Aufgeladene Worte – Ein Situationesisch Leitfaden für Rebellen

Aus New Morning #3 (1973)

Während der Erstellung dieses Glossars üblicher Begriffe situationistischer Theorie, sahen wir unsere größte Schwierigkeit nicht darin, die Begriffe einfach zu erklären, sondern sie angemessen zu erklären. Wir mussten der Verästelung und Vertiefung unserer Analyse schlicht aus Platzgründen Einhalt gebieten. Nichtsdestotrotz vertrauen wir darauf, dass diese für unsere Leser ein ziemlich klarer und nicht absolut langweiliger Auftakt für weitere Erkundungen sind – und überdies, dass sie einen Teil ihrer eigenen Ideen in dem, was wir zu sagen haben, wiedererkennen. Wenn wir uns große Mühe geben, bestimmte Worte wirklich zu den unseren zu machen, dann deshalb, weil wir erkennen, dass wir andernfalls nur noch zu den Bedingungen der Macht kämpfen könnten, da wir nur in diesen Bedingungen zu denken imstande sind. In einem sehr wichtigen Sinne bedeutet die Wiedererlangung der Bedeutung der Worte für sich selbst, dass man seinen Geist wieder zu seinem eigenen macht.

Denis Diderot
Jean-Paul Marat

Proletariat:

Die Klasse derjenigen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben, und die daher keine Kontrolle haben, über die Nutzung ihres eigenen Lebens zu bestimmen. Ursprünglich bezeichnete Marx mit diesem Begriff die Industriearbeiter, aber in unserer Zeit hat sich das Proletariat auf Dienstleistungsberufe, technische Berufe und Büroangestellte (“white collar”) ausgeweitet – de facto also den Großteil der Bevölkerung. Daher der Begriff der Proletarisierung. Revolutionäre Theorie kann das Proletariat, “proletarische Kultur”, “proletarische Moralität”, etc. nicht glorifizieren. Das wäre nur die Glorifizierung der Entfremdung an sich. Was am Proletariat positiv ist, ist die historische Möglichkeit seiner Selbst-Negation: denn sich zu befreien bedeutet für das Proletariat, sich selbst abzuschaffen, indem es das Kapital, die Klassengesellschaft und die entfremdete Arbeit abschafft. Darin liegt sein einziger Ruhm.

Bourgeoisie:

Die “Klasse der Epoche”, die ihren Ursprung in den Kaufleuten, Wucherern und Bankiers des siebzehnten Jahrhunderts hatte und die Entwicklung der städtischen Industrie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert lenkte. Sie löste die Aristokratie als politisch herrschende Klasse in Europa während den Revolutionen von 1640, 1789 usw. ab. In Amerika führte die Bourgeoisie den Aufstand gegen die Kolonialherrschaft an. Historisch gesehen war sie die Klasse des Privateigentums über gesellschaftliche Produktionsmittel. Sie wird nun allmählich von der Staats- und Unternehmensbürokratie verdrängt (siehe z. B. die gemeinsame Verwaltung der “Verteidigung”-Industrien durch die Pentagon-Bürokratie und die Unternehmen, die Penn Central Railroad Affäre usw.), die dazu tendiert, in der neuen herrschenden Klasse des Staatskapitalismus aufzugehen: das staatliche Eigentum und die Verwaltung aller Mittel des Lebens. Diese Form des Kapitalismus existiert bereits in der UDSSR, China, Nord-Vietnam, Kuba, etc. in seiner reinen (aber ökonomisch unterentwickelten) Form, unter dem Deckmantel des “Sozialismus”. Dies waren Länder, in denen es keine starke heimische Bourgeoisie gab, die die Industrialisierung durchführen konnte: Die verschiedenen leninistischen Parteien übernahmen die Aufgabe der Akkumulation des Kapitals und des Proletariats, nach der Übernahme des Staates. Staatskapitalismus bleibt Kapitalismus, weil es weiterhin ein Proletariat gibt, d.h. die große Mehrheit hat immer noch keine direkte Kontrolle über ihr eigenes Leben, weil sie die Kontrolle über ihr tägliches Leben gegen Lohn an den Staat verkauft und weil immer noch ein Mehrwert für den Handel auf dem Weltmarkt, die militärische Aufrüstung und die Anhäufung von Kapitalgütern für die Schwerindustrie von den Staatsbossen aus der Zwangsarbeit der Arbeiter angehäuft wird. Es gibt also überall noch Kapital, und das Kapital regiert immer noch die Welt.

Entfremdung:

In seiner ursprünglichen juristischen Definition steht Entfremdung für “die Übertragung des Eigentumsrechts von einer Person auf eine andere durch Übereignung (im Unterschied zur Vererbung): z.B. die Entfremdung von Grundstücken”. Interessanterweise war die geistige “Entfremdung” im neunzehnten Jahrhundert ein Euphemismus für Geisteskrankheit: “Alienist” war bis Anfang dieses Jahrhunderts die Bezeichnung für “Psychiater”.1

Marx nutze diesen Begriff spezifisch als ein Synonym für den Verkauf von Arbeit in jeglicher Form (d.h. “Arbeit” sowohl als Arbeitskraft selbst (Selbst-Kraft), als lebendige Arbeit und als tote Arbeit, also in ein Objekt verwandelte Arbeit; Waren).

[Die in den folgenden vier Absätzen kursiven Stellen sind direkte Übernahmen aus Fredy Perlmans Die Reproduktion des Täglichen Lebens]

Durch den Verkauf wird die Arbeit eines Individuums zum “Eigentum” eines Anderen, sie wird sich von einem Anderen angeeignet, sie kommt unter die Kontrolle eines Anderen. Mit anderen Worten, die Aktivität einer Person wird die Aktivität eines Anderen, die Aktivität ihres Besitzers; sie wird der Person, die sie ausübt, fremd. Auf diese Weise werden das eigene Leben, die Leistungen eines Individuums in der Welt, der Unterschied, welcher das eigene Leben im Leben der Menschheit macht, nicht nur in Arbeit, einer schmerzhaften Bedingung für das Überleben, umgewandelt; sie werden in fremde Aktivität umgewandelt, Aktivität, die von ihrem Käufer dirigiert wird. In der kapitalistischen Gesellschaft sind die Architekten, die Ingenieure, die Arbeiter nicht die Erbauer; der Mann, der ihre Arbeit kauft, ist der Erbauer. Die Arbeiter in einem Zweig der Industrie werden nicht als “die Produzenten” bezeichnet; es ist der Besitzer der Industrie, das Management oder der Firmenname. Ihre Projekte, Berechnungen und Bewegungen sind ihnen fremd; ihre lebendige Aktivität, ihre Leistungen gehören dem Kapital.

