Clabauter – Referat über die Geschichte und Theorie der Lettristischen Internationale und der Situationistischen Internationale

Der Titel ist selbsterklärend

 

 

 

 

 

 

Referat über die Geschichte und Theorie der Lettristischen Internationale und der Situationistischen Internationale

Von Clabauter

Stuttgart, 14. Januar 1997

Anmerkung der Herausgeber: Der Text wurde sprachlich angepasst und einige Zitate wurden mit neuen Auflagen der Texte aktualisiert.

Gegendert wird mit dem Artikel „die“, um einen besseren Lesefluss zu ermöglichen.

1. Teil: Zur Geschichte und Praxis

“Wenn es etwas lächerliches daran gibt, von der Revolution zu sprechen, dann natürlich deshalb, weil die organisierte revolutionäre Bewegung aus den modernen Ländern, (…) seit langem verschwunden ist. Noch viel lächerlicher ist aber alles andere, denn es handelt sich um das Bestehende und um die verschiedenen Formen seiner Duldung. (…)

Die Revolution ist aufs neue zu erfinden – das ist alles.”

(S.I. Nr. 6, August 1961)

Geschichtliche Zustandsbeschreibung

1945 – Der Krieg ist aus. Der Wiederaufbau beginnt; und während das französische Militär seiner Leidenschaft in einem Land namens Vietnam weiter nachgeht, soll in Frankreich alles wieder in das sogenannte zivile Leben eingeordnet werden. Die ersten Behördenvorschriften werden erlassen, es werden wieder Häuser gebaut, Straßen und Plätze bekommen neue Namen. Die Gesellschaft teilt sich weiter in Klassen auf. Es soll wieder lustig konsumiert werden.

In dieser Zeit findet sich in Paris ein wilder Haufen von Künstlern, Lebenskünstlern und “Tagedieben” zusammen, die sich die Lettrist*innen nennen, von “lettre”, der Buchstabe.

Den Grundstein für die lettristische Bewegung hatte ein gewisser Isidore Isou gelegt, der den Gedanken verfolgte, dass man einen alten abgestandenen Gegenstand in seine Bestandteile zerlegen muss, um daraus Grundstoffe für neue Schöpfungen herstellen zu können (Vgl. die Collagetechniken der Dadaist*innen). Das erste Testfeld für diese Technik war die Poesie. Trotz der trockenen und humorlosen Theoretisierung von Isou hatten die Lettrist*innen jede Menge Spaß daran, einem gesetzten Kunstpublikum bei Lesungen Gedichte aus Buchstaben vorzutragen, zur damaligen Zeit ein Skandal. Die Lust am Skandal dürfte bei vielen Lettrist*innen schon früher vorhanden gewesen sein, genauso wie der Wunsch, auch den eigenen Alltag zu verfremden oder ihre Mitmenschen und deren öde Gewohnheiten bloßzustellen, zu zerlegen, wenn nicht gar zu zerstören.

Aktionen der Lettrist*innen

Ein Beispiel, wie sie die Spießbürger aus ihrem Dämmerschlaf aufscheuchten, trug sich am 9. April 1950 bei einer Ostermesse in der Kathedrale “Notre Dame” in Paris zu. Es gelang einigen von ihnen, sich unter die Sonntagsbesucher*innen zu mischen. Einer der Lettrist*innen, Michel Mourre, war in einer Dominikaner-Kutte gekommen. Als sich die Gläubigen im Verlauf der Messe von ihren harten Bänken für eine Schweigeminute erhoben, schlich er sich auf die Kanzel, um eine sehr deutliche Botschaft in den Raum zu rufen. Ich zitiere:

“Heute am Ostersonntag des heiligen Jahres, hier im Zeichen der Basilika der Notre Dame de Paris, klage ich die universale katholische Kirche an, des tödlichen Missbrauchs unserer lebendigen Kräfte für einen leeren Himmel, klage ich die Kirche der Schwindelei an, klage ich die katholische Kirche an, die Welt mit ihrer Friedhofsmoral zu verpesten, das Krebsgeschwür des zerfallenen Okzidents zu sein.

Wahrlich ich sage euch: Gott ist tot!”

Hier an dieser Stelle wurde Mourre von dem Organisten unterbrochen. Der Rest der Rede wurde niemals gehalten. Ich zitiere den Rest dennoch, weil er so schön ist:

“Uns kotzt die röchelnde Seichtheit eurer Predigten an, denn eure Predigten sind der schmierige Dünger für die Schlachtfelder Europas. Geht hinaus in die tragische Wüste, die herrliche Erde, auf der Gott tot ist, und bestellt von neuem die Erde, mit euren nackten Händen, euren Händen des Stolzes, euren Händen ohne Gebete. Heute am Ostersonntag des heiligen Jahres, hier im Zeichen der Basilika der Notre Dame de Paris, erklären wir den Tod des Christengottes, um endlich den Menschen leben zu lassen.”

Nach dem ersten Schrecken wollten die Gläubigen ihre Nächstenliebe vergessen und den Unverschämten so behandeln, wie schon Lattenjupp behandelt wurde. Mit gezückten Schwertern stürzten sich die Schweizergardisten der Kathedrale auf die Verschwörer und versuchten, diese zu töten. Mourres Genossen rannten zum Altar und versuchten ihren Freund abzuschirmen. Einer von ihnen zog sich eine klaffende Gesichtswunde hinzu. Daraufhin hatte die Menschenmenge das Quartett bis an die Seine gehetzt und stand kurz davor die vier zu lynchen. Dort wurden sie dann von der Polizei gestellt oder besser gesagt gerettet. Mourre und Serge Berna wurden später einem Psychiater vorgeführt. Über den Befund ist leider nichts bekannt. Nach 11 Tagen Untersuchungshaft wurde Mourre in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, in der er dann christlich wurde oder besser gesagt geisteskrank.

Viele Aktionen waren jedoch weniger überlegt. Eines Tages wollten zwei Lettrist*innen den Eiffelturm in die Luft sprengen, weil er ihnen die Sicht aus ihrem Wohnzimmer versperrte. Sie erzählten es aber zu vielen, so dass sie festgenommen wurden, gerade als sie sich an den Turm heranschlichen.

Aber die Lettrist*innen zerhackten nicht nur Gedichte oder Gebetstraditionen. Sie versuchten ihr Morsealphabet auch in die Malerei und in das Kino zu tickern. Bei fast jeder ihrer Filmvorführungen kam es zu Tumulten im Publikum. Auf diese Reaktionen hatte man es auch abgesehen. In dem Film “Hurrlements en faveur de Sade” (Geheul für de Sade) von Guy Ernest Debord – auf diese Person werden ich noch des öfteren zurückkommen – sah man immer eine weiße Leinwand, wenn gesprochen wurde und eine schwarze, wenn nichts zu hören war. Die längste Dunkelphase in diesem Film betrug 24 min. Das Publikum hatte Gelegenheit zur Antwort oder zur Kinosesselakrobatik. Der Text bestand aus Gesprächsfetzen, gängigen Phrasen, Gesetzestexten oder z.B. Erinnerungen an die Lettrist*innen.

Die Aktivierung des Publikums war unter anderem ein Ziel der lettristischen Filme. Beispielsweise wurde das Publikum eine Stunde vor dem Saal warten gelassen und am Eingang ein Schild hingehängt mit der Aufschrift: “Der Film hat schon begonnen”. Es gab auch einen inszenierten Polizeieinsatz, mit dem das Publikum aus dem Kino vertrieben wurde. Bewegliche Gegenstände wurden vor die Leinwand geschoben, um die Projektion zu stören usw.

1952 kam es anlässlich eines weiteren öffentlichen Tumultes zur Spaltung der Lettrist*innen. Charlie Chaplin war nach Paris gekommen, um seinen neuen Film “Limelight” vorzustellen. Chaplin war in den USA in jener Zeit eine persona non grata. Seine Europareise wurde von den USA dazu genutzt, eine Verfügung herauszubringen, die ihn sofort einzuknasten erlaubte, falls er amerikanischen Boden betrete, mit der Begründung: Chaplin untergrabe mit seinen Filmen die amerikanische Moral. Journalist*innen von Zeitung und Funk drängelten sich im noblen Hotel Ritz, um den gefeierten Darsteller vom armen Bettler aus der Nähe zu sehen. Draußen prügelten sich die Lettrist*innen mit den Flics, die die feine Gesellschaft von den Lumpen sauber zu halten hatte. Zwei von ihnen gelang es die Absperrungen zu überwinden. Zwischen den schwarzen Anzügen fielen sie dann nicht nur mit ihren heruntergekommenen Klamotten auf, besondere Aufmerksamkeit erreichten sie durch das Verteilen von Flugblättern mit der Überschrift: “Schluss mit den Plattfüßen”. Dort stand an Chaplin gerichtet:

“Wir glauben dass die wichtigste Übung der Freiheit die Zerstörung von Idolen ist, besonders, wenn sie sich im Namen der Freiheit zu Wort melden. Sie sind jemand der auch sein Gesicht hinhält, wenn er schon den Arsch versohlt bekommen hat. Wir aber sind jung und schön; wir sagen Revolution, wenn Ihr Leiden sagt. Go home Mr. Chaplin”.

Isidore Isou verstand den Spaß nicht und distanzierte sich von der Aktion, weil er auf Angebote aus der Filmbranche für seine Filme schielte. Er hatte gar, wie vermutet wurde, die Aktion zuvor den Bullen verraten.

Daraufhin wurde die “Lettristische Internationale” (I.L.) gegründet, in der sich diejenigen zusammenfanden, die vor allem eine rebellische Praxis ihrer Ideen suchten und keine Kunstkarriere. Und während alle spektakulären Künstler bemüht waren, einen schönen Platz auf dem neuen Kunstmarkt zu ergattern, gefielen sich die Mitglieder der I.L. um so mehr darin, ihre vollständige Geringschätzung und ihren generellen Widerstand gegen dieses Theater kundzutun.

Das erste Auseinandersetzungsfeld der I.L. und der Feind war der Surrealismus, aber auch die Marxist*innen und Trotzkist*innen in Frankreich. Jedoch dort wo die sich aufhielten, fehlte es i.a. an Stil und Geschmack für die Frechheiten der I.L. Daher boten die Surrealist*innen als Gegner und Gegnerinnen mehr.

Ihre Reden und Schriften waren voll von Beleidigungen für die Speichellecker, Kriecher und Idioten, von denen sie sich im Kunstgewerbe, als auch im Alltagsleben umgeben sahen. Im Potlatch, einer lettristischen Zeitung, waren diese fast rührend naive, dennoch erfrischend radikale Worte zu lesen:

“(…)Alles, was irgendeine Sache beständig halten will, trägt zu Arbeit der Polizei bei. Denn wir wissen, dass alle Ideen und Verhaltensweisen, die es schon gibt, unbefriedigend sind. Die gegenwärtige Gesellschaft teilt sich in Lettrist*innen und Spitzel, von denen der entnervendste André Breton (einer der bedeutendsten Surrealisten; Anm. CB) ist. Es gibt keine Nihilisten; es gibt nur Machtlose. Fast alles ist uns verboten. Die Verführung Minderjähriger (damals unter 21; Anm. CB), und der Genuss von Rauschgiften wird verfolgt, wie sowieso alle unsere Verhaltensweisen, der Leere zu entkommen. Mehrere unserer Genossen sind wegen Einbruchs im Gefängnis. Wir protestieren gegen Strafen, die gegen die verhängt werden, die sich bewusst entschieden haben, niemals entfremdet zu arbeiten. Wir verweigern jede Diskussion darüber. Die Angelegenheiten der Menschen müssen Leidenschaften zur Grundlage haben, wenn nicht den Terror.”

