Erklärung der Black Flag Group an die Liverpooler Konferenz der Anarchistischen Föderation Großbritanniens, Sept., 1968

Erklärung der Black Flag Group an die Liverpooler Konferenz der Anarchistischen Föderation Großbritanniens, Sept., 1968

Stuart Christie, Adrian Derbyshire, James Herriott (Jim) Duke, Ross Flett, Ted Kavanagh, Albert Meltzer, Roger Sandell und Mike Walsh

Anarchismus ist eine revolutionäre Methode, um eine freie, gewaltlose Gesellschaft zu erreichen, ohne Klassenunterschiede oder aufgezwungene Autorität. Ob dies eine “utopische” Errungenschaft ist oder nicht, ist unerheblich; ein:e Anarchist:in ist nach jeder normalen Definition eine Person, die mit diesem Ziel vor Augen die Beseitigung autoritärer Strukturen anstrebt und auf dem Weg zu einer solchen Gesellschaft voranschreitet, indem sie die Menschen vom Staat unabhängig macht und den Klassenkampf intensiviert, damit die Mittel der wirtschaftlichen Ausbeutung geschwächt und zerstört werden.

Verwirrung

Es sollte keine Verwechslung zwischen Anarchismus und Liberalismus geben, wie militant letzterer auch sein mag (z.B. Bewegungen zur nationalen Befreiung). Ein:e Liberale:r sucht nach größerer Freiheit innerhalb der Gesellschaftsstruktur, die sie vorfindet; sie lehnt die Methoden des Klassenkampfes ab, die sich auf die ökonomische Spaltung der Gesellschaft beziehen. Da es aber eine solche Verwirrung gibt, finden wir, dass es nun ZWEI konträre Konzeptionen des Anarchismus gibt.

Es gibt nicht “so viele Vorstellungen wie es Anarchist:innen gibt” und auch nicht “tausend Fragmente”, sondern es gibt ZWEI, von denen wahrscheinlich beide auf dieser Konferenz vertreten sind. Die eine, die wir unterstützen und der wir als Organisation Kohärenz geben wollen, ist das, was wir als revolutionären Anarchismus bezeichnen müssen (obwohl der Anarchismus eine solche Qualifikation nicht nötig haben sollte), der besagt, dass es keinen Kompromiss mit dem Staat geben kann; dass es einen Klassenkampf gibt und dass durch Anpassung an die Klassengesellschaft nichts zu gewinnen ist. Es kann nur Revolution geben, auf den Straßen und in den Fabriken. Die andere Auffassung nennen wir liberalen Anarchismus (obwohl er sich selbst als revolutionär betrachten mag, während er das Wort normalerweise verhöhnt), der versucht, sich an die gegenwärtige Gesellschaft anzupassen, ohne die Notwendigkeit, den Staat zu stürzen (was als unwahrscheinliche Eventualität angesehen wird). Eine solche Anpassung könnte natürlich an den Kapitalismus oder sogar unter denselben Umständen an den Staatskommunismus erfolgen; und es gibt viele verschiedene Wege, auf denen sie hauptsächlich [gemacht] werden könnte.

Friedensbewegung

Soweit es dieses Land betrifft, sind solche sozial-liberalen Ideen hauptsächlich über die Friedensbewegung in die anarchistische Bewegung gekommen, die bestimmte grundlegende anarchistische Konzepte in Frage gestellt oder vielleicht nie verstanden hat. Indem wir das sagen, leugnen wir nicht, dass Pazifist:innen Anarchist:innen sein können (obwohl wir sie im Interesse einer kohärenten Aktion von unserer eigenen Gruppe ausschließen würden). Solange ihr Standpunkt nicht zu einer Mainstream-Tendenz wird, können wir zweifellos mit ihnen innerhalb der AFB1 zusammenarbeiten.

Wir halten das Prinzip des Pazifismus für irrelevant und im Großen und Ganzen für unanarchistisch (genauso wie einen Kult um Mäßigung oder Vegetarismus oder Kiffen oder “Aussteigen” zu machen – das sind alles Angelegenheiten für persönliche Entscheidungen, und obwohl sie oft von den wichtigsten sozialen Fragen ablenken, werden sie nur dann absurd, wenn sie zu einem Kult gemacht werden, dem alle folgen sollen, und zur wichtigsten sozialen Frage unter uns und in der Gesellschaft als Ganzes erhoben werden, während Angelegenheiten wie der Klassenkampf zurückgedrängt oder ignoriert werden). Dennoch ist das Problem, mit dem wir uns in dieser Konferenz auseinandersetzen, NICHT der Pazifismus als solcher, sondern die Tatsache, dass er die Tür für so viele liberale Annahmen geöffnet hat. Zum Beispiel, dass Gefängnisse reformiert werden können und nicht abgeschafft werden können (Vine2; Willis); dass wir so weit gehen sollten, Geld für Polizist:innen zu sammeln, die auf Demonstrationen verletzt werden (Featherstone)3; dass die Polizei eine notwendige Krücke für die Gesellschaft ist (Rooum)4; dass Kriminelle die einzigen freien Menschen sind, aber dass wir die Dienste der Polizei in Anspruch nehmen sollten, wenn es nötig ist (Schweitzer-Mariconi5).

Liberalismus

Sobald man akzeptiert, dass “Anarchismus mit der gegenwärtigen Gesellschaft in Beziehung stehen muss”, mit dem Kapitalismus ([Colin] Ward), kann man die Beteiligung am Management akzeptieren (Topham bis Ostergaard)6; oder die Notwendigkeit psychologischer und soziologischer Anpassungen an das Leben im Rattenrennen (verschiedene Author:innen, Anarchy); oder dass Besteuerung notwendig ist, um den ärmeren Klassen zu helfen ([Vernon] Richards); oder dass wir uns lediglich in einem Zustand des permanenten Protests gegen Missstände innerhalb der Gesellschaft befinden müssen (Sydney Libertarians); uns an gewaltfreie Methoden anpassen müssen (Peace News) oder an solche autoritären Körper wie die katholische Kirche ([Ammon] Hennacy) oder sogar unseren Frieden innerhalb des kommunistischen Staates machen müssen (Jeff Robinson)7.