Akademische Soziologen, die den Verkauf von Arbeit für selbstverständlich halten, verstehen diese Entfremdung als rein gefühlsmäßig: die Aktivität des Arbeiters “erscheint” dem Arbeiter fremd, sie “scheint” von einem Anderen kontrolliert zu werden. Allerdings kann jeder Arbeiter den akademischen Soziologen erklären, dass diese Entfremdung weder ein Gefühl, noch eine Idee in seinem Kopf ist, sondern eine Tatsache im täglichen Leben des Arbeiters. Die verkaufte Aktivität ist tatsächlich dem Arbeiter fremd; seine Arbeit ist tatsächlich von ihrem Käufer kontrolliert. Entfremdung existiert subjektiv und objektiv.

Im Tausch für seine verkaufte Aktivität erhält der Arbeiter Geld, das herkömmliche, akzeptierte Mittel für das Überleben in der kapitalistischen Gesellschaft. Mit diesem Geld kann er sich Waren kaufen, Dinge, aber er kann nicht seine Aktivität zurückkaufen. Dies enthüllt eine bestimmte “Lücke” in der Idee von Geld als “allgemeiner Gegenwert”. Eine Person kann Waren für Geld verkaufen und sie kann dieselben Waren für Geld kaufen. Sie kann ihre lebendige Aktivität für Geld verkaufen, aber sie kann ihre lebendige Aktivität nicht für Geld zurückkaufen. Unter dem Anschein der Gleichheit im Austausch zwischen Kapital und lebendiger Arbeit verbirgt sich ein ungleicher Austausch.

Die Dinge, welche der Arbeiter mit seinem Lohn kauft, sind in erster Linie Konsumgüter, welche es ihm ermöglichen zu überleben und seine Arbeitskraft wiederherzustellen, damit er sie weiterhin verkaufen kann; und sie sind Spektakel, Objekte der passiven Bewunderung. Er konsumiert und bewundert die Produkte menschlicher Aktivität passiv. Er existiert in der Welt nicht als aktiv Handelnder, welcher sie umgestaltet, sondern als hilfloser impotenter Zuschauer, der seinen Zustand der machtlosen Bewunderung vielleicht als “Glück” benennt, und da Arbeit schmerzhaft ist, wünscht er sich vielleicht sein ganzes Leben lang “glücklich”, also inaktiv, zu sein (ein Zustand der Tod sein gleich kommt). Die Waren, die Spektakel, konsumieren ihn; er benutzt auflebende Energie für passive Bewunderung; er wird von Dingen konsumiert. In diesem Sinne ist er weniger, je mehr er hat.

Die Folgen dieser zentralen Tatsache, dieser Entfremdung der überwiegenden Mehrheit der Menschen von ihren sozialen Produktivkräften, von ihrem Selbst im sozialen Sinne, sind verheerend. Mehr und mehr menschliche Beziehungen werden zu Warenbeziehungen – Leute werden zusammengebracht und interagieren, nicht aufgrund einer gegenseitigen Affinität, sondern aufgrund von Bedingungen, die durch den Austausch von Geld definiert werden. Denke an einen durchschnittlichen Tag: Du stehst auf, gehst zur Arbeit – wo die Leute um dich herum, deine Kollegen, nicht sind, weil sie gerne zusammen arbeiten oder es genießen, was sie tun, sondern weil sie dort sein “müssen”, um Löhne zu erhalten, um zu überleben. Du verlässt die Arbeit, gehst in den Supermarkt – die anderen Kunden sind fremd; du hast nichts mit den meisten von ihnen gemeinsam, außer dort zu sein, um zu kaufen. Das Gleiche gilt für den Waschsalon und meistens auch die Bar, den Nachtclub oder das Kino, in die du nach dem Essen gehst. In der modernen Gesellschaft werden die Menschen meistens zusammengebracht, um Dinge für Geld zu tun oder Dinge für Geld zu bekommen. Wir sind die Diener des Geldes. Beziehungen, die auf echtem gemeinsamen Verlangen, auf echter Affinität beruhen, werden immer mehr verdrängt. Kein Wunder, dass das Ringen um den Kontakt mit einem anderen Menschen, der sich echt anfühlt, der durch den Willen des Einzelnen zustande kommt, so verzweifelt ist. Menschen, die wie Objekte, als Maschinen, behandelt werden und die durch ihre Lebensbedingungen gezwungen sind, andere als Solche zu behandeln, fangen an, die Charakteristiken von Objekten, von Maschinen anzunehmen. Ihre Sinne stumpfen ab, weil sie ständig versuchen, sich nicht durch weitere sinnlose Zusammenstöße und leere Gespräche mit objektifizierten Menschen verletzt zu werden. Selbst Denken wird sinnlos, weil es nichts beeinflussen kann, deswegen vergessen wir, wie man denkt oder denken nur in spektakulären, fetischisierten, verdinglichten Kategorien, die von der herrschenden Macht angeboten werden. Das Leben wird auf das Überleben reduziert, auf den täglichen Kampf, um nicht vor Langeweile zu sterben, um nicht zu sehen, was aus unserer Existenz geworden ist.

Doch je totaler die Entfremdung wird, desto mehr zwingt sie die Menschen dazu, in ihr aufzuwachen: Die Energie ihrer Verzweiflung ist die gleiche Energie, die die neue Welt erschaffen kann. Revolutionäre sind diejenigen, deren entfremdetes Bewusstsein das Bewusstsein ihrer eigenen Entfremdung wurde, die beginnen, die gegenwärtige Welt in ihrer Gesamtheit abzulehnen. Der erste Schritt ist Nihilismus, das Verlangen den gesamten, verdammt sinnlosen Alptraum kategorisch abzulehnen. Ein Nihilismus, der Strategie, Taktiken und Analysen erlangt hat, ist bereits an der Schwelle der revolutionären Theorie. Aber revolutionäre Theorie ist ein Nihilismus, der sich von innen heraus transformiert hat: Er erkennt sein einziges Positiv im subjektiven Willen und den Wünschen der menschlichen Wesen. Er sieht die alte Welt als die Totalität der entfremdeten Beziehungen und beginnt sie an allen Fronten anzugreifen. Das Ziel der revolutionären Bewegung kann nichts weniger als das Ende aller Entfremdung sein.