Die Flugschrift Potlatch bestand aus hektographierten Blättern, deren Artikel allesamt mit einem Anti-Copyright versehen waren. Der Name “Potlatch” steht als Versprechen für eine Welt des Überflusses, des überbordenden Reichtums, der unbekümmerten ‘Verschwendung’ und des Spiels, für die Aufhebung warenförmiger Verkehrsformen; jenseits der Ökonomie, der Zweckgebundenheit und des kleinlichen Aufrechnens von Geben und Nehmen. Potlatch ist hier das Synonym für “die niemals enden wollende Fete” an der die kommende Revolution zu messen sein wird.

Historisch war das Potlatch eine Vorform des Warentauschs bei einigen indigenen Stämmen an der nördlichen Pazifikküste der heutigen USA. Ein Würdenträger lud einen anderen ein und überhäufte ihn mit Geschenken. Was dem Gast nicht gefiel, wurde zerstört. Der Ruhm des Gastgebers stieg mit dem Maß von Veräußerung, das er “zu Ehren” des Besuchers initiierte. Der “Sinn” lag darin, dass der Gast, durch diese Orgie des Gebens gedemütigt, nun seinerseits selbst ein solches Potlatch veranstalten musste, das keinesfalls hinter dem des Herausforderers zurückbleiben durfte, um sein Ansehen wieder herzustellen.

Die in dem Potlatch verteilten “unverkäuflichen Güter” bestanden aus den bislang unveröffentlichten Wünschen und Fragen der Lettrist*innen. Deren gründliche Analyse durch andere Menschen stellte ein Gegengeschenk dar. Das hektographierte Mitteilungsblatt wurde in einigen Vierteln von Paris verteilt und an wenige Gleichgesinnte in ganz Europa verschickt, zu denen Verbindung gehalten wurde und mit denen man die Debatte führte.

Stets bereit, sich Feinde zu machen und als unduldsam zu gelten, signalisierte auch ihre Kleidung die Ablehnung gängiger Modevorschriften. Die Haare ungekämmt, gelegentlich gefärbt, die Frauen schrill geschminkt. Die Kleider waren stets verschmutzt, wenn nicht sogar mit ihren Parolen beschmiert oder zerrissen. Drogen gehörten zu ihren ständigen Wegbegleitern, nicht selten bis in den Tod. Rauschtaten waren an der Tagesordnung. Der Vergleich zum über 20 Jahre späteren Punk der 70er Jahre drängt sich auf. Sex mit Minderjährigen war verboten; viele der Lettrist*innen waren aber noch minderjährig; andere hatten keinen festen Wohnsitz (damals auch ein Strafbestand). Das alles gab immer wieder Anlass zu Ärger mit der Polizei.

Laut ihren eigenen Erzählungen war Lohnarbeit ein Schimpfwort in ihren Kreisen. Das Geld zum Leben musste dennoch irgendwoher kommen. Das verdienten sie sich mit kleinen Diebstählen, Haschisch verkaufen, Betteleien, Statistenrollen beim Fernsehen, Modell stehen beim Maler oder schon auch mal mit dem Verkauf eines Bildes. Ihre Hauptbeschäftigung war das “Umherschweifen”- “dérive” – (darauf komme ich später bei der Theoriebildung noch mal), was bedeutete: nüchtern oder breit durch die Gegend zu ziehen, immer auf der Suche nach einem Abenteuer oder einer Entdeckung. Dabei verklebten oder verteilten sie kleine Handzettel oder bemalten die Wände mit Parolen.

Ihre Treffpunkte waren bestimmte Kneipen, wo sie redeten, tranken, kifften und Würfel spielten. Einen kleinen Einblick in das Leben der Mitglieder der I.L. kann ein Brief von Gil Wolman aus dem Jahr 1953 geben:

“… ich bin wieder zurück. (…) Auch unter Vorbehalt auf freiem Fuß Jean Michel und Fred (Wohnwagen ausgeraubt – betrunken natürlich). Elaine, die Kleine, ist letzte Woche aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Passierte nach einer dramatischen Festnahme in einem Dienstmädchenzimmer (…) mit Joel und Jean (erübrigt sich zu sagen, dass sie besoffen waren); die Polizei hat die Tür eingetreten, weil sie nicht aufmachten. Bei der Geschichte haben sie das Siegel der I.L. verloren. Linda ist noch nicht verurteilt, Sarah immer noch im Knast (…). Es gab noch weitere Festnahmen für reine Nichtigkeiten, ich weiß nicht genau was, aber es ist alles Blödsinn. G.E. (Debord; Anm. CB) war 10 Tage in einem Sanatorium, wohin ihn seine Eltern nach einem missglückten Selbstmordversuch (Gas) gebracht hatten. Er ist wieder im Viertel. Serge müsste am 12. Mai rauskommen. Gestern habe ich reichlich gekotzt im Moineau. Der letzte Schrei im Viertel: Die Nacht in den Katakomben verbringen (wieder eine Entdeckung von Joel). Ich habe viele Projekte, aber welches wird bleiben …”

Diese Melancholie im Nachsatz war des öfteren der Grundtenor bei den Lettrist*innen: “Alle Mittel sind uns recht, um sich zu vergessen: Selbstmord, Todesschmerzen, Drogen, Alkoholismus, Wahnsinn” schrieben sie im Potlatch und jedes dieser Mittel hat einigen von ihnen das Leben gekostet. “Wie auch immer, lebend werden wir hier nicht rauskommen.” schrieb Debord in der Potlatch Nr 2. So konnte es also nicht mehr weitergehen. Debord schrieb später über die Veränderung im Leben der Lettrist*innen folgendes:

“Die erste Phase des Konflikts zeigte, trotz ihrer Schärfe, bei uns sämtliche Eigenschaften einer statischen Defensive. Weil sie örtlich definiert war, hatte eine spontane Erfahrung sich als solche nicht ausreichend begriffen, und auch die großen Möglichkeiten der Subversion, die in der offensichtlich feindlichen Welt lagen, wurden übersehen.”

Doch wie von der Defensive in die Offensive gelangen? Wie konnten die Möglichkeiten der Subversion gefunden werden?

Dieser offensivere Weg war allerdings in der Lettristischen Internationale schon in diffuser Form angelegt und wurde später bei der Situationistischen Internationale ausgearbeitet.

Die I.L. arbeitete bei ihrer ersten Konferenz 1952 folgende Richtlinien aus:

– Weiterführung der kulturellen Subversion

– Ablehnung einer regressiven Moral, bis genauere Kriterien festgelegt werden können

– äußerste Umsicht bei der Veröffentlichung persönlicher Arbeiten, die die I.L. verpflichten können.

– Ausschluss, sollte jemand unter seinem Namen eine kommerzielle Arbeit veröffentlichen.

Die I.L. hatte eine Losung: “Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“. Für die I.L., so Debord, sei dies lediglich eine Parole gewesen, ein Schlüssel zum Eintritt in das Reich von “Spiel und öffentlichem Leben“.

Diese Losung stammt von Nietzsche und dieser hatte sie von Hassan i Sabbah. Wenn nichts wahr ist, außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist, dann ist alles möglich.

Daher kann man auch das Vorgefundene für das eigene Spiel benutzen; die Schwierigkeit besteht lediglich darin, dem Bestehenden die eigenen Spielregeln aufzuzwingen.

Diese Schwierigkeiten sollten nun in Debords nächstem Projekt, nämlich der Situationistischen Internationale, systematisch angegangen werden.

Von der I.L. zur S.L.

1957 war G.E. Debord, als Wortführer der I.L., einer der wichtigsten Betreiber, bei der Gründung einer neuen Internationalen – der “Situationistischen Internationalen” (S.I.). Hier traf Debord mit dem dänischen Maler Asger Jorn zusammen, der durch seine bisherigen Arbeiten die Verbindungen besaß, eine wirklich internationale Organisation aufzubauen. Bald formierten sich kleine situationistische Gruppen, über ganz Westeuropa verteilt, bis Nordafrika (Algerien) und es gab sogar eine amerikanische Sektion. Es muss allerdings gesagt werden, dass es sich dabei um nie mehr als insgesamt 70 Personen handelte.

Die Verhaltensweisen der Lettrist*innen wurden zum Programm der S.I.: Umherschweifen, Psychogeographie, Konstruktion von Situationen des Aufruhrs, Zweckentfremdung (Entwendung, détournement) aller Mittel und Möglichkeiten, die ihnen zwischen die Finger kamen, und Propagierung eines spielerischen Lebens. (siehe genaueres im 2. Teil).

Die S.I. gab eine Zeitschrift mit metallisch glänzendem Einband heraus, die ebenfalls wie zuvor der Potlatch mit einem Anti-Copyright versehen war.

Bis 1962 war die S.I. immer noch eine Gruppe von Malern, Künstlern und Straßenaktivisten. 1961 wären die Situationist*innen von einem reichen Kunstliebhaber – Paolo Marinotti – gesponsort worden, eine Experimentalstadt auf einer kleinen Mittelmeerinsel zu errichten. Er bewilligte alle finanziellen Mittel; in der Stadt sollten emotionale Viertel angelegt werden; es sollte auch ein Viertel der Angst geben. Der Plan scheiterte, denn die Situationist*innen wollten nicht eine Stadt, wie sie in den meisten Utopien entworfen wird, sondern eine gebaute Kritik dieser Ideale, und sie wollten sich auch nicht mit den Abfällen der Industriegesellschaft zufrieden geben. Brisanter jedoch war eine andere Forderung: es sollte der S.I. freigestellt sein, ihre Konstruktion jederzeit in die Luft jagen zu können. Sie wollten nicht, dass eventuell Werbefilmer oder die Mannequins von Marinottis Textilunternehmen vielleicht eines Tages als künstliche Menschen im situationistischen Utopia umherlaufen würden.

Kurze Zeit später verließ die S.I. nun endgültig die Sphäre der Kunst, die sie bis dahin noch auf deren Terrain heftigst angegriffen und sabotiert hatte; danach empfanden sie die Kunst nicht einmal mehr einer derartigen Beachtung für würdig. Nach heftigen Kämpfen innerhalb der Organisation, ob Kunst noch nützlich bei der Schaffung von Situationen sei, wurden alle Maler und Künstler Schlag auf Schlag ausgeschlossen.

Die S.I. wirkte daraufhin eine Zeitlang wieder nur in Paris, wo sie sich mit der Analyse der modernen Warengesellschaft und Aufstandsbewegungen beschäftigte und meiner Meinung nach die effektivste und radikalste Kritik des modernen Kapitalismus ihrer Zeit hervorbrachte. Darauf werde ich noch genauer eingehen.

1966 machten die Situationist*innen erneut von sich reden. In Straßburg gelang es einer Gruppe von S.I. beeinflussten Student*innen, die Mehrheit in der Studentenvertretung zu erlangen. Daraufhin wandten sie sich an die S.I. und gingen der Frage nach, wie viel Ärger man mit dem zugebilligten Jahresbudget von 1,2 Millionen Franc (damals war das Geld noch mehr wert) anstellen kann. “Wir haben ein Stück Macht,” sagten sie, “das wollen wir kaputtmachen. (…) Wir wollen Unruhe stiften, soviel wir können – doch wie?” “Macht es alleine“, antwortete die S.I. und fügte ein Zitat hinzu, das Debord einige Jahre davor schrieb: “Eine revolutionäre Organisation darf nie vergessen, dass ihr Ziel nicht darin besteht, die Leute dazu zu bringen, dass sie den Reden fachmännischer Führer lauschen, sondern darin, dass sie für sich selbst reden.” Die S.I. machte jedoch noch ein paar Vorschläge, die von den Student*innen begierigst aufgenommen wurden, u.a. auch den Vorschlag, eine Broschüre zu machen, die dann allerdings doch von einem Situationisten – Mustapha Khayati – verfasst wurde, als sich herausstellte, dass die studentischen Verschwörer sich als unfähig erwiesen hatten, mit einem eigenen Statement an die Öffentlichkeit zu treten.

