medizinstudium von vornherein unmöglich machte.

Mittlerweile stiegen die USA zur führenden Industrienation der Welt auf. Vermögen auf Öl, Kohle und die rücksichtslose Ausbeutung des amerikanischen Arbeiters gebaut, wuchsen zu Finanzimperien heran. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte war das Gesellschaftsvermögen in ausreichendem Maße konzentriert, um eine gewaltige, organisierte Philantropie zu ermöglichen, was das organisierte Eingreifen der herrschenden Klasse in das soziale, kulturelle und politische Leben der Nation bedeutete. Als Dauereinrichtungen für diese Eingriffe wurden Stiftungen ins Leben gerufen – die Rockefeller und Carnegie-Stiftung wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gegründet. Als einer der ersten und dringendsten Punkte war auf ihrem Programm die „Reform“ der Medizin verzeichnet, die Schaffung eines respektablen wissenschaftlich qualifizierten amerikanischen Ärztestandes.

Die Stiftungen wählten (wie sollte es auch anders sein), die medizinische Elite unter den „approbierten“ Ärzten aus, um sie mit ihrem Geld zu unterstützen. (Viele dieser Herren gehörten selbst den herrschenden Klassen an, und alle hatten einen urbanen akademischen Hintergrund). Ab 1903 floß Stiftungsgeld zu Millionen an medizinische Hochschulen. Die Bedingungen waren klar formuliert: Anpassung an das Hopkins Modell oder Schließung. Um das weiterin und allenthalben klarzustellen, schickte die Carnegie-Corporation einen ihrer Mitarbeiter, Abraham Flexner, auf eine nationale Besichtigungstour der Medizinfachschulen, und zwar angefangen von Harvard bis ganz hinunter zur allerletzten drittklassigen Berufsschule. Flexner entschied nahezu allein, welche Schulen das Geld bekommen – und folglich überleben würden.

Den größeren und besseren Schulen (das heißt jenen, die schon über ausreichende Geldmittel verfügten und damit die ausbedungenen Reformen eingeführt hatten) winkten fette Zuschüsse aus der Stiftungskasse. Harvard war einer der glücklichen Gewinner und sein Präsident konnte 1907 selbstgefällig sagen: „Meine Herren, die beste Methode an Zuschüsse für die Medizin zu kommen ist, einfach die medizinische Ausbildungssituation zu verbessern.“ Was die kleineren und ärmeren Schulen angeht, worunter die meisten Sektenschulen und die Ausbildungsstätten für Schwarze und Frauen fielen, so befand sie Flexner nicht der Rettung wert. Ihnen blieb keine andere Wahl als zu schließen, wenn sie sich nicht der öffentlichen Denunzierung in dem Bericht aussetzen wollten, den Flexner in Vorbereitung hatte.

Der 1910 veröffentlichte Flexner-Report war das Ultimatum der Stiftungen an die amerikanische Medizin. Er zog unmittelbar eine Massenschließung von Medizinfachschulen nach sich, darunter sechs von den acht schwarzen Medizinhochschulen Amerikas und die Mehrzahl der „irregulären“ Schulen, die eine Freistätte für Studentinnen gewesen waren. Die Medizin wurde ein für allemal zu einem Zweig der „höheren“ Bildung gemacht, der ein langes und teures Universitätsstudium erforderte. Es ist sicherlich richtig, daß mit der zunehmenden Entwicklung der medizinischen Wissenschaft auch ein ausgedehntes Studium notwendig wurde. Doch lag es überhaupt nicht in der Absicht Flexners und der Stiftungen, ein solches Studium der breiten Masse der Heilpraktiker und „irregulären“ Ärzte zugänglich zu machen. Ganz im Gegenteil, man schlug vor den Schwarzen, der Mehrzahl der Frauen und den armen weißen Männern alle Türen zu. (Flexner jammerte in seinem Bericht, daß jeder dahergelaufene „ungehobelte Kerl oder liederliche Büroangestellte“ Medizin studieren dürfe). Die Medizin war zu einem Gewerbe der männlichen weißen Mittelschicht geworden.