Verdinglichung:

die geistige Umkehrung von abstrakten Ideen in konkrete Dinge und umgekehrt von realen Subjekten in augenscheinlich bloße Objekte. So verleiht beispielsweise die Überschrift “USA und UdSSR unterzeichnen Vertrag” den Begriffen “USA” und “UdSSR” den verbalen Status materieller Entitäten und den Willen (Selbstmächte) realer menschlicher Wesen. Was tatsächlich passiert ist, ist, dass zwei Gruppen von Bürokraten, die ihre jeweilige herrschende Klasse repräsentieren, eine Vereinbarung unterschrieben. Ebenso bieten Banken 5 % Zinsen, Autos lehren uns, wie man lebt, Motorräder vertreiben die Langeweile, Waschmittel schonen unsere Hände. Unterdessen reduzieren die Bürokratien, ihre Kosteneffizienz-Experten und Marktforscher in ihren Plänen für das permanente Goldene Zeitalter des weltweiten Staatskapitalismus den Menschen weiterhin auf den Status von Dingen (quantifizierbar, statistisch, berechenbar, manipulierbar). Die Verdinglichung ist Mittel und Zweck der verkehrten Welt der Ware.

(N.B. Wenn wir die Begriffe “Bourgeoisie” und “Proletariat” in einem aktiven Sinne verwenden, sind wir uns immer bewusst, dass diese Klassen aus einer mehr oder weniger großen Anzahl von realen Menschen mit realen Verlangen zusammengesetzt sind. Die Bourgeoisie ist sich bereits selbst als Klasse bewusst. Für das Proletariat gilt es ebenfalls dorthin zu gelangen, dass es sich also theoretisch und praktisch dazu bewegt, sich selbst als Klasse zu negieren. Während für die Bourgeoisie Klassenbewusstsein die Wahrnehmung ihrer selbst als das einzige “Subjekt” bedeutet, ist für das Proletariat Klassenbewusstsein eine echte Wahrnehmung seiner selbst als ein “Objekt”: Es ist ein Objekt in dem Sinne, dass die kapitalistische Gesellschaft jedes ihrer Mitglieder als ein Objekt behandelt, als eine Produktionsmaschine und Konsummaschine. Proletarier werden weiterhin als Objekte behandelt werden, bis jeder und jede die eigene Subjektivität wiederentdeckt, zuerst passiv, durch die Realisierung, dass sie gemeinsam jeden Tag ihre Gesellschaft neu erschaffen, in ihrem eigenen Bild, indem sie weiterhin die Rollen (“Arbeiter”, “Konsument”, “Zuschauer”, “Student”, etc.) spielen, die ihnen zugeschrieben wurden und dann aktiv in dem sie die “Selbst-Reproduktion” der alten Welt durch einen Generalstreik, Arbeitsplatzbesetzungen stoppen und, sollten sie diesen qualitativen Sprung schaffen, die neue Welt erschaffen, durch die Mittel der generalisierten Selbstverwaltung. Selbstverwaltung ist die praktische Negation der Verdinglichung, weil es die maximale Partizipation jedes einzelnen Proletariers in der konzentrierten Aktion seiner oder ihrer Klasse erlaubt (verlangt) und schließlich in der Abschaffung der Klassen: menschliche Wesen können nicht länger “Objekte” sein, noch können Dinge, die ihres Warenwerts beraubt sind, zu “Subjekten” werden.)

Ideologie:

Der typische Begriff, der in revolutionärer Theorie für Systeme falschen Bewusstseins gebraucht wird. Der Kern jeder Ideologie, egal ob “revolutionär” oder reaktionär, ist eine Verdinglichung, eine wesentliche Umkehrung von Subjekt und Objekt. Ideologie ist immer akzeptierte Entfremdung, akzeptierte Verdinglichung: Daher ergreift sie immer die Partei der herrschenden Klasse oder einer neuen Gruppe, die als Klasse die Herrschaft anstrebt, in den Kämpfen in der Welt. Die religiöse Ideologie ist das älteste und einfachste Beispiel: Die fantastische Projektion namens “Gott” erschafft und beherrscht die Welt, insbesondere die Menschheit, und ist das höchste Subjekt des Kosmos, das auf jedes menschliche Wesen als “sein” Objekt einwirkt. In der reaktionären Ideologie der bürgerlichen politischen Ökonomie ist das Kapital das reale und “wirklich produktive” Subjekt der Weltgeschichte, wobei die “unsichtbare Hand” des Kapitalsystems die menschliche Entwicklung sogar gegen den Willen und das Verlangen des Menschen steuert. Die revolutionäre Ideologie des Leninismus hingegen sieht ihre Partei als das wahre Subjekt und den rechtmäßigen Diktator der Weltgeschichte, mit dem Proletariat und dem Kapital als Objekte, auf die sie einwirkt. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.

Aber das Geheimnis der “getrennten Ideen” der Ideologie liegt in ihrer Verbindung mit der getrennten Macht. Jede Ideologie ist die theoretische Selbstverteidigung einer herrschenden Macht, oder einer Macht, die zu herrschen versucht. Die getrennte Klasse der Herrschenden muss dem Rest des Volkes, den Klassen, über die sie herrschen, die Subjektivität sowohl theoretisch als auch praktisch absprechen. Die herrschende Gruppe, die sich selbst als einziges wirkliches Subjekt behauptet und die Passivität und Ohnmacht der beherrschten Mehrheit aufrechterhält (Nixons Rede, in der er die Amerikaner als “die Kinder in der Familie” bezeichnet), ist identisch mit der Aufgabe, ihre Herrschaft selbst, ihre geteilte Macht, aufrechtzuerhalten. “Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären Ideologie Feind und sie weiß, dass sie es ist.” (Debord, Gesellschaft des Spektakels, #124).