Bald waren die Mauern von Straßburg mit Comiczeichnungen vollgeklebt, die schwer verständliche Texte über Weltwirtschaft und Revolution in den Sprechblasen hatten. Bezeichnet wurde dies Aktion als “Die Rückkehr der Colonne Durruti” und war ebenfalls als kleine Broschüre erhältlich. Anlässlich der Eröffnung des Semesters wurde den versammelten Student*innen die erstgenannte Broschüre überreicht, nachdem die Antrittsrede eines Professors mit reifen Tomaten verkürzt wurde. Der Titel des an eine wissenschaftliche Untersuchung erinnernden Heftchens lautete: “Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen, sexuellen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen.

Der erste Satz lautete:

“Ohne große Gefahr, uns zu irren, können wir behaupten, dass der Student in Frankreich nach dem Polizisten und dem Priester das am weitesten verachtete Wesen ist …”.

Die Broschüre endete mit den Worten:

“Die radikale Kritik und die freie Neukonstruktion aller von der entfremdeten Wirklichkeit aufgezwungenen Werte und Verhaltensweisen sind sein (dem Proletariat, Anm. CB) Maximalprogramm und die befreite Kreativität bei der Konstruktion aller Augenblicke und Ereignisse des Lebens ist die einzige Poesie, die es (das Proletariat, Anm. CB) anerkennen kann; die Poesie, die von allen gemacht wird, der Beginn einer großen revolutionären Fete. Die proletarischen Revolutionen werden Feten sein, oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen der Fete geschaffen werden. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieser Fete, Leben ohne tote Zeit und Genuss ohne Hemmnisse sind seine einzig anerkannten Regeln.”

Nachdem sie die Schmähschrift verteilt hatten, gaben sie der aufgebrachten Universitätsleitung die Versicherung, sofort alle Ämter niederzulegen, um zu zeigen, was sie von der kleinen Rolle hielten, die ihnen im Demokratiespiel zugedacht war.

Die Broschüre wurde in fast alle Sprachen Europas übersetzt und in den Großstädten verteilt – gemeinsam mit einem Gerichtsurteil, das den Situationist*innen bescheinigte, sie hätten ihre studentischen Kollegen, Professoren, Gott, die Kirche, jede Regierung und das soziale System in der ganzen Welt durch den Schmutz gezogen.

Khayati sagte kurz danach, es sei für die S.I. nur ein kleines Experiment, ein bescheidener Versuch gewesen, die Praxis herbeizuführen, mit der man die Krise der Gesellschaft insgesamt beschleunigen könne.

An Universitäten in ganz Frankreich bildeten sich nach dem Straßburger Vorbild kleine Gruppen und bestürmten die S.I. mit der Bitte nach Instruktionen; die einzige Instruktion der S.I. lautete, dass sie autonom handeln und die Revolte vorantreiben sollen, die ihnen ja selbst etwas bedeute.

1968 war die S.I. wieder beteiligt, die Ereignisse, die unterschwellig rumorten, in einem verschlafenen Vorort von Paris – Nanterre – eskalieren zu lassen.

Ein Häuflein S.I.-Fans, die sich “Les Enragés” (die Wütenden) nannten, kamen in Nanterre zusammen und sprengten zwei Monate lang die Seminare. Sie bemalten die Wände mit Slogans wie: “Die Gewerkschaften sind Bordelle“, “Alles zweifelhafte muss angezweifelt werden“, “Ich nehme meine Sehnsüchte als Realität, weil ich an die Realität meiner Sehnsüchte glaube” “Je mehr ihr konsumiert, desto weniger lebt ihr” usw.

(Kleine Anmerkung am Rande: Fred Vermorel, ein Freund von Malcolm McLaren – der spätere Manager und Designer der Sex Pistols – und von Jamie Reid, besuchte in dieser Zeit die Pariser Nobeluniversität Sorbonne. McLaren hatte später auch Kontakt zu Christopher Gray, der bis 1967 Mitglied in der S.I. war. Er vermarktete nicht nur die Sex Pistols, sondern auch die Wandparolen von Paris, die er auf T-Shirts drucken ließ. So lässt sich eventuell einer der Gründe erklären, warum die Outfits und die Gesten der Punks so viel Ähnlichkeit mit denen der Lettrist*innen hatte.)

Die Parolen der Wütenden mit vielen Zitaten aus der Zeitschrift der Situationist*innen verschönerten also die Wände der Universität:

“Leben ohne tote Zeit”

“Langeweile ist immer konterrevolutionär”

“Kunst ist tot – iss nicht von einer Leiche”

In den Auseinandersetzungen um Studiumsfragen wurde von der bedrängten Universitätsleitung die Polizei zu Hilfe gerufen, aber auch die konnte die Tumulte nicht unter Kontrolle bringen, und der Aufruhr breitete sich im Mai 68 bis Paris und noch weiter aus.

Was folgte“, hieß es in einem Le Monde-Bericht über die Nacht des 6. Mai 1968, “übertraf an Ausmaß und an Gewalt alles, was an einem ohnehin erstaunlichen Tag geschehen war.” Sorgfältig überwachte, gewaltlose Demonstrationen verwandelten sich in einen Potlatch aus Tränengas, Schlagstöcken sowie Brandbomben auf der einen Seite und Pflastersteinen, Barrikaden, brennenden Autos und Molotowcocktails auf der anderen.

Es gab Unibesetzungen, Fabrikbesetzungen. Die Arbeiter, die ihre Fabriken besetzten, handelten nicht aus Solidarität mit den Leuten, die in Paris Randale machten; wie die Leute in Paris, nahmen sie den Zusammenbruch der Autorität zum Anlass, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Es kam zum größten Aufstand in der Nachkriegsgeschichte Frankreichs, der Staat zog schon das Militär zusammen, um die Erhebungen, die auf die Fabriken übergriffen und zu einem Generalstreik geführt hatte, zu unterdrücken. Charles De Gaulle, der kurz vor der Flucht stand, sagte in einer Fernsehansprache am 7.7. 1968:

“Diese Explosion ist hervorgerufen worden von einigen Gruppen, die sich gegen die moderne Gesellschaft auflehnen, gegen die Konsumgesellschaft, gegen die mechanische Gesellschaft, sei sie nun im Osten oder kapitalistisch im Westen. Gruppen, die im übrigen nicht wissen, durch was sie die bisherige Gesellschaft ersetzen würden, aber die sich an der Negation, der Zerstörung, der Gewalt, der Anarchie ergötzen, die die schwarze Fahne schwingen.”

Am 14. Mai vereinigten sich die Wütenden mit der Situationistischen Internationale. Ein Enragé – René Riesel – wurde in das Besetzungskommitee der Sorbonne gewählt. Während einige Wortführer für eine Humanisierung des pädagogischen Apparates eintraten, plädierte Riesel für die Abschaffung der Universität, der Ware, des Klassensystems, der Lohnarbeit und die Enteignung allen Besitzes und aller Macht, sowie einen Neuaufbau des Gemeinwesens als Föderation autonomer, nur sich selbst verantwortlicher Räte. Die “Enragés” und die S.I. handelten im Namen der Versammlung und begannen Kontakte zu den besetzten Fabriken herzustellen, gaben Flugblätter heraus und verschickten Telegramme; so z.B. an das Politbüro der KPdSU im Kreml:

“ZITTERT BUEROKRATEN STOP DIE INTERNATIONALE MACHT DER ARBEITERRAETE WIRD EUCH BALD VOM TISCH FEGEN STOP DIE MENSCHHEIT WIRD ERST AN DEM TAG GLUECKLICH SEIN AN DEM DER LETZTE BUEROKRAT AN DEN GEDAERMEN DES LETZTEN KAPITALISTEN AUFGEHÄNGT WORDEN IST STOP ES LEBE DER KAMPF DER MATROSEN VON KRONSTADT UND DER MACHNOWTSCHINA GEGEN TROTZKI UND LENIN STOP ES LEBE DER RAETEAUFSTAND VON BUDAPEST 1956 STOP NIEDER MIT DEM STAAT STOP ES LEBE DER REVOLUTIONAERE MARXISMUS STOP BESETZUNGSKOMITEE DER AUTONOMEN VOLKSSORBONNE”

Noch am selben Tag verließen sie das Besetzungskomitee, dessen Unentschlossenheit und Zersplitterung sie verurteilten. Mit vierzig anderen rief das Dutzend “Enragés” und Situationist*innen den “Rat zur Aufrechterhaltung der Besetzungen” ins Leben, verbreitete bis zum 15. Juni einige hunderttausend Kopien ihrer Plakate, Manifeste und Comics überall in Frankreich und, in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt, auf der ganzen Welt.

Der Mai 68 von Paris ist mittlerweile fast völlig aus der offiziellen Geschichte verschwunden. Doch während er verschwunden ist, wurde die Rolle, die die S.I. dabei gespielt hat, fast von Anfang an praktisch ausgemerzt. Das liegt sicherlich auch ein stückweit daran, dass sie sich so viele Feinde gemacht haben – und daran, dass die absoluten Forderungen, die sie an das Ereignis gestellt richteten, so extreme Definitionen seines Erfolges und Misserfolges hinterließen, dass keine vernünftige wissenschaftliche Abhandlung darüber sich auf sie beziehen konnte ohne sentimental, verrückt oder beschämt zu wirken.

Das Ereignis selbst gehorchte jedoch nicht den Gesetzen der traditionell marxistischen Geschichtsschreibung. Es gab keine Wirtschaftskrise; die politische Legitimation war von keinem in Frage gestellt worden, der über ein für diese Infragestellung angemessene Form verfügte. Es gab einen modernen, gut funktionierenden kapitalistischen Wirtschaftsstaat, mit einem Mann von enormem öffentlichem Prestige an der Spitze – Charles de Gaulle.

Aber es gab die Allgegenwart dessen, was Henri Lefèbvre (ein marxistischer Philosoph) später die Negation nannte, die die Moderne in sich birgt: die Ahnung, wie der Situationist Réné Viénet formulierte, dass “das Vertraute im entfremdeten Leben und in der Ablehnung dieses Lebens nicht notwendigerweise bekannt ist.

So enorm die Ereignisse während der Hochphase dieser Kämpfe auch waren, das Ergebnis ist jämmerlich: Bildungsreform für die Student*innen und eine Lohnerhöhung für die Fabrikarbeiter*innen. Auch hier behielten die Situationist*innen einmal mehr recht, als sie zwei Jahre vorher an die paar Student*innen aus Straßburg schrieben:

“Auch wenn ihr die von der Gesellschaft für euch vorgesehenen Karrieren aufs Spiel setzt, müsst ihr bedenken, dass der Kompromiss keinerlei Schutz gewährt, dass allein der Erfolg des Skandals diejenigen schützt, die ihn auslösen, dass man sich sein eigenes Grab schaufelt, wenn man die Revolution nur halbherzig macht.”

Nach mehreren Ausschlüssen und internen organisatorischen Debatten lösten die beiden als letztes verbliebenen Situationist*innen Debord und Sanguinetti die S.I. 1972 auf. Sie veröffentlichten noch ein Zirkular, in dem sie einige wesentlichen Gründe des Scheiterns benennen, aber auch das, was die S.I. erreicht hat:

“Während die Scheinerben des Marxismus in einer mit Positivität vollgestopften Welt den Teil des Negativen vergaßen und damit zugleich die Dialektik ins Museum brachten, verkündigten die Situationist*innen die Auferstehung eben dieses Negativen und erkannten die Wirklichkeit eben dieser Dialektik, deren Sprache und deren aufrührerischen Stil sie fanden.” (Debord/Sanguinetti)

2. Teil: Zur Theorie, dem Spiel mit der Negation

(Anmerkung: Die chronologische Trennung zwischen der I.L. und der S.I. wird nun im folgenden Teil aus Darstellungsgründen aufgegeben. Da – wie oben gesagt wurde – die Theorie der Situationist*innen bei der Lettristischen Internationale schon angelegt war, ohne genau ausformuliert zu sein, werden die folgenden historischen Ungenauigkeiten nicht auf Kosten der Theorieaneignung gehen.