Aber sie war nun mehr als ein Gewerbe. Sie war endlich doch noch zum Beruf aufgestiegen. Genauer gesagt, bildete eine Gruppe Heilkundiger, nämlich die „approbierten“ Ärzte, nun den Ärztestand. Ihr Erfolg gründete sich nicht auf irgendwelche Fähigkeiten ihrerseits: der „approbierte“ Dutzendarzt erwarb mit der Veröffentlichung des Flexnerreports nicht urplötzlich wissenschaftlichen Einblick in die Medizin. Sie verlieh ihm allerdings den mythischen Glanz der Wissenschaft. Was schadete es schon, wenn seine eigene Alma Mater im Flexnerreport verrissen worden war; er war schließlich ein Mitglied der AMA und die gehörte ja zur Avantgarde in der Wissenschaftsreform. Der Doktor war – dank einiger ausländischer Wissenschaftler und Stiftungen von der Ostküste – zum „Mann der Wissenschaft“ arriviert: über jede Kritik, jegliche Vorschriften erhaben, beinahe unerreichbar, jenseits jeglicher Konkurrenz.

Das Verbot der Hebammen

In einem Staat nach dem anderen besiegelten neue, harte Berufsgesetze das Monopol des Arztes über die medizinische Praxis. Es galt nur noch, die letzten heimlichen Träger der alten Volksmedizin zu vertreiben – die Hebammen. Im Jahr 1910 leisteten die Hebammen noch bei 50% aller Entbindungen Geburtshilfe – die meisten waren schwarze Frauen oder Einwanderinnen der Arbeiterklasse. Das war den im Aufstieg begriffenen Fachärzten für Geburtenhilfe unerträglich: Erstens ging mit jeder armen Frau, die zu einer Hebamme lief, der akademischen Wissenschaft ein Objekt für Unterricht und Forschungszwecke verloren. Amerikas Riesenvermögen an proletarischem Anschauungsmaterial für Geburtshelfer wurde an ignorante Hebammen verschwendet. Zudem gaben die armen Frauen schätzungsweise fünf Millionen Dollar jährlich an die Hebammen aus – fünf Millionen, die ebenso gut an die „professionellen“ Ärzte hätten wandern können. Vor der Öffentlichkeit allerdings richteten die Geburtshelfer das Schnellfeuer ihrer Angriffe im Namen von Wissenschaft und Reform auf die Hebammen. Die Hebammen wurden als „hoffnungslos dreckig, dumm und unfähig“ geschmäht. Man machte sie insbesondere für die Überhandnahme der Puerpalsepsis (Kinderbettfieber – eine Uterusinfektion) verantwortlich, sowie für die Neontale Ophtamie (Blindheit beim Neugeborenen, verursacht durch eine elterliche Gonorrhöe-Infektion [Gonorrhöe = Tripper]. Beiden Krankheiten konnte durch einfache Praktiken vorgebeugt werden, die selbst die ungebildetste Hebamme sich mühelos hätte aneignen können (Händewaschen gegen puerpale Sepsis und Augentropfen gegen Ophthalmie). Wären die Geburtshelfer tatsächlich um das Gemeinwohl besorgt gewesen, dann hätten sie also das Nächstliegende getan, nämlich die Masse der Hebammen mit den angemessenen Vorbeugemaßnahmen bekannt und vertraut zu machen. Das geschah jedenfalls in England, Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern: Die Hebammentätigkeit stieg mit der offiziellen Ausbildung zu einem höher gestellten, etablierten, unabhängigen Gewerbe auf. Doch den amerikanischen Geburtshelfern ging es nicht wirklich um eine bessere Geburtenbetreuung. Eine Untersuchung von John Hopkins Professoren aus dem Jahr 1912 weist nach, daß die meisten amerikanischen Ärzte weniger taugen als die Hebammen. Nicht nur, daß gerade die Ärzte selbst die angrebachten Vorbeugemaßregeln gegen Sepsis und Ophtahlmie vernachlässigten, sie übten sich auch allzu gern und rasch in den chirurgischen Künsten, was Mutter und Kind gefährdete. Wenn schon, dann hätte also den Hebammen von Rechts wegen ein medizinisches Monopol zugestanden, und nicht den Doktor meds. Aber die Ärzte besaßen die Macht, die Hebammen nicht. Ein Staat nach dem anderen verabschiedete unter dem entschiedenen Druck der Ärzteschaft Gesetze, die den Hebammen die geburtshilfliche Praxis untersagte und ganz auf die Ärzte beschränkte. Für die Armen und die Arbeiterfrauen bedeutete das in jedem Fall schlechtere – oder gar keine – Geburtshilfe. (Eine Untersuchung der Säuglingssterblichkeit in Washington zum Beispiel zeigte einen Anstieg der Säglingssterblichkeit in den Jahren unmittelbar nach Inkrafttreten der Gesetze, die den Hebammen die Praxis verboten). Für die neue männliche Ärzteschaft bedeutete das Berufsverbot der Hebammen eine Wettbewerbsquelle weniger. Die letzte feste Bastion der Frauen als unabhängige Heilpraktikerinnen war eingenommen.