Leninismus, Stalinismus, Trotzkismus, Maoismus …:

Ideologie des Staatskapitalismus in ihrer revolutionären Form, wie sie von V.I. Lenin, dem Anführer der Bolschewiki, in seinem “Was tun?” und anderen Werken, dargelegt wurde. Die leninistische Form der Organisation ist die sog. Avantgarde-Partei, ein straff organisiertes, hierarchisches Gebilde, das durch die Aufnahme einer Reihe von Arbeitern in seine Reihen (in der Regel von Intellektuellen dominiert) den Anspruch erhebt, im Namen der Arbeiterklasse zu sprechen – und dann auch zu herrschen. Die organisatorische Ideologie der Partei, der “demokratische Zentralismus”, besteht darin, dass die Mitglieder ein ständiges Zentralkomitee wählen, das dann die Partei von oben nach unten regiert: interne “Diskussionen” seiner Direktiven sind erlaubt, aber keine Erwähnung dieser Dispute außerhalb der Partei selbst sind erlaubt. Offensichtlich ist es ebenso lächerlich, wie auch widerlich, wenn von solch einer Organisation als “demokratisch” gesprochen wird. Die andere Seite der leninistischen Ideologie, die im allgemeinen “Arbeiterräte”, “Arbeiterkontrolle” usw. befürwortet, ist also völlig widersprüchlich. Die Sowjets und Fabrikkomitees im Russland von 1917, die spontan entstanden waren, um das gesamte gesellschaftliche Leben zu verwalten, waren wirklich demokratisch oder auf dem besten Weg dazu: Sie machten auch die “Staatsmacht”, die die Bolschewiki “für sie” ergriffen hatten, völlig überflüssig, und damit auch die Bolschewiki. Von diesem Moment an war die Russische Revolution ein Kampf um die Macht zwischen der Partei und den autonomen Arbeiterorganisationen: Das Massaker der Freien Sowjets an den Kronstädter Arbeitern und Matrosen 1921 läutete sein Ende ein.

Stalin hatte also vollkommen recht (Trotzki hingegen nicht), als er behauptete, Lenins ideologischer und praktischer Erbe zu sein. Der Stalinismus ist nichts anderes als ein in sich konsistenter Leninismus: Der “Trotzkismus” ist ein Jongleurakt, eine unmögliche bürokratische Fantasie, in der ein permanenter Zustand der Doppelherrschaft zwischen Partei und Arbeiterräten aufrechterhalten würde. Die Tatsache, dass dieses Hirngespinst in der historischen Praxis immer wieder negiert wurde, hält Witzbolde wie Ernest Mandel2 und die “Theoretiker” der SWP3 nicht davon ab, endlose, kunstvoll konstruierte Modelle der “Leninistischen Organisationstheorie” und der “demokratisch-zentralistischen Arbeiterselbstverwaltung” aufzutischen, die den praktischen Wert eines Perpetuum Mobile haben. (Mandels Vision einer glorreichen sozialistischen Zukunft ist eine obligatorische Universitätsausbildung für alle und ein gutes Sozialsystem.)

Was die Maoisten betrifft, so sind sie jetzt nichts weiter als die erbärmlichsten religiösen Fanatiker, die sich verzweifelt an den “Wahren Weg” klammern, lange, nachdem ihr fettleibiger und seniler Messias davon gerumpelt ist, um Richard Nixon und andere bekannte Antiimperialisten zu umarmen. Die riesige Staatskirche des Maoismus hat sich in China während der sogenannten “Kulturrevolution” selbst zerlegt (eine ideologische Ungeheuerlichkeit: Es war keine Revolution in irgendeinem bedeutenden Sinne, und die Kultur hatte nichts damit zu tun), und die Pekinger Bürokraten mussten sowohl ein neues Kriegsherrentum als auch eine aufkeimende proletarische Rebellion mithilfe der Armee unterdrücken, auf deren Macht sie sich inzwischen lieber verlassen.

Castroismus, Guevarismus, Ben-Bellismus, Titoismus, Ceaucesuismus, Hoxhaismus, Hoismus, Alendismus4die Liste ist endlos: aber alle sind essenziell ideologische Verkleidungen der Macht des Staatskapitalismus, der Macht der Bürokratie als herrschende Klasse. Leninismus ist lediglich der Stamm, aus dem der gesamte verrottete Baum wuchs: unter den ersten Aufgaben jeglicher revolutionären Organisation ist es, ihn umzuhacken.

Spektakel:

Die Organisation des Scheins, ermöglicht durch die modernen Mittel der Kommunikation (Medien). Die Leichtigkeit, mit der Bilder von ihren Quellen losgelöst, entfremdet und für die Neupräsentation im Einklang mit der Ideologie der herrschenden Macht neu organisiert werden können, bildet die technische Grundlage für die beispiellose Reichweite des modernen Spektakels, “alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.” (Debord, Gesellschaft des Spektakels #1). Ein Beispiel: In einer Fernsehwerbung wird eine Familie in einem Auto gezeigt, die fröhlich ins Grüne fährt und sich dann in der Nähe des Autos, das wie ein Schutzengel über sie wacht, “vergnügt”. Das Auto wird in einem möglichst angenehmen Kontext gezeigt: Das Bild des Autos wird mit dem Bild des “Vergnügens” verknüpft und suggeriert die Notwendigkeit, das Auto zu kaufen, um diese Erfahrung zu “kaufen”. Tatsächlich aber sitzen Millionen von Menschen während der Ausstrahlung des Werbespots nicht in ihren Autos, um “sich zu vergnügen”, sondern sie sitzen vor dem Fernseher und konsumieren passiv dieses Bild.

Die Organisation spektakulärer Aktivität ist die Organisation der realen sozialen Passivität und Befriedung – das Zusammengruppieren der Menschen als Spektakel um die einseitige Rezeption der Bilder des eigenen entfremdeten Lebens. Das Spektakel ist keine Sammlung von Bildern, sondern die soziale Beziehung zwischen Menschen, die durch Bilder vermittelt wird. Echte Beziehungen zwischen Menschen werden in Beziehungen zwischen Bildern transformiert: Zum Beispiel soll das Bild von “Sammy Davis”, der das Bild von “Präsident Nixon” im Fernsehen umarmt, zeigen, dass der wirkliche Mensch Nixon, als Vertreter der amerikanischen Mittelschicht, kein Rassist ist, und dass der wirkliche Mensch Sammy Davis, als Vertreter des schwarzen Amerika, Nixon liebt und respektiert. Auch hier gilt: Wenn ein “Filmstar” oder “Sportstar” für ein Produkt wirbt, sollen wir auf ihr Bild als Ideal reagieren und es daher nachahmen, indem wir uns mit den Bildern assoziieren, mit denen sie sich selbst assoziieren. Anstelle von Schuldgefühlen haben wir Achtung durch Assoziation.