Um einen raschen Überblick der wichtigsten Kategorien der S.I. zu gewährleisten, sind wesentliche Begriffe der situationistischen Theorie fett gedruckt.)

Die Situationisten und Situationistinnen und ebenso ihre Vorläufer, die Lettrist*innen, waren Spieler*innen. Sie pokerten und starteten eine Wette, die nicht geringer war, als, um es mit Marx zu sagen, “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.” Sie verloren die Wette allerdings, auch wenn es bei den Mai-Aufständen in Paris 68 kurz so aussah, als würde eine neue Epoche beginnen. Doch was könnte uns heute noch an diesen Verlierer*innen der Geschichte für die revolutionäre Theoriebildung interessieren? Mich fasziniert vor allem ihr bis zur äußersten Konsequenz durchgeführter “Stil der Negation”, den ich als Anknüpfungspunkt für eine der heutigen Zeit angemessene revolutionäre Theoriebildung und Praxis sehe.

“Sie (die I.L., Anm.) wollten die erste Revolution in die Wege leiten, die bewusst nicht aus einer Kritik am Leiden an der herrschenden Gesellschaftsordnung hergeleitet wird, sondern aus einer “totalen Kritik ihres Glücksbegriffes”, einer in Taten manifestierten Kritik, einer neuen Praxis des Alltagslebens.” (Greil Marcus)

Die Methoden der I.L. und der S.I.

Die Lettrist*innen wollten spielerisch und experimentell die Gewohnheiten in einer ständigen Veränderung halten, ein launisches Leben in der Stadt führen und die verachteten Neigungen der Menschen entwickeln, um mit ihnen die Konfrontation zu organisieren.

Sie praktizierten eine Methode, die sie dérive nannten, ein zielloses und forschendes Umherschweifen in beweglichen Szenarien.

Dérive ist experimentelles Vorgehen in einer Forschung, gleichermaßen forciert und beschleunigt in der Bewegung, wie systematisch und ziellos in seiner Orientierung. In den deutschen Übersetzungen steht für das dérive der Begriff “Umherschweifen”.

Debord hielt den Begriff in der Waage zwischen Hingabe an eine Szenerie, indem man sich ohne festen Kurs dem Spiel der Umgebung aussetzt, und der bewussten Entwicklung eines Verhaltens, das sich der Außenwelt zugänglich macht; ein Verhalten, das den Raum findet, erkennt, sich schnell entscheidet und abwendet, um zu neuen Räumen zu gelangen. Es ist ein dynamisches, in Gegensätzen operierendes, Zeit- Raumkontinuum. “Das Konzept des Umherschweifens ist untrennbar verbunden mit der Erkundung von Wirkungen psychogeographischer Natur und der Behauptung eines konstruktiven Spielverhaltens, was es in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spazierganges entgegenstellt.” (S.I. Nr. 2)

Das dérive ist also ein mit der Suche nach anziehenden und abstoßenden Zeichen verbundenes Umherschweifen z.B. durch die Straßen der Stadt, also z.B. sich den Versprechungen der Stadt hinzugeben, um dann herauszufinden, dass es sie nicht gibt, und es ihren Zeichen gestattet, seine Schritte umzulenken, um diese Zeichen anschließend selbst wieder umzulenken und sie zu zwingen auf Wege hinzuweisen, die nie zuvor existiert haben. Das dérive ist als Kritik am Urbanismus entstanden und umgekehrt wird der Urbanismus durch das dérive systematisch kritisierbar. Die Psychogeographie ist dabei “die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus, das bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt.” (Debord, Rapport)

Eine weitere Methode war das détournement. Das détournement bedeutet Zweckentfremdung, Entwendung, Umleitung, Verführung, Missbrauch, Abweichung, Wiedereinsetzung. Es soll verleiten, verderben, verführen, ästhetische Artefakte aus ihren Zusammenhängen entfernen und sie in neue selbstentworfene Zusammenhänge umleiten. “Entwendung” oder “Zweckentfremdung” sind die Übersetzung in den auf deutsch erschienenen Texten der Situationist*innen. Sie werden im folgenden synonym behandelt. “Es ist eine neue Art sozialer Sprache; eine Kommunikation, die die Kritik ihrer selbst enthält; eine Technik, die nicht mystifizieren kann, da sie schon von der Form her Entmystifizierung ist.” (Greil Marcus)

Alle kulturellen Produkte sind Gemeingut (daher hatten ihre Zeitschriften ein Anti-Copyright), eine Trennung zwischen Autor und Leser existiert nicht und Quellen werden keine angegeben, denn alle Ideen schweben frei im Raum, werden durch die Geschichte hochgespült oder versinken.

Die Entwendung (détournement) ist aber auch eine peinlich genaue Recherche aus Geschichte und Soziologie, bewaffnet mit den Freiheiten der Poesie.

Asger Jorn, der den künstlerischen Flügel der S.I. repräsentierte, kennzeichnet die Zerstörung vorgegebener Werte als eine Grundbedingung der schöpferischen Fähigkeiten und legte damit nahe, der Zweckentfremdung in der gesamten Geschichte der Kunst nachzugehen. Debord stellt die Entwendung weitergehender in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang:

“Die zwei grundlegenden Gesetze der Entwendung sind die bis zum völligen Verschwinden gehende Bedeutungsminderung eines jeden autonomen entwendeten Elements und der gleichzeitige Aufbau einer anderen bedeutungsvollen Gesamtheit, die jedem Element seine neue Tragweite verleiht.” (Debord)

Das treibende Moment der Zweckentfremdung wird als eine systematische Entwertung gekennzeichnet, die darauf fußt, dass an kulturellen Gütern nichts Erhaltenswertes zu finden sei, dass die in der Gesellschaft selbst wirkende Tendenz der Auflösung, diese bis zur Lächerlichkeit gehende Verschlechterung, zu forcieren sei, und dass die künstlerischen, theoretischen und praktischen Techniken und Werke hierbei nur eine Anwendung erfahren, niemals einen Wert.

“Im weiten Begriffssinn bedeutet ‘entwenden’ etwas global ins Spiel bringen. Die Entwendung (oder radikale Umfunktionierung) ist die Geste, mit der sich die spielerische Einheit der Lebewesen und der Dinge bemächtigt, die in ihrer Ordnung hierarchisierter Teilbereiche erstarrt sind” (Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen)

Die Entwendung ist eine Strategie der Subversion. Die gesellschaftlichen Trennungen machen die Entwendung zur effektiven Waffe im Dienst der Totalität, die der aufständischen Praxis als angemessenste Form einer revolutionären Geste dient. Sie soll erstarrte Elemente von Theorie und Praxis wieder verflüssigen und ihre verschütteten Formen wieder freilegen.

“Die Entwendung führt die vergangenen kritischen Folgerungen, die zu ehrenwerten Wahrheiten erstarrt sind, d.h. in Lügen verwandelt wurden, wieder der Subversion zu.” (Debord, Spektakel These 206)

Die Entwendung kam auch bei Debords Theoriebildung zum Einsatz. Das wird weiter unten deutlicher. Die Entwendung war dabei die Praxis der Theorie, die in eine Theorie der Praxis umschlagen sollte, um allen revolutionären Kämpfen Munition zu liefern.

Der dialektische Begriff der Negation ist einer der bedeutendsten im Konzept der S.I. In ihm offenbart sich die gesamte Kritik der materialistischen Dialektik an den bestehenden Verhältnissen. Debord schreibt über den “Stil der Negation“:

“Dieser Stil, der seine eigene Kritik enthält, muss die Herrschaft der gegenwärtigen Kritik über ihre ganze Vergangenheit ausdrücken. Durch ihn bezeugt die Darlegungsweise der dialektischen Theorie den negativen Geist, der in ihr steckt. (…) Dieses theoretische Bewusstsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muss, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik.” (Debord, Spektakel These 206)

Der Geist der Negation ist allerdings nicht zu verwechseln mit Nihilismus. Dazu schreibt Greil Marcus:

“Nihilismus bedeutet die Welt in ihrem eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint; doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offen lässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Nihilisten sind Solipsisten: keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real.

Negation ist immer politisch: sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja sie ruft sie erst ins Leben.

Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – , auch die des Nihilisten.

Da der Negationist zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt er, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint.” (Greil Marcus)

In Debords Stil dieser Negation zeigt sich auch, dass seine Sprache geprägt ist von Marx. Marx’ Poesie ist ein eigener Stil. Es ist die permanente Umstellung des Genitivs und die Überkreuzstellung von Wörtern. So schrieb Marx z.B.: “Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf” oder “Die Waffe der Kritik, kann nicht die Kritik der Waffen ersetzen.” (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)

Das ist auch Debords Rhythmus. Gleichzeitig ist es die umkehrbare Kohärenz en miniature, welche die Situationist*innen im Großen einsetzen wollten. Es ist “der aufrührerische Stil”, wie es Debord nannte, als er diese Art zu Reden übernahm.

Im Übergang von der I.L. zu der S.I. deutete sich in einem lettristischen Film Debords ein neuer Begriff an, der der S.I. zu ihrem Namen verhalf. Er sagte in diesem Film:

“Eine Wissenschaft der Situationen muss betrieben werden, die der Psychologie, der Statistik, dem Urbanismus und der Moral Elemente entnimmt. Die Elemente müssen in einem völlig neuen Ziel zusammenlaufen: der bewussten Kreation von Situationen. (…) Die zukünftigen Künste werden Umwälzungen von Situationen sein oder nichts.” (Debord; Gegen den Film)

Was bedeutete der Begriff “Situation” für die Situationist*innen?

Selbst heute empfinden wir den Begriff der Situation, trotz aller Neutralisierungen des Wortes, als eine Möglichkeit, die etwas Peinliches oder Tragisches zwischen den Menschen bringen kann, in der man sich beweisen könnte oder die man zu nutzen verstehen muss.

Die Situation ist komplex, vielschichtig, mit Unsicherheiten; ein Vorgang, der von mehreren Menschen erlebt wird und die Beteiligten grundsätzlicher bewegt, als z.B. die “Lage” oder die “Gelegenheit”.

Weil die Situation die Gegensätzlichkeit von Bewegung und Bewegungslosigkeit, von Gewissheiten und Ungewissheiten enthält, ermöglicht sie eine Aktualisierung und eine Ausbreitung der Konflikte. Sie wird zum Gegenstand einer Reflexion, die vor Erschütterungen und Schrecken nicht bewahrt werden kann.

Im Kunstkontext wird des öfteren vom Situationismus gesprochen. Für die Situationist*innen war dies ein sinnloses Wort, ein Missverständnis oder eine vom Gegner lancierte Fälschung. Sie wollten kein Ismus sein, denn Ismen sind Ideologie. So wurde das marxistische Denken in den sogenannten Arbeiterstaaten verfälscht.

Greil Marcus schreibt über die Situation folgendes:

“Jede Situation soll die Umgebung für Experimentalformen eines revolutionären Spiels darstellen; jede Situation soll ihren Schauplatz verändern und zulassen, dass sie selbst verändert würde. Die Stadt sollte für die I.L. fortan nicht mehr als Kulisse von Waren und Macht erlebt werden; man sollte sie nun als Feld der “Psychogeographie” empfinden, und diese würde eine Epistemologie (Erkenntnistheorie; Anm. CB) des alltäglichen Lebens und Raumes sein, die es einem gestattet, “die exakten Wirkungen der gegebenen oder bewusst eingerichteten, direkt auf das Gefühlsverhalten des Individuums einwirkenden geographischen Umwelt” zu verstehen und umzuwandeln.” (Greil Marcus)

Dies führt uns direkt zum kulturrevolutionären Programmpunkt der Situationist*innen:

“Die Probleme der kulturellen Schöpfung können nur noch in Verbindung mit einem neuen Vorstoß der Weltrevolution gelöst werden. (…) Das Ziel einer revolutionären Aktion auf dem Gebiet der Kultur kann es nicht sein, das Leben wiederzugeben und zu erklären, sondern es zu erweitern.” (Debord, Rapport)

“Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – das heißt der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft.” (Debord, Rapport)

Die konstruierte Situation wie auch das Umherschweifen sind Mittel einer Art situationistischen Psychologie. Die psychologische Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden muss gebrochen werden, um den Zuschauer aktiv werden zu lassen, durch die Provokationen seiner Fähigkeiten, das eigene Leben umzugestalten. Doch auch die Konstrukteure von Situationen werden hineingezogen, auch sie werden dadurch verändert: “So ist die Situation dazu bestimmt, von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden” (Debord, Rapport)

Situationen müssen flüssig gehalten werden. Die Plätze müssen beweglich gehalten werden, und die Aktion kann nicht das einzige Geschehen sein.