Die Dame mit dem Nachtlicht

Der einzige Bereich im Gesundheitswesen, den man Frauen überließ, war die Pflege. Die Krankenpflege war nicht immer ein bezahlter Beruf gewesen; dieser mußte erst geschaffen werden. Im frühen 19. Jahrhundert verstand man unter einer Pflegerin einfach eine Frau, die zufällig gerade jemanden pflegte – ein krankes Kind oder einen alternden Verwandten. Es gab Hospitäler, und diese beschäftigten in der Tat Krankenwärterinnen. Doch die damaligen Hospitäler dienten weitgehend nur als Asyl für die sterbenden Armen, wo nur mehr dem Anschein nach gepflegt wurde. Die Krankenwärterinnen waren – so heißt es zumindest – ein verruchtes Pack von Weibspersonen, die allesamt dem Trinken, Stehlen und der Prostitution ergeben waren. Zudem herrschten in den Hospitälern oft skandalöse Zustände. Als ein Untersuchungskomitee Ende 1870 das New Yorker Bellevue Krankenhaus inspizierte, konnte sie im ganzen Anstaltsgebäude auch nicht ein einziges Stück Seife finden. Obschon die Krankenpflege als Betätigungsbereich kaum Anreiz bot, war sie ein lohnendes Wirkungsfeld für Reformerinnen. Um die Krankenhauspflege zu verbessern, mußte zuerst die Krankenpflege reformiert werden, und um die Krankenpflege für Ärzte und „unbescholtene“ Frauen geeignet zu machen, mußte ihr ein vollkommen neues Berufsbild verliehen werden. Florence Nightingale errang ihren verdienten Erfolg in den Frontlazaretten des Krimkriegs, wo sie die alten Truppen-„Schwestern“ durch eine Schar disziplinierter, nüchterner Frauen mittleren Alters ablösen ließ.

Dorothea Dix, eine amerikanische Krankenhausreformerin, führte den neuen Schwesterntyp erstmals in den Unionslazaretten des Bürgerkriegs ein. Das neue Schwesternbild – „die Dame mit dem Licht“, die selbstlos und aufopfernd die Verwundeten pflegt – schlug in der Öffentlichkeit ein. Richtige Schwesternschulen entstanden in England direkt nach dem Krimkrieg und in den USA unmittelbar nach dem Bürgerkrieg.

Im Zuge der steigenden Ansprüche in der medizinischen Ausbildung begann auch die Zahl der Krankenhäuser zu wachsen. Denn die Medizinstudenten brauchten Krankenhäuser als Übungsstätten; gute Krankenhäuser brauchten, wie die Ärzte bald erkannten, gutes Pflegepersonal.

Die ersten Schwesternschulen gaben sich tatsächlich alle erdenkliche Mühe, um echte Oberschichtsfrauen als Schülerinnen zu gewinnen.