Der Prozess geht jedoch noch weiter: Spektakel werden zu Gesprächsthemen, Diskussionen und sogar zum Subjekt weiterer Spektakel (die “Tonight-Show”). Die Gespräche von Stadtkindern werden von Diskussionen über die Fernsehsendungen, die sie am Vorabend gleichzeitig gesehen haben, und sogar von Wiedergaben dieser Sendungen beherrscht. Kommunikation von gelebter Erfahrung wird zur Kommunikation von (über) Spektakeln: Kommunikation der Passivität, Nicht-Kommunikation. Das Spektakel im Allgemeinen bezeichnet das Ensemble der sozialen Beziehungen, der Nicht-Kommunikation, der Isolation. Wirkliche Kommunikationsmittel wären Mittel des Dialogs, im Gegensatz zu den Technologien des “Unilogs”, die sich innerhalb des Spektakels entwickelt haben. Einseitige, einbahnige Kommunikation ist immer autoritär: das Erteilen von Befehlen.

Der Albtraum des Spektakels, der Bilder, die ein eigenes “Leben” annehmen, wird vollends verwirklicht, wenn die Menschen bewusst versuchen, den Bildern, die ihnen präsentiert werden, gerecht zu werden: Selbst beim Liebesakt, der potenziell vollkommensten Form der Kommunikation (der Einheit von Lustgewährung und Lustgewinn), versuchen die Menschen ständig, sich gegenseitig Bilder von sich zu präsentieren – “Hengst”, “sinnliche Frau” usw. – damit geht der unmittelbare Kontakt zwischen zwei Menschen im Pseudo-Liebesakt ihrer spektakulären Bilder verloren. (Dies wird inzwischen von Sexualwissenschaftlern offiziell als “Problem” anerkannt.)

Gleichzeitig sind die vom Proletariat produzierten Waren und Leistungen (Waren) ebenfalls Teil des Spektakels, da sie über ihre Bilder an das Proletariat zurückverkauft werden, das sie produziert hat: in der Werbung ist der Akt des Konsums selbst ein Spektakel. Warenkonsum wird zur einzigen Art des Konsums: “Es gibt immer weniger Befriedigungen, für die man nicht bezahlen muss.” Die spektakuläre Existenz ist per definition schizoid5. “Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts (das Ergebnis seiner eigenen unbewussten Tätigkeit ist) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, dass seine eigenen Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem anderen, der sie ihm vorführt.” (Debord, Gesellschaft des Spektakels #30)

“Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird.” (Debord, Gesellschaft des Spektakels #34) Da die gegenwärtige Welt nichts anderes ist als das Kapital in seiner konzentrierten Selbstentfaltung, ist das Spektakel das Kapital, das eine Welt nach seinem eigenen Bild schafft. Das Kapital ist der materielle Gott, und das Spektakel ist die materialisierte Religion (Ideologie). Wie in der Religion die Selbstmächte der Menschen in das Bild “Gottes” entfremdet werden, so werden sie im Spektakel in buchstäbliche Bilder entfremdet, die dennoch zu “Subjekten” ihrer eigenen Quellen, der Menschen selbst, werden. Das gilt für den “heroischen Proletarier” des chinesischen Propagandaposters ebenso wie für die “glückliche Familie” der Madison-Avenue-Bilder. Das Spektakel in seinen verschiedenen Formen beherrscht die Welt: Die Welt, die es darstellt, ist seine Welt.

Rekuperation:

Die Bezeichnung für die verschiedenen Mittel, die die Macht außer der direkten gewaltsamen Unterdrückung einsetzt, um die Rebellion wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Die drei Hauptmittel der Rekuperation sind (i) Fragmentierung; (ii) Ablenkung und (iii) Spektakularisierung. Manchmal wird nur eine Methode genutzt, manchmal zwei und manchmal alle drei.

Die Fragmentierung wurde erfolgreich gegen die verschiedenen rebellischen Bewegungen der 60er Jahre eingesetzt – “studentische Kämpfe” wurden von “schwarzen Kämpfen” getrennt, die wiederum von “Frauenkämpfen” getrennt wurden, usw. usw. All diese partiellen Bewegungen blieben partiell (und wurden vorerst sogar in Bezug auf ihre partiellen Forderungen besiegt), weil ihnen eine totale Gesellschaftskritik fehlte. Obwohl es in all diesen Bewegungen – dem frühen SDS und der Fee-Speech-Bewegung, dem Watts-Aufstand, den W.I.T.C.H.-Demonstrationen bei der Miss-Amerika-Wahl – Momente gab, in denen sich eine echte Kohärenz in der Praxis und sogar in gewissem Maße in der Theorie abzeichnete, verhallten diese Rebellionen isoliert. Sie fielen nicht nur den spektakulären Trennungen zum Opfer, die die “offiziellen” Mächte bereits durchgesetzt haben, sondern auch den Manipulationen verschiedener sozialdemokratischer und leninistischer Bürokraten, bewaffnet mit ihrem Sortiment an ideologischen Nebelschwaden. Wo immer diese Parasiten eindrangen, legten sie ihre kleinen Eier des Zusammenbruchs ab, indem sie die verschiedenen Gruppen als Wahlkreise behandelten und so die falschen Spaltungen zwischen ihnen verstärkten. Diese konterrevolutionäre Tätigkeit (die darauf abzielt, sich selbst als neue Macht zu etablieren) verbergen sie unter dem Deckmantel einer bedeutungslosen, abstrakten “Einheit” und “Solidarität” (die Trotzkisten sind dafür besonders berüchtigt). In Wirklichkeit kann echte Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen nur auf der Grundlage gemeinsamer Bedürfnisse entstehen, die zu einer gemeinsamen Theorie und Praxis führen müssen; wenn das gesamte Alltagsleben das ist, was alle ändern wollen, dann können sie alle Seite an Seite kämpfen.