Somit mussten Sicherheitsmaßnahmen gegen die Verfestigung installiert werden, die zugleich äußere, wie auch innere Gefahr ist. Dies sollte durch die Kollektivität des Projekts und einer konsequenten Enttäuschungsstrategie geschehen, d.h. “mit allen hyper-politischen Mitteln die bürgerlichen Glücksvorstellungen zerstören.” (Debord, Rapport) und das dérive sollte eine befremdete unromantische Eile lehren.

Diese Arten von Einwirkungen auf das Verhalten der Beteiligten einer konstruierten Situation, “das in Verbindung mit den anderen wünschenswerten Aspekten einer Revolution der Lebensgewohnheiten steht, kann zusammenfassend als die Intervention von Spielen neuer Art definiert werden.” (Rapport) Das situationistische Spiel ist, im Unterschied zur klassischen Spielauffassung, eine “radikale Verneinung der Charakterzüge des Wettkampfes und der Trennung vom gewöhnlichen Leben. Demgegenüber entspricht das situationistische Spiel einer moralischen Wahl, die eine Parteinahme für das ist, was das zukünftige Reich der Freiheit und des Spiels gewährleistet.” Dieser Wille zum spielerischen Schaffen “muss auf alle bekannten Formen der menschlichen Beziehungen erweitert werden und z.B. die geschichtliche Entwicklung von Gefühlen wie Freundschaft und Liebe beeinflussen.” (Rapport) Dieses Spielen soll aber mit äußerstem Ernst durchgeführt werden, denn “gegen alle rückläufigen Formen des Spiels, die die Rückkehr zu einer infantilen, immer mit einer reaktionären Politik verbundenen Entwicklungsstufe darstellen, müssen wir die experimentellen Formen des revolutionären Spiels behaupten.” (S.I. Nr.1)

Kunst, Kultur, Alltag und Spektakel

Die Situationist*innen bedienten sich der Ironie, denn Ironie ist stets ein Bestandteil von détournement. Aber ihre Ironie war von besonderer Art: Sie richtet die Aufmerksamkeit des Beobachters auf die Tatsache, dass sich die Situationist*innen der Lächerlichkeit ihrer apokalyptischen Phantasie bewusst sind, und bekräftigt gleichzeitig, dass jedes der gestohlenen Wörter Ernst ist, sehr Ernst sogar.

Vieles der Lettrist*innen und der Situationist*innen war geprägt vom Diskurs der Nachkriegskunst und der dadaistischen Antikunst. Die Situationistin Michèle Bernstein meinte zu diesen Einflüssen: “Jeder ist das Kind vieler Väter; es gab den Vater den wir hassten, den Surrealismus. Und es gab den Vater, den wir liebten: Dada. Wir waren die Kinder von beiden.” (Bernstein, in: Lipstick Traces)

Am Surrealismus hatten sie vor allem dessen Hang zum Irrationalismus auszusetzen: “Der dem Surrealismus zugrundeliegende Irrtum ist die Idee des unendlichen Reichtums der unbewussten Phantasie. (…) Tatsächlich ist die Entdeckung der Rolle des Unbewussten eine Überraschung und eine Neuigkeit gewesen, aber kein Gesetz für zukünftige Überraschungen und Neuigkeiten. (…) Wir müssen weitergehen und mehr Rationalität in die Welt bringen – das ist die Vorbedingung, um in ihr die Leidenschaft zu entzünden” (Debord, Rapport), schrieb Debord an den Surrealismus gerichtet. Über Dada schrieb er: “Seine historische Rolle ist es, dem herkömmlichen Verständnis der Kultur den tödlichen Stoß versetzt zu haben.” (Debord, Rapport)

Die Berliner Dadaist*innen zogen aus der Frage, “Was ist die deutsche Kultur? – Antwort: Dreck” (Huelsenbeck), die Konsequenz, mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kultur vorzugehen. Und zwar in gemeinsamer großer Aktion.

Dies prägte auch das Verhältnis der Situationist*innen zur Kunst. Bakunins Vorschlag in Dresden, die Bilder des Museums am Stadtrand aufzustellen, um die angreifenden Truppen daran zu hindern zu schießen, stellte für Debord einen “mustergültige Art und Weise, die vergangene Kunst zu behandeln, sie wieder im Leben (…) auf’ s Spiel zu setzen” (Debord, Rapport) dar.

Doch die Lettrist*innen und Situationist*innen wollten über Dada und den Surrealismus hinaus.

“Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen. Die seitdem von den Situationist*innen erarbeitete kritische Position hat gezeigt, dass die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind.” (Debord, Spektakel These 191).

Die I.L. meinte, dass dérive und détournement beides Kunstformen seien, die keine Kunst hervorbringen konnten (hier irrten sie sich, Vgl. Postmodernismus), sondern nur eine neue Art Leben.

Die gesamten bisherigen Kunstformen erschienen Debord als veraltet, nutzlos und letztlich gar als Hindernis, da sie “die Emotionen festhalten (fixieren).” (Debord, Rapport)

Kunst war für Debord Zeitverlust im Gegensatz zu Asger Jorn, der die Kunst neu definieren wollte. Ein Bild oder eine Zeile für sich zu beanspruchen, als im voraus auf die Mauer der Geschichte geschriebenes, einzigartiges und unvergängliches Mal, heiße nach Debord, einen Betrug an der Geschichte zu verüben. Es heiße die Mythen des genialen Genies und der göttlichen Inspiration in Kauf zu nehmen und mit einem System individueller Hierarchie und sozialer Kontrolle zu kollaborieren. Angesichts der Tatsache, dass Gott tot ist und die Kunst seinen Platz eingenommen hat, heiße dies eine religiöse Illusion aufrechtzuerhalten, die passenderweise in der wundersamsten aller Waren eingefangen war.

Jedoch war die Diskussion über die Kunst innerhalb der S.I. äußerst kontrovers; auch Asger Jorns Rolle und seine Argumentation ist dabei sehr interessant, so dass es falsch wäre, wenn der Eindruck entstehen würde, die I.L. oder die S.I. fänden die Kunst, der sie viel zu verdanken hatten, einfach doof, auch wenn es jetzt so rüberkommt.

Die laute Sprache oder genauer, die lauten Sprüche der Werbung haben die Lettrist*innen von Anbeginn zu ihren eigenen Zwecken benutzen wollen, unter anderem, weil Sprachrhythmus, propagandistischer Schall, sachliche Härte und Sinnverschiebung ihrer Idee des Gebrauchs der Sprache entgegen kamen.

Ebenso ist die Sprache der Lettrist*innen eine Sprachform der Kriegswissenschaft, von der Schnelligkeit riskanter Manöver, bis zu der unsichtbaren Bedeutung eines entnervenden Abwartens ausgedehnt.

Debord nannte die Lettrist*innen “les enfants perdus”, einen verlorenen Haufen oder ein Himmelfahrtskommando.

Im Unterschied zur Avantgarde ist ein “verlorenen Haufen” keine feste Einrichtung eines Heeres, sondern ein Moment seiner Auflösung. Über die Versprengten werden keine weiteren Meldungen erwartet. In den Einflussbereich des Gegners hineingeraten, kann dieses Kommando als Aufklärungsauftrag an besondere Kräfte der Avantgarde ergehen, es kann aber ebenso jeden anderen Truppenteil treffen, wenn z.B. die Nebeneffekte größerer Bewegungen geordnet werden oder wenn aus geschützten oder geordneten Linien der letzte Befehl in einen unhaltbaren, aus dem Blick geratenen Frontabschnitt ergeht: “Nicht ergeben!”

Die Lettrist*innen sahen sich dementsprechend; nämlich, dass sie im Frontabschnitt des modernen Kapitalismus operierten.

Der Hochmut der Macht, und ihr selbstverständlicher Begleiter, die Geheimhaltung wichtiger Bewegungsmotive, gelangen dadurch in den Brennpunkt der Beobachtung …

Debord bedient sich der Sprache der Zeremonien, und er macht sich den Bluff bei der Gründung der I.L. zu eigen, mit dem das öffentliche Bild staatstragender Vorgänge hergestellt wird: Konferenzen, verschlüsselte Depeschen, Ausschlüsse, proklamatische Markierungen der Zeit, internationale Sektionen, Büros, Archive – eine ganze Reihe von Fachtermini des bürokratischen, politischen und geheimdienstlichen Lebens…

Vorbild war unter anderem auch die “Internationale” von Karl Marx, der als Basis ein ähnliches Selbstverständnis beanspruchte: sich die Bedeutung des Projektes nicht von gerade existierenden Machtverhältnissen vorschreiben zu lassen.

Das war nicht nur eine Anmaßung, sondern auch eine Zumutung für diejenigen, die sich von dem Spiel der Wertzeichen verwirren ließen und es als Störung der vereinbarten Regeln empfanden. Die I.L. und auch später die S.I. war als inszenierte Organisation eine Parodie, ein Narrenspiel, Mimikri.

Das S.I.-Konzept der konstruierten Situation versteht sich als Gegenentwurf zur Kunst:

“Die Situation fassen wir als das Gegenteil des Kunstwerks auf, das als ein Versuch der absoluten Wertsteigerung und der Erhaltung des gegenwärtigen Augenblicks ist (…) Jede Situation, wie bewusst sie auch konstruiert sein mag, enthält ihre Negation und geht unvermeidlich ihrer eigenen Umkehrung entgegen.”

Dafür galt es einige Begriffe des kulturellen Sektors umzudefinieren, bzw. ihren affirmativen Charakter aufzuzeigen. So seien Sehen und Schauen schlechte Gewohnheiten.

Das Bild ist der Begriff für ein Transportgut des Falschen, der Verkehrungen und Vernebelungen, das Gegenteil des Lebendigen. Es verstellt die Sichtbarkeit der wirklichen Welt; jedoch beim Elend gibt es ab und zu “Sichtbarkeit”; dann hat sich die Welt nicht zum Bild verschlossen, sondern erscheint nur als sichtbar schlechtes Bild.

Hier begegnen uns immer wieder zwei Phänomene bei der Debordschen Analyse der Auflösung der Kultur.

Seine Analyse der Auflösung der Kultur ist allerdings kein Kulturpessimismus, da nichts nachgejammert wird, sondern im Gegenteil: die Auflösung der Kultur wird als Chance begriffen, die es voranzutreiben gilt. Das Schlechte wird beschrieben, aber es klingt nicht weinerlich, sondern sardonisch1, fratzenhaft-vergnügt.