Miss Euphemis van Rensselear, Sprössling einer alten New Yorker Adelsfamilie, zierte Bellevues erste Klasse. Und bei John Hopkins, wo Isabel Hampton im Universitätskrankenhaus Schwestern ausbildete, konnte ein leitender Arzt nur klagen:

Fräulein Hampton hat zwar mit glänzendem Erfolg Frauen in der Gesellschaft als Lernschwestern geködert, doch bedauerlicherweise geht sie bei der Auswahl rein nach dem Schönheitsprinzip vor, und die Belegschaft des Hauses befindet sich mittlerweile in einem traurigen Zustand.

Lasst uns die Frauen, die den Schwesternberuf schufen, einmal näher betrachten, denn der Pflegeberuf, so wie wir ihn heute kennen, ist in gewisser Hinsicht ein Produkt ihrer Unterdrückung als viktorianische Oberschichtsfrauen.

Dorothea Dix war Erbin eines beträchtlichen Vermögens. Florence Nightingale und Louisa Schuyler (die als treibende Kraft hinter der Bildung der ersten amerikanischen Schwesternschule im Nightingalestil stand) waren echte Aristokratinnen. Sie waren dem müßigen Leben, zu dem sie als viktorianische Damen verurteilt waren, entflohen. Dix und Nightingale beschritten ihre Reformlaufbahn erst, als sie bereits in ihren Dreißigern waren und sich ihnen die Aussicht auf ein langes, unnützes Altjungferndasein stellte. Sie konzentrierten sich auf die Krankenbetreuung, weil das ein „natürliches“ und statthaftes Interesse für Damen ihres Standes war. Die Nightingale und ihre unmittelbaren Schülerinnen haben den Pflegeberuf unausweichlich mit dem Geist ihrer Klasse geprägt. Die Ausbildung galt vor allem der Schulung des Charakters und nicht des Könnens. Die Früchte dieser Erziehung, die Nightingaleschwester, war ganz schlicht die vollendete Frau, die vom Haus ins Krankenhaus verpflanzt und vom Gebärzwang freigesprochen worden war. Dem Arzt schenkte sie die weibliche Tugend absoluten Gehorsams. Dem Patienten schenkte sie die aufopfernde Liebe der Mutter. Für das unter ihr stehende Krankenhauspersonal brachte sie die feste, aber gütige Hand einer Hauswirtschafterin mit, die im Umgang mit Dienstpersonal geübt ist.

Doch ungeachtet des zauberhaft schönen Bildes der „Dame mit dem Licht“ war der Pflegeberuf zum größten Teil nichts weiter als schlecht bezahlte, schwerste Hausarbeit. Schon bald zogen die Schwesternschulen nur mehr Frauen aus der Arbeiter- und der unteren Mittelschicht an, denen sich ansonsten keine andere Alternative bot, als Fabrik- oder Büroarbeit. Aber die Ethik in der Schwesternausbildung änderte sich deswegen nicht – schließlich kamen doch die Ausbilderinnen immer noch aus der Mittel- und Oberschicht. Im Gegenteil, man beharrte eher noch nachdrücklicher auf der vornehmen Charakterbildung.

Und so wurde die Sozialisierung der Krankenschwester zu dem, was sie das ganze 20. Jahrhundert über bis jetzt geblieben ist, die Auferlegung kultureller Werte der oberen Klassen auf Frauen der Arbeiterklasse. (Zum Beispiel wurden die meisten Schwesternschülerinnen noch bis vor kurzem in solchen Gesundheitstugenden wie graziöses Teeeingießen und Kunstbetrachtung unterrichtet. Den praktischen Schwestern wird heute noch beigebracht, Hüfthalter zu tragen, Make-up zu benutzen, und überhaupt alles in allem eine Frau der besseren Gesellschaft zu mimen).

Doch die Nightingaleschwester stellte nicht nur das auf die Arbeiterwelt übertragene Bild einer Frau der besseren Gesellschaft dar. Sie verkörperte das Weiblichkeitsbild der viktorianischen, sexistischen Gesellschaft schlechthin. Die Schöpferinnen des Pflegeberufs faßten ihn als natürliche Berufung der Frau, gleich nach der Mutterschaft, auf.