Das Fehlen einer totalen Kritik ermöglicht auch den Einsatz von Ablenkung: Hier werden Bewegungen in den Reformismus kanalisiert, weil ihnen ein klares Bewusstsein für die volle Tragweite ihrer eigenen Ziele fehlt: Die Frauenbewegung ist ein Paradebeispiel. Solange der Feind als Sexismus und der Unterdrücker als “Männer” gesehen wird, kann die Macht allen außer den erbittertsten und entschlossensten Rebellen entgegenkommen, die sich dann unter dem Etikett “Extremisten”, “Lesben”, “Schlampen” usw. isoliert sehen. Dies hat in der Regel den Effekt, dass sich ihr falsches Bewusstsein vertieft: Sie wenden sich gegen sich selbst, unterdrücken ihre eigenen Lustinstinkte und ziehen sich in eine seltsame Unterwelt apokalyptischer Fantasien zurück (z. B. Valarie Solanas und SCUM), in der die Männer abgeschafft werden und die Welt den Frauen überlassen wird, die sich asexuell fortpflanzen. Wieder andere Feministinnen sind in den Wahnvorstellungen und Systemen der maoistischen, trotzkistischen und “antiimperialistischen” Gruppen gefangen. Deutliche Parallelen sind in der Geschichte der schwarzen Bewegung zu erkennen: Ms.6 wird neben Ebony7 in den Regalen verkauft, während immer mehr intelligente Frauen zur ausschließlichen Homosexualität gezwungen werden und immer mehr sensible junge Schwarze mit M-16-Gewehr auf die Dächer gehen. (Ein älteres Beispiel für Ablenkungsmanöver ist natürlich die Arbeiterbewegung: Die Gewerkschaften sind ihrem Wesen nach reformistisch.)

Schließlich macht die Spektakularisierung von Bewegungen in ihrer partiellen Form (wobei der wirkliche Inhalt sorgfältig vermieden wird) sie erst “vertraut” und dann langweilig. Sie werden durch ihre oberflächliche Erscheinung definiert – “verrückte Neger”, “verzogene Studenten”, “BH-verbrennende Männerhasser” und so weiter. Die wachsende Rebellion gegen die Arbeit selbst erhält derzeit das spektakuläre Etikett “Blue-Collar Blues”, während die extreme Unterdrückung von Fließbandarbeitern als eine Art moralischer Knüppel benutzt wird, ähnlich wie Mütter ihren Kindern ein schlechtes Gewissen einreden, indem sie ihnen sagen, sie sollten “an die hungernden Kinder in Indien denken”! Was für ein Glück, dass wir nicht zu den Autoarbeitern gehören! In diesem Spektakel ist das Elend immer irgendwo anders, die Rebellion ist immer irgendwo anders. Die Gesamtheit des Elends wird in die Summe seiner Teile zerlegt – schlechte Wohnverhältnisse, Umweltverschmutzung, Langeweile am Arbeitsplatz, sexuelle Frustration, Rassendiskriminierung -, die alle immer und immer wieder als Etiketten verwendet werden, bis niemand mehr den Wald vor lauter Bäumen sehen kann. Die Wiederholung bis hin zur Gewöhnung ist eine der Techniken, mit denen das Spektakel seine Narkose verbreitet.

Was kann der Rekuperation widerstehen? Eine totale revolutionäre Bewegung, die das Spektakel subversiv angreift, wo immer es versucht, sie zu repräsentieren; deren kritische Theorie ebenso allumfassend ist wie ihr praktischer Angriff, und die nur ein Ziel vor Augen hat: eine Welt der freien, kreativen Menschen und des unbegrenzten Vergnügens, die durch eine verallgemeinerte Selbstverwaltung erreicht werden soll.

Détournement:

[im Deutschen auch oft mit Entwendung oder Zweckentfremdung übersetzt. Im englischen Original verwenden die Autoren den Begriff “Subversion” als Übersetzung]
Der Prozess, in dem das Spektakel auf sich selbst zurückgeworfen wird, von innen nach außen, so dass es sein eigenes Innenleben offenbart, das die Wahrheit der gegenwärtigen Welt ist. Das kann auf alle mögliche Art und Weise geschehen: ein gutes Beispiel ist die kürzliche “Übernahme” der UC Campus Studentenzeitung (The Daily Cal) durch “Point Blank”, in welcher die Editoren verkündeten, da nie irgendwas in Berkeley passiert, sie die Publikation einstellen würden und die letzte Ausgabe einer Gruppe von Leuten überlassen würden, die das Leben der Studenten und Unterstudenten sehr kritisch beschreiben und vorschlagen würden, was diese Leute tun könnten, um ihr Leben wirklich interessant zu machen (indem sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen). Radio, Fernsehen, Comics, Plakate usw. können alle auf ähnliche Weise eingesetzt werden: Die momentane subversive Negation des Spektakels ist ein erster Schritt zur Negation der Gesellschaft, die es hervorbringt und die es wiederum hervorbringt, durch alle.

Détournement ist essenziell spielerisch: im weiteren Sinne kann das Detorunement als den Wiedereintritt des Spiels in jeglichen Aspekt des täglichen Lebens gesehen werden, zunächst auf der Ebene der Störung der Organisation des Scheins, und mit der erfolgreichen Ausweitung und Verallgemeinerung der so geschaffenen “Situation”, auf der Ebene der die Organisation der Gesellschaft selbst zu verändern, indem alle ihre Techniken, ihre Werkzeuge, ihre Strukturen, ihre gesamte Raum-Zeit, neuen Zwecken zuführen. “Das Spiel allein entweiht, allein das Spiel eröffnet eine grenzenlose Freiheit. Es ist das Prinzip der Zweckentfremdung, die Freiheit, den Sinn all dessen zu ändern, was der Macht dient; die Freiheit z.B., die Kathedrale von Chartres in einen Lunapark zu verwandeln, oder in ein Labyrinth, in einen Schießplatz, in eine traumhafte Kulisse …” (Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst)

Selbstverwaltung:

(französisch “Autogestion”)
Direkte Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion, Verteilung und Kommunikation durch die Produzenten und ihre Gemeinschaften. Nicht zu verwechseln mit “Arbeiterkontrolle”, “Co-Management” (“Co-Gestion”) etc., welche im Privat- oder Staatskapitalismus lediglich ein Mittel ist, mit dem die Arbeiter ihre eigene Entfremdung organisieren – sie überprüfen lediglich das Management oder es ist ihnen höchstens erlaubt, Repräsentanten neu zu wählen, die in einem gemeinsamen Ausschuss mit den echten Managern, über solche Dinge wie das beste Erfüllen von Produktionsquoten entscheiden dürfen – all jene Entscheidungen, die nichts verändern. Wir grenzen unsere Verwendung des Begriffs auch von der jugoslawischen “Selbstverwaltung” ab, in der die Arbeiter Anteilseigner ihres eigenen kapitalistischen Unternehmens werden, die Waren produzieren, die gegeneinander in der Marktökonomie antreten und ein Vorstandskomitee wählten, um sie zu managen – natürlich unter der wachsamen Supervision der Partei- und Staatsbürokratien.