Die zwei Phänomene der Debordschen Analyse sind: Die Konfusion, in der sich die Kultur befindet, und die Präzision oder Zuverlässigkeit, mit der es ihr gelingt, überall wirksam zu werden. Roberto Ohrt schreibt dazu:

“Ausführlich widmet sich Debord einer Kritik des Konfusionismus, schaut in das schnell geordnete Durcheinander um das kulturelle “Nichts”, deren verschiedene Vertreter es nicht verstehen, die Botschaft der “Auflösung” der bürgerlichen Kultur, als eine revolutionäre zu lesen.” (R.O. S.179)

Ein weiterer zentraler Begriff der situationistischen Theorie ist das Alltagsleben oder das alltägliche Leben. Hierbei hatte der marxistische Philosoph Henri Lefèbvre einen großen Einfluss auf die Situationist*innen. Lefèbvre wandte sich in der Nachkriegszeit vom damaligen Marxismus ab. Er vertrat die Meinung, dass man, um die Welt zu verändern, über die Veränderung des Lebens nachdenken müsse. Er schrieb eine Theorie der Momente. Momente tauchen in einem geheimnisvollen unerforschten Bereich auf, den er Alltagsleben nannte, eine Form des Lebens, die sich am leichtesten durch Negation beschreiben lässt: “Was übrig bleibt, wenn man alle außerplanmäßigen Aktivitäten eingestellt hat.” (Lefèbvre)

Damit ist weniger das Leben am Arbeitsplatz, als das auf der Fahrt dorthin gemeint… mehr noch, das durch den Stumpfsinn der Arbeit oder der Fahrt zur Arbeit bedingte Leben der Phantasie. Es geht weniger um das Leben als Ehefrau, als um die seltenen Gelegenheiten, wenn die Rolle irgendwie verschwindet und eine Frau sich für ein paar Sekunden neu definiert, und zwar über nichts, was die Gesellschaft als real anerkennt.

Das alltägliche Leben ist ein Reich der Wiederholung, der Belanglosigkeit, Depression; ein Reich der Langeweile, stumm unterbrochen von scheinbar unsinnigen Sehnsüchten nach Heldentaten, Abenteuer, Flucht, Rache… Freiheit. Lefèbvres Kritiker leugneten, dass das Alltagsleben überhaupt existiert. Das Alltagsleben, so wie Lefèbvre es darstellte, ist ein ebenso unbefriedigendes wie stummes Milieu, ebenso stumm, wie allgegenwärtig. Doch wenn man diesen Momenten eine Sprache, eine politische Sprache gäbe, könnten sie die Grundlage für vollkommen neue Forderungen an die soziale Ordnung bilden. Marxismus ist das nicht. Marx hätte dies verstanden. Lefèbvres Theorien wurzeln nämlich in Marx` 1844 erschienenen “Ökonomisch-philosophischen Manuskripten”, die Lefèbvre Ende der 20er Jahre übersetzt und herausgegeben hatte.

Aus diesem Ansatz resultierte auch ein Grundsatz der situationistischen Theorie. Er lautet, dass die Natur der gesellschaftlichen Realität und die Mittel zu deren Veränderung nicht durch die Analyse der Machtverhältnisse ergründet werden können, sondern durch eine gründliche, nüchterne Betrachtung der scheinbar trivialen Gesten und Akzente der Alltagserfahrung.

In der S.I. betrieb man eine systematisch gedachte Entwertung jeglicher Erscheinungen, die “über das Leben hinausgehen”. So wird einer Aktion der Weg freigemacht, die letztlich nur noch sich selbst wahrnimmt. Alle Repräsentation verfällt dann einer Dynamik, die sich im “Stil der Negation” fortwährend von dem, was sie vorzeigt, moralisierend abhebt.

Das Projekt der S.I. ist nichts weiter als eine verführerische, subversive Neuformulierung des Offensichtlichen. Sie behaupten in etwa: “Unsere Vorstellungen davon wie die Welt funktioniert, warum sie verändert werden muss, sind in allen Köpfen, und zwar als Gefühle, die in Ideen zu übersetzen niemand bereit ist, daher übernehmen wir die Übersetzung.

Im Alltagsleben entdeckten die Situationist*innen ein weiteres Phänomen – die Langeweile.

Langeweile ist immer konterrevolutionär” (S.I. Nr. 8) schrieb die S.I.

Langeweile war für die S.I. ein modernes Phänomen, eine moderne Form von Kontrolle.

Nach Ansicht der S.I. produzieren Modernität, verringerte Arbeitszeit und relativer Überfluss, Stadtplanung und der Wohlfahrtsstaat nicht Glück, sondern Depression und Langeweile. Die Menschen empfinden ihren Zustand als schicksalhaftes Ereignis.

Da jeder Mann und jede Frau von allem anderen immer mehr getrennt ist, sind sie auf sich selbst zurückgeworfen, nach dem Motto: Ich bin nicht glücklich – was stimmt mit mir nicht?

Dieser Fatalismus ist Hinnahme und somit immer konterrevolutionär.

Man sieht auch auf dieser Ebene, dass die Situationisten und Situationistinnen eine Haltung definieren wollten, keine Ideologie, da sie Ideologien als Entfremdung betrachteten, als Transformation von Subjektivität in Objektivität, von einem Verlangen in Macht, das die Individuen zur Machtlosigkeit verdamme.

Die unterschwellige Negation dieser Verhältnisse sahen die Situationist*innen in den Begierden und Wünsche der Menschen.

Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven.

Ich bin nichts, und müsste alles sein“, hat der junge Marx geschrieben, als er diesen revolutionären Impuls definierte.

Das Spektakel wie es Debord beschreibt, ist zugleich die Geiselnahme, wie das Gefängnis dieses Impulses. Es ist ein herrliches Gefängnis, in dem das ganze Leben als permanente Vorstellung aufgeführt wird. Eine Vorstellung, wo “alles, was direkt gelebt wurde, sich zu einer Repräsentation entwickelt hat.” Das Spektakel war der Hauptfeind der Situationist*innen. Ihm widmete Debord sein Hauptwerk “Die Gesellschaft des Spektakels”. Hierin beschreibt er unermüdlich in 221 Thesen, was das Spektakel ist und wie es gestürzt werden könnte.

“Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird.” (Debord, Spektakel These 34)

Im Spektakel ist Passivität zugleich Mittel und Zweck eines großen verborgenen Projekts, eines Projekts gesellschaftlicher Kontrolle. Unter den Bedingungen seiner speziellen Form von Hegemonie produziert das Spektakel natürlich keine Schauspieler, sondern Zuschauer: moderne Männer und Frauen, die sich begeistert alles anschauen, was man ihnen zum Ansehen vorsetzt. Es erzeugt Demokratien falscher Begierden: Man kann zwar nicht eingreifen, will es aber auch nicht, weil das Spektakel als Mechanismus gesellschaftlicher Kontrolle ein inneres Spektakel der Teilnahme, der freien Wahl aufführt. Wie eine avantgardistische Performance führt das Spektakel eine Ideologie der Freiheit auf.

Als Theater ist das Spektakel auch eine Art Kirche, “der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion.” (Debord, Spektakel)

Moderne Technik, Beherrschung der Natur, die mögliche Aufhebung des Reichs der Notwendigkeit in der modernen Überflussgesellschaft “hatten die religiösen Wolken nicht vertrieben, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen, eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie haben sie nur mit einer weltlichen Grundlage verbunden.” (Debord, Spektakel)

Die Verselbständigung der von der Gesellschaft geschaffenen Kräfte, als Folge der Logik des Wertetauschs, belegte Marx mit dem Begriff “Entfremdung“.

Die Entfremdung, die er auf den Ebenen der Lohnarbeit, der Beziehungen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, analysierte, bekommt im Spektakel noch eine weitere psychologische Bedeutung:

“Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts (das das Ergebnis seiner eigenen bewusstlosen Tätigkeit ist) drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er akzeptiert, sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, dass seine eigenen Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem Anderen, der sie ihm vorführt.” (Debord, Spektakel These 30)

Dieser “Andere” ist das personifizierte Spektakel; so auch z.B. konkrete Personen: Jesus, Kurt Cobain, Lenin, Gandhi, das Gesicht auf einer Reklametafel, oder das Gesicht des idealisierten Selbst, an das man eventuell während des Beischlafs denkt.

Als solches ist das idealisierte Selbst immer präsent, immer knapp außer Reichweite. Als Perversion der Freiheit ist es wie jede Perversion – nach Freud – erotisch; als Entfremdung ist es mit dem Schauder verbunden, dass man es haarscharf nicht geschafft hat, ein Gefühl, das einen immer wieder einen neuen Anlauf machen lässt. Es ist eine perfektionierte Symbolwelt in den Köpfen der Menschen.

Wenn die Revolution im Grunde im Begehren wurzelt, sein eigenes Leben zu schaffen, eine so tiefe und eindringliche Sehnsucht, dass ihre Verwirklichung die Schaffung einer neuen Gesellschaft erfordert, so vereinnahmt das Spektakel diesen Wunsch und verwandelt ihn in den, ein Leben so zu führen, wie es bereits existiert, nämlich in der sich ständig erneuernden Utopie des Spektakels.

Diese Vereinnahmung des revolutionären Impulses belegen die Situationist*innen mit dem Begriff Rekuperation. Die moderne Gesellschaft modernisiert sich durch das innerhalb der herrschenden Strukturen heranwachsende Prinzip der Negation. Die Opposition zum Spektakel wird rekuperiert und somit zum Spektakel der Opposition. Die S.I. meinte, dass hier der Ort des revolutionären Impulses auf dem Terrain des Spektakels sei.

Nichts, was tatsächlich geschieht wird real, bevor es nicht im Spektakel “gesellschaftliches Leben” vorkommt; damit wird es irreal und verkehrt sich in sein Gegenteil. Rekuperation bedeutet also Trennen, Isolieren und Integrieren von Tendenzen, die ursprünglich als Negation der bestehenden sozialen Verhältnisse entstanden sind, mit denen sich das Spektakel vorantreibt und modernisiert. “Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluss, nachdem sie sie sterilisiert hat.” (Debord, Rapport)

Das Wort Spektakel ist Anfang der 80er zum Modewort verkommen und somit selbst rekuperiert worden; es bedeutete dort nur, dass das Bild einer Sache, die Sache selbst überlagert. Für diesen Sachverhalt ist der Begriff “Mythos” sicher angebrachter.

Ebenso benutzen Kulturkritiker seit dieser Zeit den Begriff “Spektakel”, um sich zu beklagen; wie z.B., dass die Leute zu glauben scheinen, dass die USA mit Rambo-Filmen den Vietnamkrieg nachträglich gewinnen könnte, dass die Konsumenten von der Werbung verführt werden, dass Bürger und Bürgerinnen Schauspieler wählen, statt Sachfragen. Dies ist aber eher Theater.

Debord jedoch hat darauf bestanden, es handele sich zum einen um eine Art Religion und vor allem um Ideologie:

“eine ins Materielle übertragene Weltanschauung, eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.” (Debord, Spektakel These 5)

Und zum anderen, dass das Spektakel nicht nur Werbung ist oder Fernsehen, sondern die komplette gesellschaftliche Welt:

“Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.” (Debord, Spektakel These 4)

So verwarf er im voraus die seinem Buch folgende platte Gesellschaftskritik.

Der Siegeszug des Spektakels besteht darin, dass zwar nichts wirklich zu sein scheint, ehe es in dem Spektakel aufgetaucht ist, es aber bereits in dem Moment seines Auftauchens jede Wirklichkeit einbüßt, die es besessen hat. “Jeder so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite,” schreibt Debord und weiter: “In einer wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen.” (Debord, Spektakel These 9)

Man kann jedoch nicht einfach alle Dinge umdrehen, denn das Gegenteil einer Lüge ist noch lange nicht die Wahrheit.

Das Spektakel schafft seine eigene Opposition und vereinnahmt sie: “Realität erscheint mit dem Spektakel und das Spektakel ist real”, schrieb Debord und gelangt somit weiter zum gesellschaftlichen Kern des Spektakels:

“Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar geworden, man sieht sogar nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.” (Debord, Spektakel These 42)

Debord schreibt, dass es das Prinzip des Warenfetischismus ist, das sich absolut im Spektakel vollendet, d.h. die Beherrschung der Gesellschaft durch “sinnlich übersinnliche Dinge”. (Debord, Spektakel These 36)

Dieser Nachsatz stammt im Original von Marx. Es zeigt sich hier, wie konsequent Debord an der Marxschen Theorie bleibt, um ihren, durch die Partei-Marxist*innen, Leninist*innen und anderes Gesocks verschütteten revolutionären Gehalt wieder ins Leben zu rufen. Er wendet dabei konsequent die oben beschriebene Methode der Entwendung an und legt somit den vernebelten revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie wieder frei.