Als eine Gruppe englischer Schwestern beantragte, den Pflegeberuf nach dem Vorbild des Arztberufs mit Examen und Zulassung zu gestalten, erwiderte die Nightingale: „Schwestern können ebensowenig autorisiert und examiniert werden wie Mütter.“ Oder, wie sich ein Historiker der Krankenpflege fast ein Jahrhundert später faßte: „Die Frau ist eine instinktive Schwester, von Mutter Natur selbst unterwiesen.“ (Victor Robinson, M.D. White Caps, The Story of Nursing).

Obschon die Frauen naturbegabte Schwestern sein sollten, waren sie nach Auffassung von Nightingale keine naturbegabten Ärzte. Sie schrieb über die wenigen Ärztinnen ihrer Zeit:

Sie haben nichts weiter versucht als Männer zu sein, und sie schafften es nur, drittklassige Männer zu werden.

Tatsächlich ging mit der wachsenden Zahl der Schwesternschülerinnen im späten 19. Jahrhundert die Zahl der Medizinstudentinnen allmählich zurück. Die Frau hatte ihren Platz im Gefüge des Gesundheitswesens gefunden. Ebensowenig wie die Frauenbewegung sich gegen den Aufstieg des medizinischen Professionalismus gestellt hatte, stellte sie die Krankenpflege als unterdrückende weibliche Tätigkeit in Frage.

Tatsächlich begannen die Feministinnen des späten 19. Jahrhunderts, das Schwestern-Mutterbild als Weiblichkeitsidol zu feiern. Die amerikanische Frauenbewegung hatte den Kampf um die volle sexuelle Gleichberechtigung aufgegeben, um sich ganz dem Stimmrecht zu widmen, und um es zu gewinnen, scheuten sie sich nicht, die sexistischen Lehrsätze der viktorianischen Ideologie zu übernehmen: „Frauen brauchen das Stimmrecht, nicht als Menschen, sondern als Mütter“ – so argumentierten sie. „Die Frau ist die Mutter des Volkes“, schwärmte die Bostoner Feministin Julie Ward Howe, „die Hüterin seiner hilflosen Kindheit, seine erste Lehrmeisterin, seine glühendste Verteidigerin. Die Frau ist auch die Hüterin des Heims, ihr obliegen die kleinen Dinge, die das Familienleben segnen und verschönern“ und in diesem Stil ergießt sie sich weiter in Lobgesängen, die zu wiederholen einfach zu schmerzlich sind. Die Frauenbewegung maß ihrer frühen Forderung nach Öffnung der Berufe für die Frauen kein Gewicht mehr bei. Warum der Mutterschaft zugunsten von eitlem, männlichem Streben entsagen? Und natürlich war der Drang, den Professionalismus selbst als in sich sexistisch und elitär anzugreifen, schon längst erloschen. Stattdessen verlegte man sich darauf, die natürlichen Funktionen der Frau zu professionalisieren. Die Hausarbeit wurde in dem neuen Fach „Hauswirtschaftslehre“ verherrlicht. Die Mutterschaft wurde als Berufung dargestellt, die eben so viel Vorbereitung und Fähigkeiten verlange, wie der Pflege- oder Lehrberuf. Während sich also einige Frauen daran machten, die Hausfrauenrolle der Frau zu verberuflichen, gingen andere dazu über, die beruflichen Funktionen der Frau, wie die Krankenpflege, das Lehramt und später die Sozialarbeit zu „domestizieren“. Der Frau, die ihre weiblichen Energien außerhalb des häuslichen Bereichs einsetzen wollte, wurden diese Tätigkeiten als einfache Erweiterung ihrer natürlichen Hausfrauenrolle dargestellt. Umgekehrt wurde die Frau, die zu Hause blieb, dazu angehalten, sich als eine Art Pflegerin, Lehrerin und Beraterin innerhalb der Familie zu verstehen. Auf diese Weise wischten die Mittelstandsfeministinnen des späten 19. Jahrhunderts einige der schroffsten Widersprüche des Sexismus unter den Tisch.