Historisch passierte Selbstverwaltung immer und immer wieder, überall auf der Welt – 1905 und 1917 in Russland, 1936-37 in Spanien, 1956 in Ungarn, 1960 in Algerien und 1972 in Chile. Die in der Praktik der Selbstverwaltung am meisten geschaffen Form der Organisation war der Arbeiterrat (auf Russisch “Sowjet”). Was gewöhnlich passiert ist, dass die Arbeiter einer bestimmen Fabrik, Transportsystems, Telefonvermittlungsstelle, etc. eine Generalversammlung formen, die dann Delegiertenkomitees wählt, die spezifische Aufgaben erledigen, inklusive Selbstverteidigung und die Koordinierung mit anderen Betrieben, die ebenfalls von ihren Arbeitern übernommen wurden. Der Betrieb wird dann unter der Verwaltung der Arbeiter wieder aufgenommen, und zwar im Einklang mit den Bedürfnissen, die durch sie definiert wurden – offensichtlich während einer revolutionären Krise. Die wichtigsten Sektoren wären die Produktion von Nahrung, Waffen und elektrischer Energie, die fortgesetzte Bereitstellung medizinischer Versorgung, Telekommunikation und die Transportsysteme.

Zu ihren Höhepunkten machten die Räte jegliche Staatsmacht unnötig – ihr Hauptversagen in der Vergangenheit (mit der teilweisen Ausnahme der spanischen Arbeiter und Bauern in Katalonien 1936-7) bestand darin, dass sie dies nicht erkannten, wodurch sie folglich auch nicht die verbleibenden Bastionen und Anwärter auf den Staat mit Waffengewalt zerstörten. Die Selbstverwaltung ist die praktische, entschiedene Negation des Staates und des Kapitals. Sie macht die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenökonomie möglich, ebenso wie das Ende aller Entfremdung – in der Tat ist sie das Mittel, das das Proletariat benutzte, um sich selbst abzuschaffen, indem es alle Klassen abschafft. Die Selbstverwaltung kann keinen Kompromiss mit einer geteilten Macht dulden – einer Macht, die über der selbstorganisierten Bevölkerung steht; eine Verwaltung, die ihr die Kontrolle über ihr eigenes Leben aus der Hand nimmt.

Wie wird die Formation einer neuen Staatsmacht vermieden? Natürlich als erstes, indem alle “revolutionären Parteien” zusammen mit der alten Reaktionären – dem Leninismus – unterdrückt werden. Zweitens, indem sichergestellt wird, dass alle Macht allein von den Vollversammlungen der Arbeiter und Gemeinschaften ausgeht – dass die Vollversammlungen selbst die Räte sind und nicht irgendein Ausschuss von Delegierten, der von ihnen ausgeht. Natürlich muss ein zentrales, gesamtgesellschaftliches Koordinierungsgremium eingerichtet werden, aber seine Mitglieder müssen strikt mandatiert bleiben, sodass ihre Funktion auf eine verallgemeinernde Kommunikation (“ausführender Dialog”) und auf die Ausführung der ausdrücklichen Wünsche der sie konstituierenden Vollversammlungen beschränkt ist. Eine Hierarchie der Räte, bei der die Kontrolle der Delegierten durch die Basisversammlungen über ein anderes delegiertes Gremium vermittelt wird, kann nicht toleriert werden. Alle Delegierten müssen jederzeit von ihrer Basis abberufen werden können.

In einer modernen Gesellschaft könnten ihre Beratungen ständig übertragen und überall auf Bildschirmen gezeigt werden: Die Versammlungen könnten rotierende “Überwachungsausschüsse” wählen, die ein Auge auf sie haben. Die Delegierten könnten unter anderem abberufen werden, wenn sie langweilig sind. (Es versteht sich von selbst, dass auch die Mitgliedschaft im zentralen Koordinierungsrat so oft wie möglich gewechselt werden muss: Wir müssen verhindern, dass neue Spezialisten an die Macht kommen, ebenso wie die Macht der Spezialisten.)

Schließlich muss man sich darüber im Klaren sein, dass die letzte Sicherheit für den Erfolg der Selbstverwaltung nicht in der Form liegt – keine noch so ausgefeilte formale Garantie wird, für sich allein, ausreichen -, sondern im Inhalt. Auf individueller Ebene ist dieser Inhalt das Bewusstsein der überwiegenden Mehrheit des Proletariats, ein freies, kreatives und angenehmes Leben unter eigener Kontrolle führen zu wollen und zu können. Auf der kollektiven Ebene ist dieser Inhalt das, was selbst verwaltet wird. Es liegt auf der Hand, dass die Selbstverwaltung zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie nur die bestehende Wirtschaft, die bestehende Produktionsweise (Fließbandarbeit, fragmentierte, langweilige Arbeit im Allgemeinen), die bestehende Welt behandelt; so wäre sie ohnehin sinnlos. Die Selbstverwaltung muss im Gegenteil die kollektive Verwaltung der totalen Umgestaltung der Welt, jedes Aspekts der täglichen Existenz sein.