Eine These davor entwendet Debord ebenfalls eine These von Karl Marx, nämlich dass die Ware ein sehr vertracktes Ding sei, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten. Lesen wir mal im Original, was Marx zum Fetischcharakter der Ware schrieb:

“Eine Ware erscheint auf den ersten Blick ein selbstverständlichen, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voller metaphysischer Mucken (…) Es ist sonnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihr einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres, sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit den Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.” (Marx; Das Kapital I, S. 76)

Marx spielte auf die Spiritist*innen an, die seiner Zeit und einige auch heute noch um die Tische sitzen, sich an den Händen halten und darauf warten, dass die Geister Verstorbener sich bemerkbar machen, an den Tischen rütteln und sie zum Tanzen bringen. Die Spiritist*innen haben nicht viel mit Waren zu tun, aber die Ware hat viel mit Zauberei und Mystizismus zu tun. Die Ware ist das Agens der Verdinglichung, die Verkehrung der Subjekte in Objekte und umgekehrt. Dieser Verdinglichung, welcher auch die Marxsche Theorie unterlag, entgegenzutreten und sie durch Entdinglichung wieder der Subversion zuzuführen, darauf kam es Debord an. Hierfür benötigte er die Entwendung, als eine Art Praxis der Theorie.

In ihrer Theorie der Praxis traten die Situationist*innen der Verdinglichung mit dem Konzept der “Konstruktion von Situationen” entgegen, um dieses warenförmige Verhältnis zumindest für einen kurzen Augenblick aufzubrechen. Die Lettrist*innen und Debord haben dies z.B. in ihren Filmen versucht praktisch umzusetzen. Als sie z.B. Filme als tolle Avantgarde- Filme mit viel Schweinereien ankündigten und lediglich zerkratzte Filmfolie oder abwechselnd schwarze bzw., weiße Leinwand zu sehen war, um damit Tumulte im Kino auszulösen.

Jedoch im Gegensatz zum Film gibt es im alltäglichen Leben einige Schwierigkeiten mit einer konstruierten Situation; dazu Roberto Ohrt:

“Die Beteiligten dürfen hier noch weniger in eine Heldenrolle verfallen; die Situation sollte sich nicht um eine einzige Person verfestigen. Die Plätze müssen beweglich gehalten werden, und die Aktion kann nicht das einzige Geschehen sein.” (Roberto Ohrt; Phantom Avantgarde)

Die konstruierte Situation setzt das konsequent fort, was Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie so ausdrückte:

“Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Druckes hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller machen, indem man sie publiziert (…) man muss die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!” (Marx; Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)

Was ist das neue der Debordschen Kritik gegenüber der Marxschen Kritik?

Debord orientiert sich mit seinen Formulierungen streng an Marx. Jedoch gekoppelt mit der Methode der Entwendung, des Plagiats. Debord schreibt dazu – mit einer Lautréamont-Entwendung:

“Die Ideen verbessern sich. Der Sinn der Worte trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch eine richtige.” (Debord, Spektakel These 207)

Diese Methode praktiziert er nicht nur bei Marx, sondern auch bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, dass die Entwendung das Gegenteil des Zitats sei. Das Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen, weil es Zitat geworden sei, weil es Fragment sei, das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem Bezugsrahmen gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die den früheren Wahrheitskern wiederbringe und bestätige.

Somit müssen bei der Bildung einer revolutionären Theorie nicht alle Kategorien wieder neu gefunden werden, sondern können alte, die immer noch gelten, übernommen werden, andere korrigiert und neue hinzugefügt werden, ohne dass die Theorie eklektizistisch oder willkürlich wird.

Die Theorie kann somit auch für die gegenwärtige Praxis zugänglich gemacht werden, mehr noch, sie erhält ihren Wahrheitskern erst in der Praxis wieder.

Das, was Marx noch als eine mögliche Entwicklung des Kapitalismus vorausgeahnt hatte, schien in den 60er Jahren, in denen Debord seine Kritik schrieb, Wirklichkeit geworden zu sein. Bei seiner Beschreibung des neuen Stadiums, in das der Kapitalismus eingetreten war, blieb Debord zunächst wieder, wie schon beim Warenfetischismus, hart am Marxschen Text:

“Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen Akkumulation „die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter betrachtet”, der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche Minimum bekommen muss, ohne ihn jemals “in seiner arbeitslosen Zeit, als Mensch” zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflussgrad vom Arbeiter einen Überschuss von Kollaboration erfordert. Urplötzlich von der vollständigen Verachtung reingewaschen, die ihm alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion deutlich beweisen, findet dieser Arbeiter sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt. Dann nimmt sich der Humanismus der Ware des Arbeiters “in seiner arbeitslosen Zeit und als Mensch” an, und zwar ganz einfach deswegen, weil die politische Wirtschaft jetzt als politische Ökonomie diese Sphären beherrschen kann und muss. So hat die “konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen” die Ganzheit der menschlichen Existenz in die Hand genommen.” (Debord, Spektakel These 43)

Dem Arbeiter musste man ein gewisses Maß an Mehrwert zugestehen (z.B. in Form von Aktien), an frei verfügbarem Einkommen und an Freizeit.

Doch wo ist die Erweiterung gegenüber der Marxschen Analyse? Das Geheimnis des Fetischs Ware liegt darin, dass die Waren reden, menschlich wirken, dass sie Menschen und Dinge verwandeln können. So war es schon bei Marx.

Jedoch damit die in diesem Geheimnis enthaltenen Verdinglichungen in der menschlichen Psyche stattfinden können, muss jeder und jede zuhören lernen:

Du bist nichts, wenn Du nicht alles hast – das ist Modernität. Modernität bedeutet die Verschiebung des Schwerpunktes im Kapitalismus von Produktion zu Konsum, vom Bedürfnis zum Wunsch oder wie Debord es ausdrückt:

“Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen Realisierung eine offensichtliche Degradierung des Seins zum Haben mit sich gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft führt zu einer verallgemeinerten Verschiebung vom Haben zum Scheinen, aus welchem jedes tatsächliche “Haben” sein unmittelbares Prestige und seinen letzten Zweck beziehen muss. Zugleich ist jede individuelle Wirklichkeit gesellschaftlich geworden, direkt von der gesellschaftlichen Macht abhängig und von ihr geformt.” (Debord, Spektakel These 17)

Die neue Qualität gegenüber Marx besteht nun darin, dass die von Marx beschriebene Verwandlung der menschlichen Beziehungen in Beziehungen zwischen Dingen, also Warenfetischismus, sich hin zur Verwandlung der menschlichen Beziehungen in Bilder, also Spektakel, verschiebt. Die Degradierung des gesellschaftlichen Lebens vom Sein zum Haben setzt sich in der Reduktion aufs Scheinen fort.

“Die Verschiebung vom Bedürfnis zum Wunsch basiert darauf, dass die Begierden reduziert werden müssen auf die, die sich vermarkten lassen und die Begierden müssen auf Bedürfnisse reduziert und als solche erlebt werden. Wie die Situationist*innen behaupten, erfordert das moderne kapitalistische Projekt, dass das potentiell ungezügelte Verlangen im Herzen jedes Menschen auf ein Haushalten mit praktischen Bedürfnissen reduziert wird und dass Möglichkeit zu dem reduziert wird, was sie “Überleben” nannten, die Reduzierung des Lebens auf ökonomische Zwänge – in diesem Fall, dass man nicht etwas kauft, das man sich subjektiv wünscht, sondern etwas, ohne das man, wie das Spektakel “objektiv” beweist, nicht leben kann.” (Greil Marcus)

Das Leben, als Fülle aller geschichtlichen Möglichkeiten, wird also im Spektakel zum reinen Überleben degradiert.

S.I. und Frankfurter Schule (beide kannten sich und ihre Theorien nicht, bzw. Debord Adornos Theorien erst später) nennen das die “Proletarisierung der Welt”. Damit meinten sie, wenn die politische Ökonomie das Leben beherrscht, verwandelt sie jeden; den in einen Konsumenten verwandelten Arbeiter, den Kleinbürger, der bereits einer war in eine Art Proletarier, ein stummes Objekt angesichts des sprechenden Dinges; die “Vermenschlichung der Ware” bedeutet, dass die Ware menschlich wird, während der Mensch zur Ware wird.

Doch wo andere nur härter werdenden Zement sahen, glaubten die Situationist*innen als Gruppe selbstbewusster moderner Revolutionäre, einen Riss zu entdecken: Überfluss, Banalität und Langeweile seien nicht nur modernistische Druckmittel fader Tyrannei, sondern Gelegenheiten zur Entdeckung neuer Wünsche – Wünsche die es aufzuspüren gelte und mit allen Mitteln des Bluffs, der Ironie, der Satire und am Ende auch mit Gewalt publik machen würde, um sich anschließend bereit zu halten, in eine große gemeinsame Aktion, in einen Ausbruch von Negation, in eine neue Welt überzuleiten.

Die Situationist*innen beschrieben ihre Lage, wie Raoul Vaneigem es formulierte, als die

“(…)von Kämpfern zwischen zwei Welten; die eine erkennen wir nicht an, während die andere noch nicht existiert. Es kommt darauf an, den Zusammenstoß voranzutreiben…” (Vaneigem, Beginn einer Epoche).

Bei der Frankfurter Schule (v.a. bei Adorno) heißen Melancholie und Nostalgie die treibenden Kräfte, mit der sie ihre Sätze formulierten; im Unterschied dazu wollten die S.I. Jammern durch Wut ersetzen. Mit der Entwendung von Freud heißt es bei Debord:

“In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, dass sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab (…). Wo wirtschaftliches Es war, muss Ich werden.” (Debord, Spektakel These 52)

Die S.I. wollte dieses therapeutische Wachrütteln übernehmen.

Greil Marcus schreibt in seinem Vergleich der Frankfurter Schule mit der S.I.: “Adornos Negation fehlte der sardonische Spaß. Ein Wesenszug, den die Punk-Version der Negation nie vernachlässigte,” wobei er leider allzusehr die S.I. und Dada in ihrer Lust an der Negation mit den Anfängen von Punk vergleicht, und somit einer Rekuperation Tür und Tor geöffnet hat.

Die S.I. waren Spieler und Spielerinnen, sie pokerten; ihr Einsatz bestand unter anderem darin, dass menschliche Subjektivität in den objektivierenden Markt aufgenommen wird und somit zur Sprengkraft wird. Wenn die zentrale menschliche Fähigkeit darin besteht, bewusst mehr zu wollen, als man haben kann, entsteht daraus die Fähigkeit jedes einzelnen, etwas anderes als jeder andere zu wollen. Der Kapitalismus weiß dies und reagiert darauf, weshalb es jedes Produkt in zahllosen Variationen gibt. Der moderne Kapitalismus ist ein vertracktes Projekt. Frei verfügbares Einkommen und Freizeit möchten Sehnsüchte wecken, die der Markt nie befriedigen kann, und diese Sehnsüchte enthalten vielleicht sogar den Wunsch, sich aus dem Markt auszuklinken. Die Sixties waren in den Metropolen Wirtschaftswunderzeiten.

Einige Sehnsüchte der 60er sind nun Teil der Struktur. Doch ebenso produzierte das Spektakel immer mehr soziale und wirtschaftliche Aussperrungen.