Der Herr Doktor braucht eine Schwester

Natürlich lag es sowieso nicht in der Macht der Frauenbewegung, über die Zukunft der Krankenpflege zu bestimmen. Diese lag in den Händen der Ärzte. Anfangs begegneten die männlichen Ärzte der Nightingale-Schwester mit leichtem Misstrauen, vielleicht befürchteten sie, daß dies nur eine neue weibliche Finte sei, um sich in die Medizin einzuschleichen. Doch der niemals erlahmende Gehorsam der Schwestern nahm sie bald für sich ein. (Die Nightingale war in dieser Hinsicht geradezu besessen. Als sie mit ihren frisch ausgebildeten Schwestern auf der Krim anrückte, wurden sie anfangs allesamt von den Ärzten ignoriert. Daraufhin untersagte es die Nightingale ihren Frauen, auch nur einen Finger zu rühren, um den tausenden von verwundeten und kranken Soldaten zu helfen, bis die Ärzte entsprechende Anweisungen gaben. Beeindruckt gaben die Ärzte schließlich nach und beschäftigten die Schwestern erst einmal mit dem gründlichen Aufräumen des Lazaretts). Für die arg in Bedrängnis geratenen Ärzte des 19. Jahrhunderts kam der Pflegeberuf wie ein Geschenk des Himmels. Hier war endlich eine Klasse von Gesundheitsfürsorgerinnen, die nicht mit den „Professionellen“ in Konkurrenz treten wollten, keine medizinische Lehrmeinung vertraten.

Der akademische Durchschnittsarzt nahm die Krankenschwester zwar mit offenen Armen auf, doch der neue Typ des wissenschaftlichen Arztes im frühen 20. Jahrhundert machte sie dann unentbehrlich. Der neue Arzt, der nach der Flexner-Ära auftrat, neigte noch weniger als seine Vorgänger dazu, müßig herumzustehen und die Wirkung seiner „Kuren“ zu beobachten. Er diagnostizierte, er verschrieb, er eilte weiter. Er durfte schließlich weder seine wertvollen Talente noch seine teure Ausbildung vergeuden, um sich mit der umständlichen und ermüdenden Pflege am Krankenbett aufzuhalten. Dazu benötigte er einen geduldigen und ergebenen Gehilfen, jemand, der sich auch für die niedrigsten Arbeiten nicht zu gut war, kurz eine Krankenschwester.

Heilen bedeutet dem eigentlichen Sinn nach beides, die medizinische Versorgung und die Wartung des Kranken, die ärztliche Betreuung und Pflege. Die früheren Heilpraktiker erfüllten beide Funktionen zugleich, und wurden für beides geschätzt. (Die Hebammen zum Beispiel betreuten nicht nur die Geburt, sondern blieben im Haus, bis die neue Mutter sich soweit erholt hatte, daß sie die Aufsicht ihrer Kinder wieder selbst übernehmen konnte. Doch die Entwicklung der wissenschaftlichen Medizin und des modernen Arztberufes brachten die unwiderrufliche Rollenteilung mit sich. Die medizinische Behandlung fiel in den ungeteilten Zuständigkeitsbereich des Arztes, das Pflegen wurde der Krankenschwester zugeschoben. Die Genesung eines Patienten wurde dem Arzt mit seiner „Schnellkur“ als alleiniges Verdienst angerechnet. Denn nur der Arzt hatte am Wunder der Wissenschaft Teil. Die Verrichtungen der Schwester dagegen waren kaum von denen eines Dienstmädchens zu unterscheiden. Sie besaß keine Macht, keine magischen Kräfte und kein Anrecht auf Anerkennung. Die medizinische Behandlung und die Pflege wurden zu zwei sich ergänzenden Funktionen, und die Gesellschaft, die die Pflege für weiblich erklärt hatte, konnte natürlich ohne weiteres die medizinische Behandlung als spezifisch männlich begreifen. Wenn die Krankenschwester das ideale Bild der Frau verkörperte, so verkörperte der Arzt das ideale Bild des Mannes, der Intellekt und Tatkraft, abstrakte Theorie und Pragmatismus in sich vereinigte. Genau die Qualitäten, die die Frau für die Pflege qualifizierten, verboten ihr die ärztliche Tätigkeit. Ihre Güte und ihr angeborenes Einfühlungsvermögen waren in der rauen, nüchternen Welt der Wissenschaft nicht am Platz. Sein Tatendrang und Wissensdurst machten ihn für stundenlanges geduldiges Pflegen ungeeignet. Diese Klischees haben sich als unzerstörbar erwiesen Die heutigen Leiter der Amerikanischen Krankenpflegervereinigung mögen noch so sehr behaupten, daß die Krankenpflege keine weibliche Berufung, sondern ein ganz neutraler Beruf sei. Sie mögen nach mehr männlichen Krankenpflegern rufen, damit sich das „Image“ ändert und betonen, daß der Pflegeberuf eine fast ebenso große akademische Vorbereitung wie die Medizin erfordert und so weiter. Doch die Tendenzen, die Krankenpflege zu professionalisieren, bleiben bestenfalls eine Flucht vor der sexistischen Wirklichkeit im Gesundheitswesen; schlimmstenfalls wird dadurch nur eine von Männern beherrschte Hierarchie verschönert.