Natürlich wird damit die Definition der Selbstverwaltung erheblich ausgeweitet. Zunächst würden auch Nachbarschafts- oder Gemeinderäte von Nicht-Lohnempfängern (ehemalige Hausfrauen, ehemalige Studenten, ehemalige Schüler) gebildet, die Delegierte und bald ganze Arbeitsteams mit den Betriebs-, Kommunikations- und Verkehrsräten austauschen würden. Niemand müsste immer das Gleiche tun; die wirklich unangenehmen Aufgaben würden rotieren, bis sie abgeschafft werden könnten. Es könnten neue Parks angelegt werden; Kirchen, Bürogebäude und andere jetzt nutzlose Gebäude könnten neuen und spielerischen Zwecken zugeführt werden; die Wohnverhältnisse könnten völlig neu strukturiert werden, um allen gerecht zu werden. Dies ist natürlich nur der Anfang; je länger die Selbstverwaltung nach dem Sieg der föderierten Räte über alle Staaten erfolgreich auf globaler Ebene fortgesetzt wird, desto erstaunlicher und wunderbarer könnten die Veränderungen sein – Veränderungen, die fast jenseits unserer derzeitigen Vorstellungskraft liegen.

Wir möchten noch einmal betonen, dass die Selbstverwaltung keine abstrakte Idee ist, kein utopischer Masterplan, der in die Köpfe der Massen gepflanzt werden soll. Fast alles, was oben beschrieben wurde, ist bereits geschehen, und das wesentliche – die Bildung von Räten, ihr Zusammenschluss durch streng mandatierte, widerrufbare Delegierte und ihre unmittelbaren Versuche, das soziale Umfeld zu verändern – nicht nur einmal, sondern viele Male. Die Selbstverwaltung sieht ihre kleinen Anfänge in der faktischen Kontrolle des Betriebs durch die Arbeiter in Millionen von Fabriken überall, in der organisierten Sabotage zur Verlangsamung der Fließbänder, in Fabrikbesetzungen und “Work-ins”. Um Marx zu paraphrasieren, nennen wir die Selbstverwaltung die wirkliche Bewegung, die den gegenwärtigen Zustand der Dinge abschafft. Wir könnten nur hinzufügen – sie abschafft, um eine Welt der Wunder zu schaffen.

 

Definitionen

Aus Internationale situationniste #1 (1958)

Konstruierte Situation:

Durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Miteinanderspielens von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens.

Situationistisch/ Situationist:

All das, was sich auf die Theorie oder auf die praktische Tätigkeit von Situationen bezieht. Derjenige, der sich damit beschäftigt, Situationen zu konstruieren. Mitglied der situationistischen Internationale.

Situationismus:

Sinnloses Wort, missbräuchlich durch Ableitung des vorigen gebildet. Einen Situationismus gibt es nicht – was eine Doktrin zur Interpretation der vorhandenen Tatsachen bedeuten würde. Selbstverständlich haben sich die Anti-Situationisten den Begriff “Situationismus” ausgedacht.

Psychogeographie:

Forschung nach den genauen Wirkungen der das Gefühlverhalten der Individuen unmittelbar beeinflussenden geographischen Umwelt – bewusst eingerichtet oder nicht. Das, was die unmittelbare Wirkung der geographischen Umwelt auf das Gefühlsleben zur Erscheinung bringt.

Psychogeograph:

Jemand, der nach psychogeographischen Wirklichkeiten forscht und diese übermittelt.

Dérive:

[im Deutschen oft mit Umherschweifen übersetzt]
Mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise oder Technik des beschleunigten Durchgangs durch verschiedenartige Umgebungen. Im besonderen Sinne auch die Dauer einer ununterbrochenen Ausübung dieses Experiments.

Unitärer Urbanismus:

Theorie des totalen Gebrauchs der Kunstmittel und Techniken, die zur vollständigen Konstruktion einer Umwelt in dynamischer Verbindung mit Verhaltensexperimenten mitwirken.

Détournement:

[im Deutschen auch oft mit Entwendung oder Zweckentfremdung übersetzt]
In abgekürzter Formel: Zweckentfremdung von vorgefertigten ästhetischen Elementen. Eingliederung jetziger bzw. vergangener Kunstproduktionen in eine höhere Konstruktion der Umwelt. In diesem Sinne kann es weder eine situationistische Malerei noch eine situationistische Musik, wohl aber eine situationistische Anwendung dieser Kunstmittel geben. In einem ursprünglichen Sinne ist das Détournement innerhalb der alten Kulturgebiete eine Propagandamethode, die deren Abnutzung und den Verlust an Bedeutung zu erkennen gibt.

Kultur:

Widerspiegelung und hindeutendes Vorbild auf die Organisationsformen des alltäglichen Lebens in jedem historischen Moment. Gesamtheit der Ästhetik, der Gefühle und der Sitten, durch die eine Kollektivität auf das Leben zurückwirkt, das ihr durch ihre Ökonomie objektiv gegeben wird. (Unsere Definition bezieht sich nur auf die Erschaffung der Werte, nicht auf ihre Unterrichtung).

Auflösung:

Verfahren, wodurch die herkömmlichen Kulturformen sich unter dem Druck neuer, besserer Mittel zur Beherrschung der Natur, die höhere kulturelle Konstruktionen erlaubten und verlangten, selbst zerstört haben. Man unterscheidet zwischen einer aktiven Phase der Auflösung, der effektiven Zerstörung des alten Überbaus (die um 1930 aufgehört hat) und einer (seit dieser Zeit vorherrschenden) Wiederholungsphase. Die Verspätung beim Übergang von der Auflösung zu neuen Konstruktionen ist mit der bei der revolutionären Liquidierung des Kapitalismus verbunden.

1Dies ist ein Sonderfall im englischen Sprachgebrauch.

2 1923-1995, belgischer marxistischer Theoretiker, Universitätsprofessor, Trotzkist

3 Socialist Workers Party: Name verschiedner politischer, meist trotzkistischer Parteien. Gemeint ist entweder die englische oder amerikanische Variante.

4 Fidel Castro/ Kuba; Che Guevara/ Kuba; Ben Bell/ Algerien; Josip Broz Tito/ Jugoslawien; Nicolae Ceaușescu/ Rumänien; Enver Hoxha/ Albanien; Ho Chi Minh/ Nord-Vietnam; Oscar Alende/ Argentinien

5 Der Begriff “schizoid” beinhaltet einen Mangel an Interesse an sozialen Beziehungen, einer Tendenz zum zurückgezogenen, solitären Leben, emotionaler Kälte und Apathie.

6 Liberal-Feministisches Magazin aus den USA, gegründet 1971

7 An Schwarze gerichtete Boulevard und Pro-Konsum Zeitschrift, gegründet 1945