Der Kapitalismus hat sich in den 80er Jahren unter Thatcher, Kohl und Reagan weiterentwickelt. Er hat einiges aus den 68er Revolten gelernt und darauf reagiert. Überfluss kann der Macht gefährlich sein, während “Mangel”, wenn man ihn vorsichtig einsetzt, stabilisierend wirkt, nach dem Motto: “Lass dir nichts zu Schulden kommen, du könntest der Nächste sein.”

Eine hohe Arbeitslosigkeit sorgt z.B. für ein williges Reservoir von Streikbrechern und verwandelt den Fluch der miesen Arbeit in einen Segen. Mai-’68-Slogans, wie Abenteuer, Risiko, Phantasie, Spontaneität, Selbstverwirklichung sind in den modernen Kapitalismus integriert und rekuperiert worden und werden von beinahe jedem Manager im Munde geführt.

Das Verdienst der S.I. bestand einfach darin, die neuen Brennpunkte der Revolte in der modernen Geschichte und im Zentrum des modernen Kapitalismus aufgezeigt zu haben.

Debord sagte 1978 über das Programm der S.I. im nachhinein:

“So wurde das beste Programm entworfen, um die Gesamtheit des sozialen Lebens ganz mit Argwohn zu belegen: Klassen und Spezialisierungen, Arbeit und Zerstreuung, Ware und Städtebau, Ideologien und Staat – wir haben gezeigt, dass dies alles nur zum wegwerfen taugte. Und solch ein Programm enthielt kein einziges Versprechen, nur das einer zügellosen Autonomie ohne Regeln. Diese Perspektiven gehören heute zum Alltag, und überall kämpft man für oder gegen sie. Damals aber wären sie gewiss jedem phantastisch erschienen, wenn sich der moderne Kapitalismus nicht noch phantastischer aufgeführt hätte.” (Debord; In girum imus nocte…)

Hier ist die Perspektive in welcher Richtung eine Kritik heutzutage weiterzutreiben wäre. Eine Grundeinsicht muss also die sein, dass die Kritik der Situationist*innen nicht mehr ausreicht und ihr Angriff nicht ausgereicht hat. Dennoch legten die Situationist*innen die Messlatte an der sich die revolutionäre Kritik in ihr er modernsten Form heutzutage zu messen hat.

Was bleibt?

Die Einflüsse der S.I. kann man danach in allen möglichen kulturellen Bereichen entdecken, mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Formen.

Einige Beispiele:

  • Großbritannien: Der aus der S.I. ausgeschlossene Christopher Gray rief ca. 1968 eine Gruppe ins Leben, die sich “King Mob” nannte und in deren Dunstkreis sich der Manager der Sex Pistols und “Erfinder” des Punk Malcolm McLaren, sowie deren Platten-Cover-Grafiker Jamie Reid befanden.

  • Der Literat und Initiator eines Kunststreiks Stewart Home bezieht sich sehr stark auf die Situationist*innen.

  • Eine kleine bewaffnete Gruppe namens Angry Brigade bezog sich bei ihren Anschlägen auf die S.I.-Theorie und verwendete S.I.-Slogans in den 80er Jahren.

  • Frankreich: Bei den Aufständen der Weinbauern 1976 tauchte eine anonyme Gruppe namens Nexialistische Internationale auf. Die auch die Stadt Toulouse in Verwirrung stürzte.

  • Deutschland: Dieter Kunzelmann der über die Münchner Künstlergruppe SPUR zur S.I. kam und als diese 1962 ausgeschlossen wurden, er sich ebenfalls entschied auszutreten, gründete in Berlin die “Subversive Aktion” und war Mitglied der Kommune I, aus der heraus die Spaßguerilla entstand. Vor allem hier ist allerdings Vorsicht geboten, denn leider wird die S.I. mit dem verflachten Ansatz der Spaßguerilla allzuhäufig in einen Topf geworfen.

  • Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre gab es eine Gruppe, die sich Subrealisten Bewegung nannte und in der Anti-Atom-Bewegung mitmischte und diese gleichzeitig kritisierte.

  • Italien: Die S.I.-Thesen hatten starken Einfluss auf die Autonomia-Bewegung. Toni Negri, einer der Theoretiker der Autonomia-Bewegung, kannte die situationistische Theorie.

  • In Spanien benannte die “Koordination der autonomen Gruppen Spaniens” (ca. 50 Inhaftierte) als ihren einzig bedeutsamen Bezug die S.I.

  • USA: Der Cyber-Punk und Chaos-Philosoph Hakim Bey (Temporäre Autonome Zone) bezieht sich unter anderem auf die Situationist*innen, wobei er allerdings desöfteren in einen Mystizismus abdriftet.

  • Ebenfalls in Italien, wie auch in Großbritannien treibt eine Bewegung namens Luther Blisset ihr Unwesen, die nach Debords Selbstmord einen Nachruf auf ihn veröffentlichten.

  • Im Musikbereich ist neben Punk auch bei einigen Industrial-Bands ein S.I.-einfluss zu spüren. Ich kenne allerdings nur wenige Bands, die sich direkt auf die Situationist*innen berufen und das sind Negativland, SPK und natürlich KLF, die öffentlich eine Million Pfund verbrannten.

  • Einige Performance-Künstler*innen beziehen sich direkt oder indirekt auf die S.I.

  • In der Philosophie hinterließ die situationistische Theorie deutliche Spuren z.B. bei Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Jaques Derrida und zum Teil auch bei Michel Foucault, – die im Mai 68 allesamt an den Pariser Universitäten lehrten.

Alle diese Ansätze fallen jedoch weit hinter das Projekt der S.I. zurück. In keinem dieser Bereiche und in keiner dieser Tendenzen kann man, meiner Ansicht nach, einen solch konsequenten Stil der Negation finden, wie er bei den Situationist*innen und vor allem bei Guy Debord vorherrschte. (Anm.: Debord hat sich am 30. Nov. 94 das Leben genommen).

Des weiteren ist zur Zeit zu beobachten, dass im links-kulturellen Millieu die Situationist*innen wieder mehr und mehr in Mode kommen (z.B. Spex, Beute …). Diese Modetendenzen wurden schon von den Situationist*innen verächtlich als “prosituationistisch” bezeichnet. Dieser Situationismus sei ein Milieu, das die Ideologisierung der S.I.-Theorie betreibe, nichts als gute Absichten besitze und keine kritisch-praktische Aktivität entwickeln würde. Wie ist mit diesem Phänomen umzugehen? Jean-Pierre Voyer schreibt dazu:

“Der Situationismus muss bekämpft werden. Und um den Situationismus tatsächlich zu bekämpfen – es gibt eine prosituationistische Mode, die in der spektakulären Opposition zum Situationismus besteht – muss zunächst der Marxismus bekämpft werden. Die Situationist waren die ersten, die den Marxismus bekämpften, das heißt, Marx gerecht wurden. Folglich heißt den Situationisten gerecht zu werden, zunächst Marx gerecht zu werden. Wir werden dann sehen, dass es sich nicht darum handelt, einen Trennungsstrich zwischen der Vergangenheit und der Zukunft zu ziehen, sondern darum, die Ideen der Vergangenheit zu vollenden.” (Voyer, Untersuchungen)

Dies muss Aufgabe einer Praxis der Theorie sein, die der heutigen Raum-Zeit angemessen ist, die dann in Verbindung zu revolutionären Kämpfen tritt, sobald jene sichtbar werden, und somit in eine Theorie der Praxis umzuschlagen hat. Wir stehen nun vor keiner geringeren Aufgabe, als diese Theorie/Praxis-Dialektik voranzutreiben, und somit die situationistische Theorie dialektisch aufzuheben.

Verwendete Literatur

Bücher und Texte der S.I.

Debord, Guy;
Die Gesellschaft des Spektakels,
Edition Nautilus, Hamburg, 1978 (dt.), 1967 (Org.),
Edition Tiamat, Berlin, 2013, 2. Auflage (dt.)

Debord, Guy;
Gegen den Film, Filmskripte,
Edition Nautilus, Hamburg, 1978 (dt.), 1964 (Org.)

Debord, Guy;
In girum imus nocte et consumimur igni,
Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt – Filmskirpt
Edition Tiamat, Berlin, 1985 (dt.), 1978 (Org.)

Debord, Guy;
Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels,
in: Edition Tiamat, Berlin, 1996 (dt.)

Debord, Guy;
Rapport zur Konstruktion von Situationen,
Edition Nautilus Flugschrift No. 21, Hamburg, 1980 (dt.), 1955/57/63 (Org.)

Debord, Guy und Sanguinetti, Gianfranco;
Die wirkliche Spaltung der Internationalen,
Öffentliches Zirkular der Situationistischen Internationale,
Projektgr. Gegengesellschaft, Düsseldorf, 1973 (dt.), 1972 (Org.)

Depuis, Jean-Francois;
Der radioaktive Kadaver,
eine Geschichte des Surrealismus,
Edition Nautilus, Hamburg, 1979 (dt.), 1977 (Org)

Mittelstädt, Hanna (ed.), Gallissaires, Pierre (e.d.) und Ohrt, Roberto (ed.)
Texte der Situationisten,
Edition Nautilus, Hamburg, 1995, 1955-1969 (Org.)

Jorn, Asger;
Heringe in Acryl,
Heftige Gedanken zu Kunst und Gesellschaft,
Edition Nautilus, Hamburg, 1993, 1941-1972 (Org.)

Ratgeb;
Vom wilden Streik zur generalisierten Selbstverwaltung,
MaD Flugschrift No. 11, Hamburg, 1975 (dt.), 1974 (Org.)

Situationistische Internationale;
1958-1969; Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale, Band 1&2,
MaD Verlag, Edition Nautilus, Hamburg, 1976

Situationistische Internationale;
Der große Schlaf und seine Kunden,
Situationistische Texte zur Kunst,
Edition Nautilus, Hamburg, 1990, 1955-1969 (Org.)

Situationistische Internationale;
Über das Elend im Studentenmilieu, betrachtet unter seinen ökonomischen, politischen, psychologischen und besonders intellektuellen Aspekten und über einige Mittel, diesem abzuhelfen,
Edition Nautilus Flugschrift No.21, Hamburg, 1977 (dt.), 1966 (Org.)

Vaneigem, Raoul;
Das Buch der Lüste,
Edition Nautilus, Hamburg, 1984 (dt.), 1979 (Org.)

Vaneigem, Raoul;
Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen,
Edition Nautilus, Hamburg, 1980 (dt.), 1967 (Org.)

Viénet, René;
Paris Mai `68, Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen,
Edition Nautilus, Hamburg, 1979 (dt.), 1968 (Org.)

Bücher & Texte über die I.L. und die S.I.

Jappe, Anselm;
Sic Transit Gloria Artis,
Theorien über das Ende der Kunst bei Theodor W. Adorno und Guy Debord,
in: Krisis Nr. 15, Mai 1995

Kunzelmann und Siepmann (Hrsgb.);
Nilpferd des Höllischen Urwalds,
Situationisten, Gruppe SPUR, Kommune I,
Werkbundarchiv, Berlin, 1991

Marcus, Greil;
Lipstick Traces,
von Dada bis Punk Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert,
Zweitausendundeins, 1992, 1989 (Org.)

Metzger, Grete und Hans (Hrsg.);
Über die Punks und Lettristen,
Neuer Gelnhäuser Verlag, Hamburg, 1988

Ohrt, Roberto;
Phantom Avantgarde,
Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst,
Edition Nautilus und Galerie van de Loo, Hamburg, 1990

Voyer, Jean-Pierre;
Untersuchungen über Natur und Ursachen des Elends der Menschen,
Edition Nautilus, Hamburg,. 1980, 1976 (Org)

Sonstige Literatur

Marx, Karl;
Ausgewählte Werke, Band I – VIII
Dietz Verlag, Berlin, 1970

Marx, Karl;
Das Kapital Band I,
Dietz Verlag, Berlin, 1951

1A.d.Hrsg.: Sardonismus bezeichnet im Unterschied zum Sarkasmus keinen beißenden, bitteren Spot, sondern einen grimmigen, schmerzvollen.