Schlussfolgerungen

Wir müssen unsere eigene geschichtliche Bedeutung herausarbeiten, unsere eigenen Kämpfe begreifen. Was können wir aus der Vergangenheit erfahren, was uns heute in einer Frauengesundheitsbewegung helfen könnte? Hier einige unserer Schlussfolgerungen: Wir waren keine passiven Zuschauerinnen der Medizingeschichte. Das gegenwärtige Gesundheitswesen wurde im Wettbewerb zwischen männlichen und weiblichen Heilpraktikern geboren und geprägt. Die Ärzteschaft im besonderen ist nicht lediglich eine Institution, die uns diskriminiert: Sie ist eine Festung, dazu angelegt und errichtet, uns auszuschalten. Das bedeutet für uns, daß der Sexismus im Gesundheitswesen nicht beiläufig entstanden ist, nicht einfach dem Einfluss des Sexismus der Gesellschaft im allgemeinen oder einzelner Ärzte im besonderen zuzuschreiben ist. Dieser Sexismus ist geschichtlich älter als die Medizinwissenschaft selbst; er ist tiefsitzend, elementar. Unser Feind sind nicht nur die Männer oder ihr individueller männlicher Chauvinismus: sondern das ganze Klassensystem, das den heilkundigen Männern der Oberschicht zu ihrem Erfolg verhalf und uns in die Knechtschaft zwang. Der institutionelle Sexismus wird von einem Klassensystem getragen, das die männliche Herrschaft aufrechterhält.
Es gibt keine historisch haltbare Rechtfertigung für den Ausschluß der Frauen aus der Heilpraxis. Hexen wurden angegriffen, weil sie angeblich pragmatisch, empirisch und unmoralisch waren. Doch im 19. Jahrhundert kehrte sich der Sinn der Rede ins Gegenteil um: Frauen waren plötzlich allzu unwissenschaftlich, fein und gefühlvoll. Die Klischees ändern sich ganz so wie es der männliche Vorteil erfordert, und es gibt nichts an unserem “natürlichen, weiblichen Wesen”, was unsere gegenwärtige untergeordnete Stellung rechtfertigen könnte.
Die Männer können ihre Machtstellung im Gesundheitswesen behaupten, da sie das Monopol der wissenschaftlichen Kenntnisse besitzen. Wir lassen uns von der Wissenschaft blenden, denn man redet uns ein, daß sie unsere Fassungsgabe bei weitem übersteigt. Aus Enttäuschung darüber neigen wir manchmal eher dazu, die Wissenschaft abzulehnen, statt die Männer anzugreifen, die das Wissen für sich allein gehortet haben. Doch die Medizin könnte ein befreiender Faktor sein, uns echte Macht über unsere eigenen Körper und Macht in unserem Leben als Gesundheitsfürsorgerinnen geben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt unserer Geschichte bedeutet jede Anstrengung, uns medizinisches Wissen anzueignen und untereinander zu teilen, einen entscheidenden Kampfbeitrag: Also Projekte wie: Lern-deinen-Körper-Kennen Kurse und Literatur, Selbsthilfe-Projekte, Frauenberatungsstellen und Freie Frauenkliniken.