Ein so verwässerter Anarchismus kann von der Monarchie anerkannt werden ([Sir Herbert] Read) oder mit dem Wählen der Labour Party vereinbar sein ([George] Melly); oder er kann auf einen bloßen imaginären Denkprozess reduziert werden, der zu einer intellektuellen Erlösung führt (verschiedene Author:innen, Minus One)8. Diejenigen, die das revolutionäre Konzept ablehnen, können verschiedene Ansichten haben, die von einer Ablehnung der zeitgenössischen Werte und einem bloßen Ignorieren des Staates in der Hoffnung, dass er verschwindet (Hippies, Diggers9) bis hin zu einer bewussten Provokation des Staates reichen, damit er seine vollen repressiven Kräfte einsetzt, ohne sich jedoch auf einen effektiven Widerstand vorzubereiten (zumindest einige der Provo-Situationist:innen).

Wir erkennen das, was wir als Liberalen Anarchismus bezeichnen, nicht als echten Anarchismus an, aber da er existiert, sind wir gezwungen, uns als Revolutionäre Anarchist:innen zu bezeichnen. Wir wissen nicht, inwieweit es in der AFB eine allgemeine Übereinstimmung mit uns gibt. Unsere derzeitige Absicht ist es, eine Mitgliederorganisation zu sein, innerhalb der AFB und lokaler Gruppen. Wenn wir andererseits den Großteil der Mitglieder der AFB repräsentieren, gibt es keinen Grund, warum die Organisation unser Programm nicht übernehmen kann. Zumindest diejenigen, die die Kontroversen in der libertären Presse verfolgt haben, werden wissen, worum es in diesem Flugblatt geht. Diejenigen, die aufgrund ihrer gegenwärtigen Erfahrung den Namen Anarchist:in abgelehnt haben, weil sie dachten, sie würden sich mit dem identifizieren, was wir hier Liberaler Anarchist nennen, sind eingeladen, ihre Position zu überdenken.

International

Die internationale Situation hat Ähnlichkeiten mit Großbritannien, nur dass dort die Tendenz, sich in den Rahmen der Gesellschaft einzufügen, von einem institutionalisierten Syndikalismus ausgeht oder wo Exilbewegungen bürokratisiert wurden. Darum ging es bei dem Zusammenstoß in Carrara10. Aber es war auch ein Zusammenstoß zwischen einer revolutionären Politik und einer Politik des “Sich-Einfügens”. Unser Ziel ist es, ein revolutionäres Programm zu erarbeiten, als eine Gruppe, die kein vorgefasstes Programm der Arbeiter:innenorganisation hat, sondern das Prinzip der direkten Aktion akzeptiert und mit den Leuten auf der Grundlage ihrer Überzeugungen und Handlungen arbeitet und nicht auf der Grundlage der bloßen Etiketten, die sie sich selbst geben, obwohl wir unsere eigene Identität bewahren.

(Originalunterzeichner) A. Meltzer, Ross Flett, Adrian Derbyshire, Stuart Christie, Roger Sandell, Mike Walsh, Jim Duke, Ted Kavanagh

Anmerkungen

Wie der Text deutlich macht, antwortet er auf verschiedene Auseinandersetzungen in der anarchistischen Presse, insbesondere Freedom und Anarchy. Ich war weder in der Lage, alle zu identifizieren, noch alle Aussagen aufzuspüren.

 

1An. d. Übs.: Anarchist Federation of Britain

2Ian Vine schrieb über Verbrechen und das Gesetz in Anarchy #59 & ‘Anarchism as a realist alternative’ Anarchy #74

3Siehe Godfrey Featherstone Brief in Freedom, 20 April 1968 und die Antwort in der darauf folgenden Ausgabe von Stuart Christie, Adrian Derbyshire, James Duke, Ross Flett, Albert Meltzer und Martin Page

4siehe Donald Rooum: “I’ve disloged a bit of brick“ in Anarchy #36

5Jean-Pierre Schweitzer „Prolegomena to an Anarchist Philosophy: 3 – Politics“, Minus One #13 spricht über ‘der Kriminielle ist der Anarchist “par excellence”’

6Tony Topham (Institute for Workers Control) war kein Anarchist; Geoffey Ostergaard schrieb über Arbeiter:innenkontrolle in Anarchy #2 und #80

7Ich habe keine entsprechende Behauptung von Jeff Robinson gefunden. Sein ‘A statement’ (inklusive ‘Inner freedom is possible in the modern world even in a prison cell’) Freedom #29 July 1967 zog Albert Meltzer auf: ‘The division is between those who see Anarchism as a living force, and those who think it an exciting name to use when talking about the need for children’s playgrounds.’ ‘An Understatement’ Freedom 19 August 1967.

8Minus One (“Individualist Anarchist Review”) see https://www.unionofegoists.com/journals/minus-one-1963/

9Radikale Community-Aktionsgruppe, die von 1966 bis 1968 in San Francisco aktiv war und bestand aus Aktivist:innen und Straßenkünstler:innen. Sie wurden als Community Anarchist*innen bezeichnet, die eine authentische Mini-Gesellschaft frei von der Unterdrückung durch Geld und Kapitalismus schaffen wollten.

10Carrara International Anarchist Congress, 31 Aug.-3 Sept. 1968.