Der Professionalismus in der Medizin ist nichts anderes als die Institutionalisierung der Monopolherrschaft einer männlichen Oberschicht. Wir dürfen Professionalismus niemals mit Sachverstand verwechseln. Sachkenntnis ist etwas, was man anstreben und vergesellschaften sollte. Professionalismus ist – im genauen Sinn des Wortes – elitär und exklusiv, sexistisch, rassistisch und klassistisch. In der amerikanischen Vergangenheit waren Frauen, die eine formelle medizinische Ausbildung zu erlangen suchten, allzuleicht bereit, den Professionalismus, der damit verbunden war, zu akzeptieren. Sie zogen daraus ihren individuellen Statuszuwachs – aber nur auf dem Rücken ihrer weniger privilegierten Schwestern, den Hebammen, Pflegerinnen und Heilpraktikerinnen.
Unser jetziges Ziel sollte niemals die Öffnung des exklusiven Medizinberufs für Frauen sein, sondern die Öffnung der medizinischen Wissenschaft – für alle Frauen.
Das heißt, wir müssen beginnen, die Unterschiede und Barrieren zwischen der Gesundheitsfürsorgerin und der Patientin zu beseitigen. Wir sollten einen gemeinsamen Bezug herstellen. Patientinnen, die die Bedürfnisse der Frau als Fürsorgerinnen kennen, Gesundheitsfürsorgerinnen, die sich über die Bedürfnisse der Frau als Patientin unterrichten. Gesundheitsfürsorgerinnen können eine Führungsfunktion bei kollektiven Selbsthilfe- und Selbst-Lern-Projekten und bei den Angriffen auf die Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes haben. Doch sie brauchen die Unterstützung und die Solidarität einer starken Patientinnenbewegung.
Unsere Unterdrückung als Gesundheitsfürsorgerinnen heute steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit unserer Unterdrückung als Frauen. Die Krankenpflege, unsere hauptsächliche Funktion im Gesundheitswesen, ist lediglich eine Auslagerung unserer Frauen- und Mutterrolle auf den Arbeitsplatz. Die Krankenschwester ist dazu erzogen worden, zu glauben, daß eine Auflehnung ihrerseits nicht nur ihrem “Professionalismus” sondern ihrer eigenen Weiblichkeit zuwider handle. Das bedeutet, daß die männliche Ärzteelite ein ganz besonderes Interesse an der Aufrechterhaltung des Sexismus in der Gesellschaft im allgemeinen haben muß: Ärzte sind die Bosse einer Industrie, in der die Arbeitskräfte in erster Linie Frauen sind. Sexismus in der Gesellschaft im allgemeinen sichert den Tatbestand, daß die weibliche Mehrheit des Arbeitskräftepotentials im Gesundheitswesen “gute” Arbeitskräfte sind – fügsam und passiv. Den Sexismus zu beseitigen bedeutet, einen der Hauptpfeiler des hierarchischen Gesundheitswesens umzustürzen. Das bedeutet für uns in der Praxis, daß wir im Gesundheitswesen die Organisierung als Arbeitskräfte von der Organisierung als Frauen unmöglich trennen können. Die Gesundheitsfürsorgerin als Arbeitskraft anzusprechen bedeutet, sie als Frau anzusprechen.

Anmerkungen

[1] Wir lassen hier die Hexenprozesse im Neuengland des 17. Jahrhunderts unberücksichtigt. Diese Prozesse traten in verhältnismäßig kleinem Umfang ganz gegen Ende der Hexenverfolgungen auf und standen vor einem völlig anderen sozialen Hintergrund als die früheren europäischen Hexenjagden.